Hinweis: Wenn Sie diesen Text sehen, benutzen Sie einen Browser, der nicht die gängigen Web-Standards unterstützt. Deshalb wird das Design von Medien Kunst Netz nicht korrekt dargestellt. Die Inhalte selbst sind dennoch abrufbar. Für größtmöglichen Komfort und volle Funktionalität verwenden Sie bitte die empfohlenen Browser.
Deutsch

Gerhard Schweppenhäuser
»Film als Massenmedium: Zur visuellen Ästhetik der populären Kultur«

1. Masse als Thema und Fokus des Kinofilms

Eine Szene aus »Modern Times« von Charles Chaplin aus dem Jahre 1936 zeigt den arbeitslosen Helden Charlie, wie er sich auf der Suche nach einem Job auf den Straßen herumtreibt. Ein Lastwagen fährt vorbei und verliert die Fahne, mit der seine überlange Ladung markiert ist. Charlie sieht das, hebt geschwind die Fahne auf und läuft aufgeregt hinter dem Lastwagen her. Während er fahneschwenkend die Straße hinunter rennt, biegt ein Demonstrationszug von Arbeitslosen um die Ecke und schwenkt in die Straße ein. Im Nu schließen sie sich Charlie an, der wie ein Arbeiterführer vor ihnen her marschiert und die rote Fahne schwenkt. Für ein paar Augenblicke bilden die Gruppe und Charlie eine geschlossene Choreographie, bis Charlie merkt, was hinter seinem Rücken vorgeht, sofort erschrocken die Fahne fallen lässt und das Weite sucht.

Diese Szene hat sinnbildlich eine Paradoxie erfasst, die dem Verhältnis des Films zur Masse eigentümlich ist. Film war das Massenmedium des 20. Jahrhunderts. Er ist, seit seiner großen Zeit bis heute, darauf angelegt, von einem massenhaften Publikum rezipiert zu werden. Menschenleere kann in einer Gemäldegalerie ganz angenehm sein; im Theater ist sie schon weniger angenehm und im Kino überhaupt nicht, hat Walter Benjamin einmal bemerkt. Film ist ein erzählendes Bildmedium, dessen Themen und Formen unzählige Menschen ansprechen. Wenn sich Filme an ein Spezialistenpublikum oder an eine kleine Zuschauer-Elite wenden, dann sind das Ausnahmen. Die Interessen, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste möglichst vieler Menschen sollen angesprochen werden – oder jedenfalls das, was Filmproduzenten jedweder couleur dafür halten oder gerne dazu machen würden.

Filme sind tendenziell international und kulturübergreifend – auch wenn selbstverständlich niemand bestreiten kann, dass es ebenso ein nationales Filmschaffen gibt, wie es Nationalliteraturen gibt. Ganz klar: Filme sind immer auch Bestandteile einer spezifischen Kultur, in der sie entstehen und zuallererst wahrgenommen werden. Dennoch: Stummfilm ebenso wie synchronisierter Tonfilm richten sich an ein Weltpublikum. Der Film hat spezifische visuelle Sprachformen entwickelt, die heute bis auf wenige Ausnahmen weltweit verstanden werden. Die wichtigste treibende Kraft der Universalität des Films ist das ökonomische Interesse am massenhaften Absatz der Ware Film.

Aber dies scheint sich bis heute dann besonders gut realisieren zu lassen, wenn nicht die Masse im Zentrum eines Films steht, sondern Individualität, Besonderheit, unverwechselbare Charaktere und unvertretbare Einzelne mit ihren Schicksalen und Biografien.

Das ist die Ambivalenz des Topos »Masse« im Film: Seine größten, massenhaften Publikumserfolge feiert das Medium immer dann, wenn »human interest stories« erzählt werden. Massenwirkung wird erreicht, wenn der oder die Einzelne im Publikum sich wiedererkennt in den Akteuren und den Emotionen, die sie ausdrücken. Also zeigen erfolgreiche Filme besondere Menschen, denen es gelingt, gegen alle homogenisierenden und nivellierenden Kräfte der modernen Massengesellschaft ihre Identität herauszubilden und sich selbst zu behaupten.

Selbstbehauptung ist ein hoher Wert in unserer Zivilisation: gegen die Zwänge der Konkurrenz, der Ausbeutung und Unterdrückung in den Produktionsstätten der großen Industrie und den Umschlagplätzen der Welt-Märkte. Ganz gleich, ob wir Helden sehen oder Anti-Helden – eines der ganz großen Themen des Films, das die Form des narrativen Spielfilms geprägt hat, ist die Selbstbehauptung in Würde. Filme erzählen von Kampf, Niederlage und Sieg des Individuums gegen Naturgewalten, Katastrophen, gesellschaftliche Zwänge, Borniertheit, Neid, Hass, Konformismus, Ungerechtigkeit. Sie erzählen vom Kampf gegen die Mächte des Schicksals, die aus der Vergangenheit, aus dem Weltall oder sonstwoher kommen.

Das verbindet den Film als Massenmedium mit seinem großen Vorgänger aus einer anderen medialen Sphäre, dem realistischen Roman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – und seinem massenkulturellen Echo in der gleichzeitigen Kolportageliteratur.

Nicht von ungefähr sind massenwirksame Filme stets Literaturverfilmungen. Es spielt dabei keine Rolle, ob sie auf der Grundlage von »selbständigen« Büchern entstehen oder eben nur die literarische Grundlage ihres eigenen Drehbuchs verfilmen, das der Erzähl-Logik des literarischen Realismus folgt.

Aber das Motiv des Selbsterhaltungskampfes ist natürlich viel älter. Seine Herkunft liegt im Mythos, der frühsten überlieferten Weltliteratur. Film ist ein Massenmedium der Moderne und ist doch in besonderer Weise gekennzeichnet durch seine Nähe zum Mythos. Filme, die aus Hollywood stammen oder dessen Produktionsmaximen verpflichtet sind, also Filme, die sich auf dem Markt bewähren müssen, folgen bis heute der narrativen Struktur, die Homer in der Odyssee geschaffen hat, und sie tun das nicht von ungefähr.

Ein bisher unauffällig als Mitglied seiner Gemeinschaft lebender Mensch wird durch einen plötzlichen Schlag des Schicksals gezwungen, die alltägliche Bahn seiner Lebensvollzüge zu verlassen und eine Aufgabe zu lösen, die unlösbar oder gar übermenschlich anmutet; eine Aufgabe, von der weit mehr abhängt als nur sein eigenes Wohlergehen.

Die Bahn der Abenteuer, die er oder sie nun zu bestehen hat, wird zur »Fluchtbahn des Subjekts« (Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno). Auf dieser Bahn bildet sich der eigentliche Charakter des Helden im Kampf gegen Widerstände und tödliche Gefahren überhaupt erst heraus. Die Flucht ist also immer auch ein Zu-sich-selbst-Kommen.

Mit List, Geschick, Mut, Kaltschnäuzigkeit und Großherzigkeit überstehen Held oder Heldin alle Prüfungen und kehren in die Heimat zurück, wo er oder sie die treue Partnerin (wie bei Homer) oder den beschützenden Partner wiederfindet. Oder sie dürfen das Glück einer neuen Liebe genießen, die er oder sie auf dem langen Irrweg gefunden hatten. Die Rückkehr oder, metaphorisch, das finale Einlaufen in den rettenden Hafen, wird seit James Williamson und D. W. Griffith, also seit gut hundert Jahren, üblicherweise als last minute rescue gestaltet, als Parallelmontage von zwei synchron ablaufenden, doch räumlich getrennten Handlungssträngen, die im raschem Wechsel der Einstellungen gegeneinander geschnitten werden und so eine dramatische Steigerung bewirken.
Es muss nicht immer einen glücklichen Schluss geben; auch Tragödien sind erlaubt und beliebt.
Aber am anrührendsten wirken Tragödien, die dennoch eine Rettung enthalten. So bekam sogar der Holocaust in Steven Spielbergs Welterfolg »Schindlers Liste« aus dem Jahre 1993 ein happy ending verpasst; zwar nicht für alle Opfer, aber doch immerhin für die Geretteten auf der Liste.

Damit bleibt das moderne Massenmedium Film dem therapeutischen Prinizp treu, das Aristoteles als inneres, wirkendes Zentrum der darstellenden Kunst ansah, nämlich die Katharsis. Die mimetische Darstellung von Leid gibt uns, den Betrachtenden, die Möglichkeit, jene Impulse, die von Schrecklichem ausgehen, stellvertretend seelisch auszuagieren. Solches Ausagieren kann, wie Aristoteles wusste, reinigende, d.h. in diesem Falle befreiende Kraft haben. »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.«1


2. Konventionen und Brüche
Autorenfilm
Massenweise Läuterung und vor allem massenweises Vergnügen scheinen Filme immer dann optimal bewirken zu können, wenn sie die Balance zwischen individuellen und massenweisen Zügen halten. Das gilt sowohl für Themen und Genres als auch für die formalen ästhetischen Mittel. Weicht ein Film zu sehr von den standardisierten Erzählstrukturen und Bildformen ab, die die Filmindustrie bereits bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festgelegt hatte, dann findet in der Regel keine Massenkommunikation statt. Formal komplexe Filmessays, die radikal mit den gestalterischen Konventionen brechen, wie z.B. Jean Luc Godards »One plus One« von 1968, werden von Kennern in den Programmkinos der Metropolen betrachtet. Der Film wurde 1968 in England produziert und unter dem Titel »Eins plus Eins« zuerst am 19. Januar 1970 im ersten deutschen Fernsehprogramm, der ARD, gezeigt. Filme wie dieser sind ohne kulturpolitische Subventionen weder zu produzieren noch zu vertreiben; selbst dann nicht, wenn sie Themen bearbeiten, die im höchsten Grade massen-relevant sind. Und genau das macht Godards »One by One«: Er behandelt das Thema der Politisierung der Massenkultur in den späten 1960er Jahren. Mit den Mitteln des Dokumentarfilms werden die Rolling Stones bei der Studioarbeit gezeigt, wie sie ihren Song »Sympathy for the Devil« einspielen.

»Sympathy for the Devil« hat Gewalt, Destruktion und Massenvernichtung in Kriegen und Revolutionen als Negativ-Thematik der populären Musik auf breiter Front durchgesetzt. Dagegengeschnitten werden Dialoge und Interviews militanter Afroamerikaner aus der Black-Panther-Szene.

Deren Anhänger haben Straßenkämpfe im Spätkapitalismus nicht nur besungen wie die Rolling Stones; sie haben sie geführt. Godards aggressive Montagetechnik unterläuft konsequent jede narrative Kontinuität und verhindert die genussvolle Betrachtung der Stones im Studio. Er verlangt den Betrachtenden synthetische Arbeit ab, die im Kopf aus den scheinbar disparaten Facetten der kulturellen und politischen Aufbruchstimmung ein in sich gebrochenes Ganzes herstellen können. Die Massen-Relevanz ist hier also objektiv angelegt und stimmt nicht mit dem subjektiven Dafürhalten eines Publikums überein, das auf mainstream-Sehgewohnheiten konditioniert ist. Dagegen verstieß auch Godards »Week-End« von 1967, ein Film, der nach radikal präsentierten, allegorischen Destruktionsszenen in der Schluss-Sequenz das »Ende der Geschichte« verkündet, die auch das »Ende des Kinos« sei.

Diese Arbeiten von Godard unterscheiden sich von seinem früheren »A Bout de Souffle« aus dem Jahre 1959, dessen ungewohnte jump cuts erfrischend anders wirkten als die glatte Perfektion, die man aus Hollywood kannte, und zu dem breiten Erfolg dieses Films beitrugen.

»1968 war Godard, der in ›One plus One‹ Regie führte und das Buch geschrieben hatte, nun »auf der Suche nach neuen, subversiven Ausdrucksformen als Äquivalent zur revolutionären Aufbruchsstimmung des ›Pariser Mai‹ 1968. ›Eins plus Eins‹ ist Godards Abschied vom bürgerlichen Kino, zu dem er endgültig erst 1980 mit ›Rette sich, wer kann (das Leben)‹ zurückkehren wird.«2

Als die französische Nouvelle Vague auf dem Scheitelpunkt ihres weltweiten Erfolgs stand, hatten deren Protagonisten wie Godard, François Truffaut, Alain Resnais oder Eric Rohmer neue Verbindungen geschaffen: Verbindungen von klarer, doch unkonventioneller Entwicklung einer Geschichte, von Autonomie der Bilder und der neuen, zeitgemäßen thematischen Erschließung von erotischen und sozialen Konflikten. Diese Verbindungen trugen jeweils die unverwechselbare Handschrift ihrer Auteurs. Alle waren profunde Kenner des us-amerikanischen Kinos, dessen klassische Werke sie liebten und hassten, dessen Techniken sie sich aneigneten, um seine Klischees unterlaufen zu können. Aber keiner hat das erfolgreiche Kino wohl so geliebt wie Truffaut, der seine Gespräche mit Alfred Hitchcock als Buch veröffentlichte und damit den Weg für die Anerkennung Hitchcocks als großer Filmkünstler bahnte, dessen Arbeiten lange Zeit als trivial verkannt worden waren.


Flops

Weicht ein Film nun wiederum zu wenig von den Üblichkeiten und den Produktions-Standards ab, enthält er also zuviel Redundanz und zuwenig neue Information, dann kann er im Hintergrund-Rauschen der medialen Kommunikation auch sang- und klanglos untergehen. Er kann dann verhältnismäßig ebenso geringen kommerziellen Erfolg einfahren wie Avantgarde-Produkte, die die geläufigen kommunikativen Schemata zu radikal verletzen. Hier geht es gar nicht um die spektakulären Flops der Geschichte Hollywoods, die finanzielle Desaster auslösten – wie »Waterworld« (1994), der 170 Millionen US-Dollar kostete, oder »Heaven’s Gate« (1980), der statt der geplanten 7,5 Millionen US-Dollar 45 Millionen kostete, aber nur 1,5 Millionen einspielte und angeblich den Bankrott von »United Artists« auslöste.

Die »United Artists« war seinerzeit aber längst nicht mehr das ruhmreiche Filmstudio, das 1919 von Douglas Fairbanks, Mary Pickford, Charles Chaplin und David Wark Griffith gegründet worden war, sondern nur noch eine Finanzierungs- und Verleihfirma.

Nein, ich meine die unzähligen unspektaktulären Fälle. Der U-Boot-Film »K 19« (deutscher Verleihtitel: »K 19 Showdown in der Tiefe«) in der Regie von Kathryn Bigelow startete im Sommer 2002 in den USA enttäuschend, die Erwartungen der Finanzierungsgesellschaft »Internationalmedia« (mit Sitz in München) konnten nicht erfüllt werden.

Was heißt das in Zahlen? Ende August 2002 rechnete die Firma lediglich mit 55 Millionen Euro Jahreseinnahmen aus dem Film »K 19«; erwartet hatte man sich zuvor 70 Millionen Euro. Auch sonst, meldeten die Konzernschefs, gebe es eine »anhaltende Nachfrageschwäche«. Als Jahresumsatz konnte »Internationalmedia« jetzt nur noch mit 270-290 Millionen Euro kalkulieren, während man eigentlich mit 330 bis 370 Millionen gerechnet hatte. »Der angestrebte Profit vor Steuern und Zinsen […] von 15 bis 19 Millionen Euro werde voraussichtlich nicht erreicht, teilte die Firma mit«, war am 31. August 2002 in der Frankfurter Rundschau zu lesen. Folge dieser Prognose: Die Aktienkurse des Unternehmens sackten entsprechend ab. Auch die Kritik goutierte das Produkt nicht. Bemängelt wurde die risikoscheue, konventionelle Machart. »Zu holzschnittartig sind die Charaktere, zu abgenutzt die Effekte. Die angespannten Gesichter, mit denen die Crew auf unheilkündende Messinstrumente starrt, das bedrohliche Knarren beim Tauchgang und das unter dem hohen Druck nachgebende Metall: alles meint man schon viele Male gesehen und gehört zu haben«, schrieb Katja Lüthge in der Frankfurter Rundschau vom 6. September 2002.

Eine als blockbuster angelegte Spitzenproduktion mit enormen Produktionsaufwand und Staraufgebot wie »Ocean’s Eleven« dümpelte im Jahre 2001 in den Kinos der USA vor sich hin, ohne die in sie gesetzten Erwartungen wirklich erfüllen zu können.

Demi Moore, Michael Douglas und Donald Sutherland bemühten sich 1995 in »Diclosure« (deutscher Verleihtitel: »Enthüllung«) vergeblich. Nicht nur bei den Darstellern hatte es ein Star-Aufgebot gegeben: Barry Levinson, Michael Crichton und Andrew Wald hatten den Film für Warner Bros. produziert, Regie führte Barry Levinson und die Musik stammte von Ennio Morricone.


Sequel und Genre

Nachdem »Otto – Der Film« im Jahre 1985 als kommerziell erfolgreichste deutsche Filmproduktion eingeschlagen hatte, die es bis dato gab, schleppten sich die sequels der Jahre 1987, 1989, 1992 und 2000 nur eben gerade über die Runden.

Man könnte meinen, das ließe sich bei sequels kaum vermeiden, denn die beruhen ja auf Friedrich Nietzsches Prinzip der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« und müssten also eigentlich Überdruss heraufbeschwören. Aber die große Beliebtheit filmischer sequels auf der Bühne des kulturellen Weltmarkts lassen vermuten, dass sie im Publikum wohl eher das Glück der Wiederholung hervorrufen, das wir gerne aus der Kindheit ins Erwachsenenleben retten. Walter Benjamin hat Nietzsches Prinzip der ewigen Wiederkehr des Gleichen in zweifacher Weise auf die Moderne des Kinos bezogen. Einmal sah er darin einen »Versuch, die beiden antinomischen Prinzipien des Glücks mit einander zu verbinden: nämlich das der Ewigkeit und das des: noch einmal.«3 Und dann sah er darin zugleich auch einen »Traum von den bevorstehenden ungeheuren Empfindungen auf dem Gebiete der Reproduktionstechnik«.4 Wer ins Kino geht, um sich an jener eigenartigen Mischung aus Neuem und Altbekannten zu erfreuen, das uns Spielfilme bieten, kennt diese Erfahrungen beide. Es sind Erfahrungen, für die das Motto »Play it again, Sam« stehen kann: Ewigkeit und Wiederholung als anthropologisches Erleben und als Prinzip der neuen ausiovisuellen Medien, die ein Versprechen von Glück sind, oder zumindest von Trost. – Vielleicht bestätigt der Erfolg der sequels aber auch Søren Kierkegårds Lehre. Kierkegård sah es als Indikator für verantwortliches Erwachsenenleben an, wenn man die Wiederholung tapfer, aber auch mit Freude, Tag für Tag als das akzeptieren kann, was sie nun einmal ist: das Grundprinzip des Lebens. Auf dem Gebiet der Wiederholung knüpft der Film natürlich an die erfolgreichen Strategien klassischer Unterhaltungs- und Comic-Strip-Literatur an, deren Publikum nie genug bekommen konnte von Winnetou und Old Shatterhand, Sherlock Holmes, Mickey Mouse und Donald Duck oder Superman.

Wer sich an Wiederholungen erfreuen kann, macht dabei auch immer die Erfahrung von Veränderung. In der modernen Massenkultur sehen wir uns ja auch deshalb so gerne Filme immer wieder einmal an (oder hören bestimmte Musik immer wieder einmal von Neuem), weil wir jedesmal dabei mit-sehen oder -hören, wie wir diesen Film oder diese Musik zum ersten Mal (oder bestimmte Male in der Zwischenzeit) gesehen oder gehört haben. Die pure Wiederholung ist dann die Folie, auf der eine Veränderungswahrnehmung anderer Art gemacht werden kann. Und die Semi-Wiederholung der sequels, die mit Variationen arbeiten, ist insofern eine Mischform, als wir durch Vergleiche sowohl die Veränderungen im Werk erproben können als auch die in den Betrachtern.

Auch dort gilt also: Kunst – und ganz besonders angewandte Kunst und Massen-Kunst – lebt davon, dass das Verhältnis von Wiederholung und Variation stimmt. Wenn das Reservoir möglicher Variationen ausgeschöpft ist, kann ein Genre auch aussterben, wie z.B. die Heimatfilme, die im Nachkriegs-Deutschland eine Zeit lang eminent erfolgreich waren. Zum Beispiel »Grün ist die Heide« aus dem Jahre 1951 (Regie: Hans Deppe).

»Der erste bundesdeutsche Farbfilm nach dem Krieg«, konstatiert das Lexikon des Internationalen Films, war einer »der ersten und geschäftlich erfolgreichsten deutschen ›Heimatfilme‹ der Nachkriegszeit […]. Ein schmucker Förster marschiert durch die Lüneburger Heide und verliebt sich in die Tochter eines wildernden Gentleman-Flüchtlings; eine vertriebene Schulreiterin gibt ihre Auswanderungspläne auf und bleibt bei dem saloppen Amtsrichter. Ein kitschiges Heidepostkarten-Album, das sich zur Stimmungsmache schmalziger Lieder von Hermann Löns und des Riesengebirgsliedes bedient.«5

Natürlich spielen auch außer-ästhetische Faktoren eine wichtige Rolle, wenn ein Genre wie der deutsche Heimatfilm ausstirbt. Der Heimatfilm in der Bundesrepublik der 1950er Jahre hatte die Aufgabe erfüllt, kulturelle und politische Kontinuität mit dem »Dritten Reich« zu stiften. Dies erfolgte über Themen und formale Mittel, die nahtlos an die Filmsprache der Arbeiten aus der Nazizeit anschlossen und z.T. von denselben Regisseuren stammten wie diese. Gleichzeitig hatte er eine Kompensationsleistung erbracht.

Der Vorstellungsgehalt »Heimat« war für viele Nachkriegsdeutsche doppelt negativ besetzt; erstens, weil »Heimat« nach der Devise »Blut und Boden« in der Vergangenheit ideologiepolitisch aufgeladen worden war, und zweitens durch das halb verdrängte, halb als Ressentiment gepflegte Erlebnis des Vertriebenwordenseins in der Gegenwart. Entlastungs- und Kompensationsfunktion wurden nach einer Weile anscheinend in gleichem Maße entbehrlich, wie die politische und ökonomische Lage der zweiten Republik sich konsolidierte. Das Bedürfnis nach Sicherheit auf dem Gebiet der formalen Gestaltungsmerkmale und nach tröstendem oder aufrüstendem Gehalt machte anderen Bedürfnissen Platz.

Dass abgestorbene Genres auch wieder auferstehen können, mit anderen Vorzeichen und freilich auch mit dem inhaltlich wie formalen Reiz einer eingebauten Selbst-Reflexion des Genres, belegt der Erfolg, den die »Heimat«-Arbeiten von Edgar Reitz in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Deutschland hatten. Der Fernseh- und Kinofilm »Heimat«, produziert von 1981-84, und die Nachfolgeproduktion »Die zweite Heimat« (1988-1991), die 1994 in die Kinos kam, sind als Chronik, als Totale und Großaufnahme der Schicksale deutscher Dorfbewohner angelegt, die sich über die Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis zum Beginn der 1980er Jahre erstreckt.

Politische und kulturelle Veränderungen in Deutschland und vor allem der Wechsel der Leit-Medien bestimmen den Gang der Erzählung. Der Regisseur stammt aus dem Kreis der jungen deutschen Filmer, einer Avantgarde-Gruppe, die 1962 mit dem »Oberhausener Manifest« hervortrat, in dem »Papas Kino« der Heimat- und Lustfilme ein Totenschein ausgestellt wurde. Alexander Kluge, Peter Schamoni, Volker Schlöndorff, Reitz und andere stritten erfolgreich für die kulturpolitische Unterstützung des Mediums Films. 1965 wurde das »Kuratorium Junger Deutscher Film« gegründet, und Subventionen aus Steuermitteln förderten Filme wie »Der junge Törless« (Schlöndorff, 1965), »Abschied von Gestern« (Kluge, 1966) oder »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« (Kluge, 1968).

Damit waren Siege bei der internationalen Kritik zu feiern, aber nicht beim breiteren Publikum. Dort hatten allenfalls Autoren-Filme Erfolg, die nicht mehr den anfänglichen Ernst der Jungfilmer hatten und in subkulturellen Bereichen bürgerlicher Jugendlicher kurzfristig Aufsehen erregten wie »Zur Sache, Schätzchen« von 1967.

Peter Schamoni hatte den Film produziert, aber Regie führte nicht er selbst, sondern May Spils. Mit Uschi Glas und dem köstlich spielenden Werner Enke ironisierte der Film die Werte und Normen der »formierten Gesellschaft« (die der vormalige Bundeskanzler Ludwig Erhard nicht lange zuvor propagiert hatte) und ihrer Aussteiger. Das geschah in »Zur Sache, Schätzchen« auf einem intellektuellen Niveau, das die teilweise äußerst erfolgreichen deutschen Komödien nicht mehr erreichten, auf denen von Mitte der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende die ökonomischen Hoffnungen im Filmgeschäft der Bundesrepublik ruhten.

Autorenfilme von Godard, Reitz, die Schelmengeschichten, Western- und Gangster-Filme des genialen Genre-Parodisten und -Neuerer Jim Jarmusch und viele andere, die von der Kritik teilweise enthusiastisch aufgenommen wurden und beim Publikum nicht schlecht ankamen, werden seit Ende der 1960er Jahre von europäischen Fernseh-Anstalten unterstützt.

In seinem Episodenfilm »Night On Earth« von 1991 hat Jarmusch so ähnlich wie Marcel Proust in seiner Sammlung »Pastiches« gearbeitet. Proust erzählte ein Ereignis nacheinander im je unverwechselbaren Stil einer Reihe von berühmten französischen Schriftstellern. Jarmusch erzählt ähnliche Situationen in verschiedenen Kulturen. Er zeigt, dass er Geschichten aus der nächtlichen Welt der Taxifahrer und ihrer Gäste wie Robert Altman, Wim Wenders, Federico Fellini, oder Aki Kaurismäki erzählen kann – nur witziger.

Unterstützung vom Fernsehen gab es nicht nur in Deutschland und Frankreich, sondern auch in Großbritannien. Anfang der 1980er Jahre war der neu eingerichtete »Channel 4« der BBC dem Zweck gewidmet worden, kulturell elaborierte Produktionen in Auftrag zu geben. Daraus gingen authentische Auseinandersetzungen mit der Lebenswirklichkeit der Gegenwart hervor, mit Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten der Menschen verschiedener sozialer Klassen, ethnischer Herkunft und Lebensstile, wie die Komödie »My Beautiful Laundrette« (dt.: »Mein wunderbarer Waschsalon«) von Stephen Frears aus dem Jahre 1985.

Die einstmals erbittert rivalisierenden Massenmedien Kino und TV haben sich mittlerweile gleichsam zu einer Art Interessenverband zusammengeschlossen. Das Fernsehen gibt Hilfestellung und ökonomische Deckung bei Produktion und Distribution, und die Filmproduktionen füllen das Programm-Vakuum des Fernsehens. Hinzu kommt der Europa-typische kulturelle Auftrag, den einige TV-Anstalten nach wie vor ernst nehmen.

Inzwischen, seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre, gibt es wieder eine gegenläufige Tendenz. Kinofilme, auch deutsche wie »Lola rennt« oder jüngst der gefloppte »Baader«, werden von der Unterstützung durch Fernsehanstalten unabhängig hergestellt. Man unterscheidet wieder zwischen »echten Kinoproduktionen«, denen man es z.T. auch ansieht, und TV-Koproduktionen.


3. Zur Soziologie der modernen Massenkultur

Film und Kultur, oder: Film und Kunst – das war in der Frühzeit des Mediums ein heikles Verhältnis. Der Film war ja zunächst einmal nichts weiter als ein optisches Speichermedium. Ausgehend von der Fotografie waren Bastler und Erfinder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert dem Problem immer näher auf den Leib gerückt, ob und wie nicht nur statische, sondern auch bewegte Bilder gespeichert und reproduziert werden könnten. Der Durchbruch geschah im Jahre 1895. In einem Berliner Varieté zeigten Max Skladanowsky und seine Brüder zum ersten Mal »lebende Bilder«. Im gleichen Jahr präsentierten die Brüder Louis und Auguste Lumière in Paris ihren Cinématographen. Dieses Gerät war »der Berliner Apparatur sogar technisch überlegen und wurde als Aufnahme-, Kopier- und Abspielgerät zum Urmodell der Filmtechnik. Durch die stetige Verbesserung der Aufnahme- und Wiedergabegeräte etablierte sich der Film schnell als neues Massenmedium.«6

Charles Pathé, einer der ganz großen französischen Film-Industriellen, hat den Film wenig später, 1902, noch abschätzig als »Zerstreuung der Ungebildeten und der Arbeiter« bezeichnet.7 Bekanntlich erwies sich diese Auffassung schon ein paar Jahre später als obsolet. Banken und Großindustrie hatten den Film als die neue Investitions- und Zuwachsbranche entdeckt. Der Publikumsradius musste erweitert werden: In Frankreich sollten nun bourgeoise Theater-Kenner ins Kino gelockt werden, in Italien literaturbeflissene Patrioten. Nicht viel später, während des ersten Weltkriegs, wurde in Deutschland der Filmkonzern »Universum Film AG« (UFA) gegründet. Mit diesem ersten politisch-propagandistischen Großunternehmen der Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts sind Namen wie Ludendorff, Hindenburg und Hugenberg verbunden. Die Deutsche Reichsregierung, die Oberste Heeresleitung, die Deutsche Bank, die AEG, die Dresdner Bank, Vertreter der Schwerindustrie – das waren einige der Geldgeber, Aufsichtsratsmitglieder und Lenker der UFA.

Von Anfang an schwammen Kinofilme auch in Strömungen mit, die chauvinistischer, imperialistischer, minderheitenfeindlicher oder ethnozentrischer Art waren. Das gilt für Italien und Nordeuropa ebenso wie für die USA, wo D. W. Griffith, der große Wegbereiter der modernen Film-Sprache, seine formalen Errungenschaften des Schnitts und der Einstellungen in einer rassistischen Verherrlichung des Ku-Klux-Klans kulminieren ließ. Sein Werk »Birth of a Nation« machte 1915 Furore und etablierte die bis heutige gültige Diktion vom Wechsel zwischen Panorama, Totale, Halbtotale, Groß- und Detailaufnahme sowie schnellen, rhythmisierenden Schnitten. Neu war aber nun die Fusion von Industrie- und Bank-Kapital einerseits und autoritärer Staatsmacht andererseits.

Das Zeitalter des Kinos war das Zeitalter der Massen und zugleich das Zeitalter der »Verachtung der Massen« (Peter Sloterdijk) – der Massen, die man sozusagen von oben umwerben und betören wollte, um sie gefügig zu machen. Die Szene aus »Modern Times« mit Charlie, dem Tramp, als unfreiwilligem Anführer des Demonstrationszuges rührt an ein Zentralmotiv des Diskurses über Massenkultur. Dieser Begriff ist zutiefst zweideutig: Die Masse kann das Subjekt der Kultur sein oder auch ihr Objekt. Lange Zeit hat die zuletzt genannte Auffassung den Massenkultur-Diskurs dominiert. Dieser Diskurs wurde von bürgerlichen Intellektuellen und Kulturkritikern geführt. In ihrer Darstellung wurde die Masse zum gefährlichen Hybridwesen: »die Masse«, »der Mob«, oder auch, metonymisch gesprochen, »die Straße«.

Die kapitalistischen Industriegesellschaften Europas schienen im 19. Jahrhundert einen neuen Menschentyp hervorzubringen: ein Mischwesen aus Singular und Plural, aus lebendigen Menschen im Kollektiv und einem amorphen Stoff, der in vielen Richtungen formbar erschien.

Das prägte auch das Mainstream-Kino. »Das amerikanische Kino«, schreibt die kritische Filmtheoretikerin Sabine Horst anlässlich einer Würdigung von Michael Ciminos »Heaven’s Gate«, »hat den Konflikt zwischen einzelnem und industrieller Massengesellschaft – abgesehen von King Vidors programmatischem Stummfilm »The Crowd« (Ein Mensch der Masse) – immer einseitig gelöst; die Masse war ihm, besonders als ungeordnete, in der Regel suspekt – wenn es sie überhaupt inszeniert, so in der strengen Form der Choreographie oder als bedrohlichen Mob.«8
[Exkurs]

Die Attraktionen öffentlicher Massen-Unterhaltung im frühen 20. Jh. waren der Rummelplatz, Tingeltangel, Varieté, und Boulevardtheater; später kamen Kino, Sportarena und Tanzmusik. In den Wohnungen hatten zunächst die kolportierten Groschenhefte Vergnügen bereitet, später, in den 1920er Jahren, kamen Rundfunk und Schallplatte hinzu. Der glanzvolle Auftritt des Films als neuer Unterhaltungsattraktion – das war vielleicht der größte und produktivste Einschnitt in der Geschichte der modernen Massenkultur und auch die Eintrittspforte in ihre Medialisierung. Film und Kino, schreibt Kaspar Maase – und hierin sind sich, alle wichtigen Autoren auf diesem Gebiet einig –, »eröffneten […] eindeutig und endgültig das Zeitalter der Massenkultur«.9

Im Anfang wurden Filme noch nicht kollektiv rezipiert. Die ersten motion pictures waren Guckkästen, die einen Betrachtenden zur Zeit zur Verfügung standen. Der nordamerikanische Erfinder Thomas Alva Edison hatte 1893 sein »Kinetoscope« vorgestellt: eine Kiste, in der ein Abspielgerät, der »Kinetograph«, steckte, dessen Vorführung ein einzelner Betrachter durch ein Okular sehen konnte.

Als die Projektionsverfahren nach kurzer Zeit so weiterentwickelt worden waren, dass sie es erlaubten, Filme einem größeren Publikum vorzuführen, war das Kino geboren. Aber sein Erscheinungsbild entsprach ganz dem geringen Ansehen, das es bei den Kultur-Bürgern genoss, denn die ersten öffentlichen, kommerziellen Lichtspielstätten waren schmuddelige Hinterzimmer von Ladengeschäften oder Wirtshäusern, in dem ein weißes Tuch aufgespannt und ein paar Stühle aufgestellt wurden.
Umherziehende Schausteller kauften Filme und zeigten sie auf den Jahrmärkten in Zelten, solange das Zelluloid hielt. »Seit 1900 war der Film eine herausragende Attraktion auf Jahrmärkten und Rummelplätzen, in Varietés, Zirkussen und Gastwirtschaften. Wanderkinos kamen auch in die Provinz, und bald hatten große Teile der Bevölkerung schon einmal die Faszination ›lebender Photographien‹ verspürt. Nach 1905 wurde der Film dann seßhaft; in den Städten öffneten feste, ganzjährig betriebene Kinos.«10
Um 1910 war das Kino vollends die große Attraktion für die Massen. Es gab etwa zehntausend Nickelodeons in den USA.
Diese neue Massenattraktion zeigte das, was die meisten Menschen am neuen Medium so faszinierte. Auf Seiten der Form waren dies Bewegung und Tempo. Die bevorzugten Inhalte befriedigten Bedürfnisse nach Spaß und Schadenfreude sowie sentimentale und elementar moralische Emotionen und nicht zuletzt pornographische und sadistische Schaulust – freilich in sehr gemäßigten Bahnen. »Ganz am Anfang«, berichtet der große Film-Ästhetiker Erwin Panofsky in seinem klassischen Aufsatz »Stil und Medium im Film«, der zuerst 1936 unter dem schlichten Titel »On Movies« erschien, ganz am Anfang »steht die bloße Aufzeichnung von Bewegungen: galoppierende Pferde, Eisenbahnzüge, Feuerspritzen, sportliche Ereignisse, Straßenszenen.« Später fing man an, »Filme mit einer Geschichte zu machen. […] Sie befriedigten […] einen primitiven Sinn für Gerechtigkeit und Moral, wenn Tugend und Fleiß belohnt, Laster und Faulheit bestraft wurden; ferner die pure Sentimentalität, wenn ›das zarte Bächlein einer sehnsuchtsvollen Liebe‹ einen ›an Windungen so reichen‹ Lauf nahm, oder wenn der Vater, ach, der Vater aus dem Wirtshaus kam, um sein Kind im Sterben zu finden, an Diphterie; drittens ein ursprüngliches Verlangen nach Blut und Grausamkeit, wenn Andreas Hofer der feuernden Rotte ins Gesicht sah, oder wenn, in einem Film von 1893/94, der Kopf der Königin Maria Stuart von Schottland tatsächlich herunterfiel; viertens der Geschmack an sanfter Pornographie (ich erinnere mich mit großem Vergnügen eines französischen Films von ca. 1900, in dem man eine nur scheinbar üppige und eine nur scheinbar schlanke Dame sich zum Baden umziehen sah, eine ehrliche, aufrichtige porcheria […]; und schließlich befriedigten diese Filme den kruden Sinn für Humor, der mit slapstick exakt bezeichnet ist und auf sadistischen oder pornographischen Neigungen beruht, oder auf beidem.«11

[Exkurs Wochenschau]

Die Nickelodeons und die Filmvorführstätten in Europa waren noch weit entfernt vom Status der Lichtspielhäuser und Filmkunstpaläste, die in den 20er Jahren die großen europäischen Städte schmückten. Die Verwandlung von der Hinterzimmer-Schau zur seriös inszenierten Veranstaltung ging jedoch schnell. 1914 gab es in Deutschland (ungefähr) 2500 Kinos, in Frankreich 1200 und in England 3200. 1915 wurden in ganz Europa bereits mehr als 10.000 Kinos betrieben. In Deutschland kam zu dieser Zeit auf 18.000 Einwohner schätzungsweise ein Kino, in Frankreich eines auf 30.000 Einwohner, in England kam eines auf 8.000 und in Italien ein Kino auf 10.000 Einwohner. Um die Mitte der »Roaring Twenties« gingen in Deutschland schätzungsweise zwei Millionen Menschen täglich ins Kino. Nach der Weltwirtschaftskrise, Mitte der 1930er Jahre, war die Zahl der Kinos in Deutschland und England auf je 4900 angestiegen, in Frankreich auf 3900, und in der Sowjetunion waren es 2000 (vor dem Krieg: 1200).12 Billige Eintrittspreise und eine rasch expandierende Produktion mit immer neuen Filmen zog ein Massenpublikum an. »Mit dem Film hielt eine Kunst Einzug in den Alltag der Lohnabhängigen. Das Kino ermöglichte praktisch jederzeit die ästhetische Erfahrung, sich phantasie-, empfindungs- und gedankenvoll auseinanderzusetzen mit Möglichkeiten des Menschlichen.«13 Arbeiter und Angestellte nutzen dieses Angebot in immer steigendem Maße. Die kulturellen Hemmschwellen des Bildungsbürgertums wurden an den Kinotüren eingeebnet. Hier galt es, sich lustvoll einen ästhetischen Code anzueignen, der für alle neu war. »Das Lesen der Botschaften aus Sequenzen bewegter Bilder mußten alle lernen, Gebildete wie einfache Leute.«14

Viele Gebildete begrüßten das mit Begeisterung; viele zogen sich aber auch gereizt zurück. Das neue massenmediale Phänomen beeinflusste die Kulturtheorie. Ein neues Genre kam auf: die Filmkritik (die in einigen Fällen, in Verbindung mit Ökonomie-Theorie und Ideologiekritik, zur wissenschaftlichen Textform wurde). Und die konservative Kulturkritik sah sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt, die im Kino das Ende der Kunst, der Kultur und der Humanität nahen sahen.
[Exkurs: Konservative Kulturkritik]


An Empire of Their Own: Hollywoods Sozialgeschichte – Ideologie und Utopie

Ein wesentlicher Grund dafür, dass die Konjunktur des Jahrmarkt-Kinos erlosch, war, die Entdeckung der Filmindustrie, dass sich mit dem Verleih von Filmen erheblich mehr verdienen ließ als mit ihrem Verkauf. Das Verleihwesen ebnete den Weg zur vertikalen Konzentration: Produktion, Verleih und Distribution konnten optimal kontrolliert werden, und Firmen mit starker vertikaler Konzentration schlossen sich zu Kartellen zusammen. Das Zeitalter des Oligopols in der Massenkultur konnte beginnen. Sie dauerte, nach dem sozio-historischen Phasenmodell des Frankfurter Medienwissenschaftlers Dieter Prokop, von 1909 bis 1929. Daran schloss sich die Phase des Monopols von 1930 bis 1946 an. Sie ist verbunden mit dem Ortsnamen Hollywood.
In den USA waren es vor allem erfindungsreiche und innovative junge Geschäftsleute, die das Filmgeschäft zur ersten Hochblüte trieben: Emigranten der ersten und zweiten Generation, denen Karriere und sozialer Aufstieg in vielen Bereichen verwehrt waren, weil sie Juden waren und überwiegend aus Osteuropa kamen. Zu ihrer Enttäuschung mussten sie erfahren, dass religiöse Tolenranz und Multikulturalität im Lande der Freien zwar gewissermaßen verbriefte Rechte für alle waren, aber nicht gesellschaftliche Wirklichkeit.

Das antisemitische Element der us-amerikanischen Zivilreligion war eine der Ursachen dafür, dass jüdische Bürger wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung in kulturellen Nischen wie der Entertainment-Industrie suchten. Sie produzierten Filme, vertrieben sie und führten sie auf. Sie mussten einen Selbstbehauptungskampf gegen das New Yorker Filmkartell führen, das Thomas Alva Edison inzwischen errichtet hatte. Für dieses Kartell drehte D. W. Griffith seine ersten Filme, die Landmarken des filmtechnischen und -ästhetischen Fortschritts waren (Griffith etablierte die Groß- und die Nahaufnahme und die bereits erwähnten eisernen Regeln der Mainstream-Montage), aber auch reaktionäre, rassisitische oder auch nur wirre Ideologien propagierten. Auf den bereits erwähnten Ku-Klux-Klan-Film »Birth of a Nation« ließ Griffith, beleidigt durch Kritikerschelte, einen Langfilm ungewöhnlichen Ausmaßes folgen: »Intolerance« wollte das Titel-Thema als kulturelle Problem-Invariante quer durch die Epochen der Menschheitsgeschichte vorführen, verstrickte sich aber in den Parallelmontagen seiner vier Episoden, die im Finale triumphal enggeführt werden sollten, jedoch bloß Verwirrung und Langweile erzeugten.

Nach einigen Jahren wurde das Edison-Kartell, das die Ostküste und das Landesinnere der USA beherrschte, zwar durch gerichtliche Intervention zerschlagen, aber da waren die kreativen und ökonomisch kraftvollen Köpfe der Branche, die vom Kartell unten gehalten worden waren, schon an die Westküste übergesiedelt. Hier, frei von unlauteren Wettbewerbsverzerrungen und von kulturellen Vorurteilen des urbanen Establishments, frei von hohen Grundstückspreisen und beleuchtet von der kalifornischen Sonne schuf eine gute Handvoll jüdischer Geschäftsleute, die von der feindseligen Gesellschaft der Mainstream-USA abgelehnt worden waren, den amerikanischen Traum: Adolph Zukor, Marcus Loew, Jesse Lasky, Carl Laemmle, Louis B. Mayer, Jack und Harry Warner und Harry Cohn.
Hollywood entwickelte nun die ureigene Ikonographie, Ästhetik und Erzählweise einer massenkulturellen Utopie. Sie wurde vom nicht-jüdischen Amerika begeistert adoptiert und galt im Nu als die Verkörperung des ur-amerikanischen Lebensstils. Aufstieg, Erfolg, Glück und Sicherheit, starke Familienbande und die Grundwerte Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität, das Ganze in einer Bildersprache kodiert, die transkulturell kommunizierbar ist – das ist Film als Massenmedium, tendenziell weltumspannend und universal gültig. Die Ironie dieser Geschichte besteht darin, dass es Außenseiter waren, die der Gesellschaft, die sie sozial und kulturell ausgrenzte, ein Bilder- und Zeichensystem zur Verfügung stellten, mit dem diese Gesellschaft sich identifizieren konnte. Mehr noch: Die Außenseiter gaben dieser Gesellschaft die eigenen Ideologien und Utopien zurück, nachdem sie durch den Filter einer eigenwilligen Aneignung hindurchgegangen waren.
Der kleine Mann, der es nach ganz oben schafft, weil er im Kampf gegen erbitterte Widerstände zum Ziel und auch zu sich selbst kommt – das ist das Muster der mythologischen Erzählung, die Fluchtbahn des Odysseus, der hier – und das ist das grundsätzlich Neue – aber kein etablierter Bürger ist, kein Großgrundbesitzer und Sklavenhalter wie Homers listenreicher Held, sondern ein Außenseiter, ein Marginalisierter.
Ohne diesen kulturellen Erfahrungshintergrund, den eine ganze Population aus Europa mitgebracht hatte (und kontinuierlich weiter mitbrachte), hätte es viele unverwüstliche Themen des Massenmediums Film nicht lange gegeben, die Hollywood als ontologische Invarianten der verschiedenen Genres etabliert hat:
Das sympathische Monster; den Superhelden, der seine wahre Identität im Alltagsleben genauso wenig ausleben kann wie ein assimilierter oder verfolgter Jude; den rebellischen Jugendlichen, der auf eine Wand der Ablehnung durch die Sozietät der Erwachsenen stößt; den Naturmenschen, der aus der Zivilisation verstoßen worden ist und nie wieder in das entfremdete Eigene zurückfindet; den Exzentriker, der die Regeln der guten Gesellschaft nicht beherrscht und sein Anecken grotesk überspielt; den Outlaw, der im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Feigheit die Grenzen des Gesetzes überschreitet, das mit dem Besitzenden und den Mächtigen im Bunde steht; den Verlierer, der in Zynismus und Selbstmitleid versunken ist, sich aber im entscheidenden Moment zur entsagungsvollen Tat aufraffen kann; die liebende Frau, der Doppelmoral, Heuchelei und Bigotterie zum tragischen Verhängnis werden; die underdogs, denen nur ihre musikalische Ausdruckskraft bliebt, um Würde zu währen.

Es gab ein Arbeitsbündnis von Immigranten und Afro-Amerikanern, das von der Filmproduktion in Hollywood ausging und die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Die massenhafte Verbreitung der Synthesen aus schwarzer Musik, Unterhaltungsmusik des Stetls und europäischer Salonmusik, für die große Namen wie George Gershwin und Irving Berlin stehen, war die Grundlage für den weltweiten Erfolg von Jazz und Popmusik.
Arbeitsbündnisse zwischen Formen der Volksmusik und der bürgerlichen Unterhaltungsmusik hat es natürlich auch in der europäischen Massenkultur gegeben, aber die Musikkultur der USA war offenbar ein idealer Boden für jene neue musikalische Universalsprache, die in den Hollywood-Filmen zuerst global reproduziert wurde, mit jüdischen Komponisten und schwarzen Interpreten als Erfolgsträger.
Sicher: Viele dieser Archetypen der Massenkultur sind nicht exklusiv in der Erfahrungswelt jüdischer Immigranten geboren worden, die Hollywood in den 30erJahren des Zwanzigsten Jahrhunderts sein Gesicht und seine Sprache gegeben haben. Aber hier erhielten diese Archetypen ihre neue Form, die für den Massen-Erfolg auf der ganzen Welt entscheidend waren und es bis heute sind. Die »Superman«-Figur wurde von zwei jungen jüdischen Zeichnern entwickelt.
Wie ging es weiter mit den Superhelden? »Batman« ist im »Privatleben« kein Außenseiter, sondern ein Star des Establishment.
Aber als Held muss er sich verstecken. »Spiderman« ist die Wunschprojektion eines pubertierenden Jungen, der unscheinbar und linkisch ist, aber sein Köpersekret schier endlos verspritzen kann. Als omnipotentes Insekt rettet er die Welt und seine Angebetete, der er am Ende freilich entsagt – gleichsam ein mobil gewordener, hyperaktiver Gregor Samsa.
Weitere Nachfolger der klassischen Charaktere aus der Gründer- und Blütezeit Hollywoods sind: E.T., James Dean und der junge Marlon Brando, Woody Allen und noch Angela Winkler als Katharina Blum, die in Schlöndorffs und Margarethe von Trottas Verfilmung des Böllschen Romans aus dem Jahre 1975 eine junge Frau spielt, die sich dem Konformismus verweigert und durch Boulevardpresse, Spießertum und staatliche Willkür ruiniert wird.


Vom Polypol zum Monopol und wieder zurück, in 75 Jahren: Wirtschaftsgeschichte und -gegenwart

Am Anfang stand 1895 die Filmvorführung im Pariser Grand Café, dann wurde in angemieteten Sälen, Hinterzimmern, Jahrmarktsbuden und Zelten Filme gezeigt, später in den Kinosälen europäischer Großstädte und den erfolgreichen Nickelodeons der USA.
In den 1920 Jahren waren die Lichtspielpaläste die Wahrzeichen großstädtischer Unterhaltungskultur.
Zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise zogen das Kino in ihren Bann, konnten es aber als Massenmedium nie ernsthaft gefährden. Als in den 1950er Jahren das Fernsehen zum Leitmedium wurde, geriet die Filmindustrie heftig ins Straucheln, aber sie überlebte, weil sie sich an ihre veränderte Umwelt anpassen konnte und sich stärker für den Film als Bildkunst öffnete. Auch dem Aufstieg der neuen audiovisuellen Medien hat die Filmindustrie bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt standgehalten. Sie hat es geschafft, die Attraktions-Impulse und die neuen Technologien der Bilderzeugung zu integrieren.
In seiner »Soziologie des Films« aus dem Jahre 1970 hat Dieter Prokop das bis heute anerkannte Modell aufgestellt, von dem oben die Rede war. Es unterteilt die Produktions- und Verteilungsbedingungen des Films als Massen-Ware in vier Phasen.
Die erste Phase dauerte von 1895 bis 1909, sie war die Phase des »Polypols«. Erfindung und Weiterentwicklung der Film-Technologie fanden in einem harten und vielfältigen Konkurrenzkampf statt, in dem sich Erfinder, Techniker und die ersten Unternehmer gegenseitig auszustechen versuchten.
Die beginnende Konzentration von Kapitalien in der neuen Filmindustrie, in die nun Banken und Großindustrie investierten, nennt Prokop die Phase des »Oligopols« und setzt sie von 1909 bis 1929 an. Im Jahre 1911 betrug das Einlagekapital des ersten Film-Riesen, des Pariser Konzerns Pathé, der sich in 15 Aktiengesellschaften gruppierte und sein Geld von der Crédit Lyonnais erhielt, 15 Millionen Französische Francs. Im Jahre 1913 waren es 30 Millionen. Begonnen hatte man im Jahre 1895 mit 24000 Francs, 1887 war die erste Million erreicht worden.15
Die dritte Phase in Prokops Modell ist die des »Monopols«, die von 1930 bis 1946 dauerte. Hollywood dominierte inzwischen den Weltmarkt und hatte die französischen, italienischen, dänischen und deutschen Industrien verdrängt. – Wirtschaftliche Umstrukturierungen finden stets in Gestalt von Krisen statt. Auf die Hochblüte der Filmindustrie in den USA war Ende der 1920er Jahre eine krisenbedingte Veränderung gefolgt. »Dank des Tonfilms«, berichtet Dieter Prokop, »konnte es sich Warner Bros. leisten, das First National-Studio in Burbank zu kaufen, es war ebenso groß wie das von MGM. Doch in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, die 1929 mit dem Börsenkrach begann und bis 1933 dauerte, gingen die Zuschauerzahlen erschreckend zurück. Und damit die Gewinne: Die fünf größten Filmkonzerne, die 1927-30 zwischen 31 und 40 Millionen Dollar Gewinne machten, hatten 1932 nur noch 3 Millionen Dollar Gewinn. Nimmt man die acht größten Filmkonzerne, sieht es noch drastischer aus: 1930 noch 55 Millionen Dollar Gewinn, 1931 nur noch 7 Millionen Dollar und dann 1932 ein Verlust von 26 Millionen Dollar. Die Großfirmen mußten 5.000 Kinos schließen. Die Kurse der Film-Aktien sanken. RKO und Universal gingen in Konkurs, Paramount war fast bankrott. Die Fox Corporation mußte durchrationalisiert werden. Warner begrenzte die Drehzeiten pro Film auf 19 Tage und begann gründlich zu prüfen, welcher Star wirklich ein Kassenmagnet war.«16

Was sind eigentlich Monopole?
»Ein Monopol liegt vor, wenn der Markt für eine Ware, für die es im Urteil der Nachfrager keinen Ersatz gibt, von einem Anbieter beherrscht wird. Das muß nicht immer ein Alleinanbieter sein, auch mehrere große Anbieter können den Markt untereinander aufteilen und zusammen wie ein Anbieter auftreten und den anderen Konkurrenten den Zugang zum Markt versperren. Fünf größere Firmen: Paramount; Metro-Goldwyn-Mayer (MGM); Twentieth-Centruy-Fox; Warner Bros.; Radio-Keith-Orpheum (RKO) und drei kleinere: Universal; Columbia und United Artists produzierten zwischen 1934 und 1936 62 % aller amerikanischen Spielfilme, zwischen 1939 und 1945 70 %. Sie waren in einer gemeinsamen Handelsorganisation zusammengeschlossen, der Motion Picture Producers and Distribution Association of America. […] Daneben gab es nur noch drei große unabhängige Produzenten: Samuel Goldwyn, Hal Roach und Walt Disney. Alle anderen unabhängigen Filmproduktions-Firmen waren unbedeutend, ihnen blieb überlassen, billige Filme herzustellen, die in den erstklassigen Kinos nicht gezeigt wurden. Die kleineren Firmen waren in der Society of Independent Motion Picture Producers organisiert«.17

Die vierte Phase dauerte von 1945 bis 1970: das internationale Monopol. Mitte der 1940er Jahre hatte die Entflechtung des Hollywood-Studiosystems begonnen, gegen das kartellrechtliche Schritte eingeleitet worden waren. Das Monopol wurde 1948 vom obersten Bundesgerichtshof der USA zerschlagen. Das hatte Folgen: Innerhalb von 12 Jahren vervierfachte sich die Zahl der Independents. »1945 gab es in den USA 40 unabhängige Produzenten, 1946 70, 1947 100 und 1957 bereits 165.«18 Die beiden Verbände, also die Organisationen der großen und der unabhängigen Filmproduzenten und -distributoren, mussten sich nun den Markt teilen. Europäische Autorenfilmer wie Federico Fellini, Ingmar Bergmann, Luis Buñuel und Akiro Kurosawa sowie Schauspielerinnen wie Brigit Bardot oder Anita Ekberg wurden von Independent-Verleihfirmen in den 50er Jahren auf dem US-Markt durchgesetzt.19 Das wirkte auf Europa zurück. In Italien war die Kunstform des Neorealismus entwickelt worden, der einen unpathetischen Blick auf den Alltag von Menschen warf, die unter der geschichtlichen Katastrophe des Kriegs und der permanenten gesellschaftlichen Katastrophe sozialer Fremdbestimmung und Ausbeutung litten. Aus Frankreich überrollte 10 Jahre später die neue Welle des formal pluralistischen, ernsten oder heiteren Autorenfilms die Welt. Hollywood konnte zunächst noch eine Zeit lang mit dem farbigen Musical-Film gegenhalten, reagierte aber dann bald mit dem Aufbau neuer Stars und maßvollem Tabu-Abbau; für beides steht der Name Marylin Monroe.
Neue Kino-Kunden wurden erfolgreich umworben: James Dean und Marlon Brando zogen Jugendliche an, die neuen Drive-Ins die Autofahrer. Cecil B. De Milles »Zehn Gebote« spielte 1957 43 Millionen US-Dollar ein, William Wylers »Ben Hur« 1959 37 Millionen und Alfred Hitchcocks »Psycho« 1960 immerhin noch 11 Millionen. Fünf Jahre später brachte es »The Sound of Music« (Produktion und Regie: Robert Wise) auf die Rekordzahl von 80 Millionen US Dollar. 1968 spielte Mike Nichols »The Graduate« 44 Millionen ein, und die Arthur Hillers »Love Story« holte 1970 49 Millionen heraus.20
Parallel dazu hatte sich der europäische Film als kommerziell erfolgreich und ästhetisch maßgeblich etabliert. Einige besonders eindrucksvolle Beispiele: Jaques Tatis »Die Ferien des Monsieur Hulot« von 1951, »Asche und Diamant« von Andrzej Wajda von 1957, François Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn« Federico Fellinis »La Dolce Vita«, natürlich Jean-Luc Godards schon erwähnter »Außer Atem« und Wolfgang Staudtes »Rosen für den Staatsanwalt« oder Bernhard Wickis »Die Brücke« aus dem Jahre 1959, »Accattone« von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahre 1961, Ingmar Begmanns »Das Schweigen« von 1963, »Blow-Up« von Michelangelo Antonioni und Luis Buñuels »Belle du jour« von 1966, Sergio Leones »Spiel mir das Lied vom Tod« im Jahre 1968, Luchino Viscontis »Tod in Venedig« von 1970.
Daneben ist die wachsende Wahrnehmung des japanischen Films zu erwähnen; Akiro Kurosawas »Rashomon« von 1950 und zwei Jahre später seine »Die sieben Samurai« wurden als Wegbereiter einer neuen, radikalen Filmästhetik entdeckt, die im Dialog mit Europa und den USA stand, polyperspektivisch erzählte und eigenwillig mit visuellen Gestaltungsmitteln wie Zeitlupen- und Teleaufnahmen arbeitete.
Für die Zeit ab 1970 spricht man in der neueren Filmtheorie von einer fünften Phase, dem neuen Polypol. Der Filmwissenschaftler Franz-Josef Albersmeier beschreibt das folgendermaßen: »Bedingt durch politische Entwicklungen (Entkolonialisierung, Entdeckung des Kinos durch die Nationen der ›Dritten Welt‹) und ökonomische Faktoren (Ausbreitung der 16-mm-Filmproduktion etwa im ›Cinéma Direct‹, im englischen ›Free Cinema‹, im amerikanischen ›Independent Cinema‹ oder im unabhängigen Kino Lateinamerikas; Entwicklung neuer Distributionsformen in den Kooperativen und Kommunalen Kinos), zeichnet sich etwa seit 1970 – die französische Mairevolte von 1968 könnte als historischer Einschnitt bezeichnet werden – eine unzweideutige Tendenz zu einem neuen Polypol ab, gekennzeichnet vor allem durch die Stoßrichtung des poltisch-revolutionären und militanten Kinos gegen Hollywoods neu erwachenden Kinoimperialismus.«21
Aber: Albersmeier bezieht sich vor allem auf die theoretische Reflexion des Films und die Dimension des Films als Massenmediums, die hier von Interesse ist, nicht zum Thema macht. Unter massen-medialem Aspekt ist es wenig überzeugend, dem »New Hollywood« der heutigen Starregisseure Francis Ford Coppola, Martin Scorcese, Robert Altman, George Lucas, Steven Spielberg oder Robert Zemeckis »Kinoimperialismus« vorzuhalten. Vielmehr gilt es, ihre Erneuerung des Hollywood-Films zu würdigen, die klassische Konventionen beibehält (wie z.B. Griffith‘ Schnitt-Regeln) und gleichzeitig in die Schule des europäischen Autorenkinos gegangen ist. Und wenn ein Film wie »Jurassic Park« 1993 in den USA 208 und weltweit 900 Millionen US-Dollar einspielt, liegt das nicht an vermeintlichen imperialistischen Zwangsmaßnahmen, sondern eben an der massenhaften Attraktion, die gediegene Arbeiten massenkultureller Ästhetik nach wie vor ausüben.


4. Zur Ästhetik und Bildtheorie des Films

Die Kino-Kultur war eine kollektive Schule der Wahrnehmung: »Man lernte, die Realität durch die Linse einer Kamera zu sehen.«22
Siegfried Kracauer, der in den 1920er Jahren die theoretische Gattung der Filmkritik in Deutschland maßgeblich begründete und durchsetzte, hat Anfang der 1950er Jahre rückblickend anhand des Genres der Stummfilmkomödie beschrieben, worin die Faszination des Kinos für erschöpfte arbeitende Menschen bestand, die in ihrer Freizeit Zerstreuung und Vergnügen suchten: Es war die Lust an der Betrachtung aufgezeichneter temporeicher Bewegung. Die Stummfilmkomödie entstand in Frankreich einige Zeit vor dem ersten Weltkrieg; ihren Zenit erreichte sie in der US-amerikanischen Filmproduktion der 1920er Jahre. Das Genre hatte sich aus vor-filmischen Formen der Massenkultur entwickelt: Jahrmarktspiele, Zirkus, Music-Hall-Shows und Burlesken. Im Zentrum des Geschehens stehen »Katastrophen, Gefahren und physische Schocks«, aus denen Spannungsverläufe entstehen, die die Geschichte vorantreiben. Es geht um die »Faszination«, die Gefahren und Schocks »auf den zivilisierten Menschen ewig ausüben«.23 Verstrickung, Gefahr und Rettung der verstrickten Personen im letzten Moment – das ist das Schema der Komödien. »Ein Junge fuhrwerkt mit einem Gartenschlauch herum und setzt dabei die Wohnungen eines benachbarten Hauses unter Wasser; Leute, die gerade einen Spaziergang machen, fallen unvermittelt in den See; Juckpulver im Fischgericht bewirkt wundersame Dinge bei den Tischgästen; eine Braut, die irgendwo hängenbleibt, erscheint in Unterwäsche auf der Hochzeitsfeier – solche Gags waren in Frankreich zwischen 1905 und 1910 allgemein üblich. Einige Motive kamen nach Amerika und zählten dort zum eisernen Bestand.«24

Die Keystone-Slapstickkomödien, die Filme von Mack Senett, Buster Keaton, Charles Chaplin und Harold Lloyd kultivierten solche Elemente und forcierten im Gleichschritt mit den fortschreitenden technischen Möglichkeiten der Kamera vor allem jenes formale Element, das die entscheidende Faszination des Mediums ausmachte: das Tempo der gezeigten Bewegung. Übertreibung der gezeigten Bewegung, unbewegte Dinge, die in unheimliche Bewegung versetzt werden, der Rausch des Spiels mit der Geschwindigkeit – all das waren unverzichtbare Bestandteile der Stummfilmkomödie. Der Aufstand der Dinge gegen die Menschen, Wände, die sich von selbst aufbauen und Tapeten, die von selbst daranfliegen, Kürbisse, die vom Wagen springen und die Bauern verfolgen, alles natürlich in irrwitzigem Tempo, die obligatorische Verfolgungsszene über Stock und Stein, die den Höhepunkt jeder Keystone-Komödie bilden musste: »Das war Kino, das war Spaß; es war, als ob man in einem Wagen auf der Achterbahn mit vollem Karacho fuhr, während sich einem der Magen drehte. Das Schwindelgefühl gesellte sich prima zu den Schockwirkungen von Unfällen und scheinbaren Zusammenstößen«, die auf der Leinwand zu sehen waren. So beschreibt Kracauer das spezifische Wahrnehmungserlebnis der frühen Filme.25 Und damit schlug er sich auf die Seite jener Theorien der Filmästhetik, die das realistische Element ins Zentrum stellen.

Realistischer und phantastischer Film

In der Frühzeit des Films gab es zwei Lehrmeinungen von der ästhetischen Leistung des neuen Mediums, die einander gegenüberstanden. Die eine besagte, Filme würden Sichtbares wiedergeben, und die andere besagte, Filme würden sichtbar machen, was eigentlich nicht sichtbar ist.
Die Theorien des realistischen und des phantastischen Films machten jeweils einen wichtigen visuellen Aspekt des Mediums zum einzigen. Der Vorteil dieser antithetischen Theorien ist, dass sie ihren jeweiligen Aspekt besonders deutlich akzentuierten, und davon kann man noch heute profitieren. Realistische Theorien des Films hoben das große Faszinosum des frühen Films hervor, das in der überwältigend naturgetreuen Nachbildung erscheinender, visuell wahrnehmbarer Wirklichkeit bestand, die es in diesem Grade in der bildenden Kunst bis dahin nicht gegeben hatte. Denn es handelte sich um die Nachbildung von bewegter Wirklichkeit.
Theorien des phantastischen Films entzündeten sich an der ebenfalls bis dahin so noch nicht bestehenden Möglichkeit, künstlerische Phantasie als sichtbare Wirklichkeit zu realisieren. George Méliès, der Pionier des phantastischen Films, ein Schausteller und Varieté-Zauberer, inszenierte um die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhunderts Märchenschauspiele, Zaubertricks und Verfilmungen von Jules Vernes Science-Fiction-Romanen vor der Kamera; »ein phantastisches Medium zieht phantastischen Stoff an«, schreibt Wolfgang Bock.26
Méliès benutze Theaterkulissen und schlichte Tricktechniken, wie sie noch heute verwendet werden, wenn man die Kamera anhält und die Positionen von abgefilmten Gegenständen verändert, um anschließend die nächste Einstellung zu drehen. Anders die Pioniere des realistischen Films, die Brüder Lumière, die Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich dokumentarische Aufnahmen herstellten, die Bewegungen von Menschen und Dingen reproduzierten, z.B. die berühmten Bilder der Arbeiter, die die Lumière-Fabrik in Lyon verlassen oder die Bilder des Zuges, der in den Bahnhof von La Ciotat einfährt.
Bevor Filme eine Geschichte erzählten, sollte noch einige Zeit vergehen. Aber auch narrative Filme hatten in ästhetischer Hinsicht bevorzugt realistischen Charakter. Was man auf ihnen sah, war arrangiert und von Akteuren vorgeführt worden, aber eben zu dem Zweck, das Sichtbare zu zeigen, um es auf diesem Wege nachfühlbar und begreifbar zu machen. Selbst die monumentalen Historienfilme aus Italien, die zwar nicht die Wirklichkeit zeigen wollten, wie sie den Menschen täglich erschien, sondern eine Wunsch-Wirklichkeit wiedergewonnener imperialer italienischer Größe propagierten – selbst diese Filme operierten mit eindrucksvollen Abbildern von Menschen-Massen, Tieren, Landschaften und Ruinen.
Die Briten George Albert Smith und James Williamson verbanden schon früh dokumentarische Aussagen mit spezifisch filmischen Ausdrucksmitteln. In ihren kurzen Filmen aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigten sie alltägliche Begebenheiten oder Berichte aus den Kolonien und benutzen dabei als erste den Wechsel der Kameraeinstellung und Parallelmontagen als Stilmittel.
Aber großer filmischer Realismus will nicht die sichtbare Oberfläche der Realität abzeichnen; er versucht sich daran, deren verborgene Strukturen und gesellschaftlichen Proportionen sichtbar zu machen. René Clair, Jean Renoir und Jean Vigo haben auf diesem Gebiet in den 1930er Jahren mustergültige Werke geschaffen, und nach dem zweiten Weltkrieg waren es italienische Regisseure, die den Film als realistische Bildkunst erneuerten.
1932 nahm René Clair in »Quatorze juillet« noch einmal ein Thema auf, das er bereits zwei Jahre zuvor in »Sous le toits de Paris« mit großem Erfolg (bei den Fachleuten, nicht beim Publikum) behandelt hatte: Das Leben der kleinen Leute in der französischen Metropole.
Bewegungs- und ereignisarm wird vom proletarischen Alltag erzählt. »Im Film regnet es häufig, und die Menschen zanken sich oft, sie verschwenden viel Zeit mit unnützem Suchen, sinnlosem Rufen und vergeblichen Versuchen, sich zu verständigen«, berichtet der bedeutende polnische Filmhistoriker Jerzy Toeplitz. »In gewissem Sinne«, meint er, »nimmt ›Der 14. Juli‹ den Stil der italienischen Neorealisten De Sica und Zavattini vorweg.«27
Einer der ersten Filme, der die formalen und thematischen Merkmale dieser Gattung verwirklichte, war »Ossesione« von Luchino Visconti, eine Verfilmung des Kriminalromans »The Postman Always Rings Twice« von James M. Cain, die im Jahre 1942 entstand. Massimo Girotti und Clara Calamai spielen einen Tramp, der eine Zeitlang als Tagelöhner bei einem Wirt unterkommt, und die junge Frau des Wirts. Aus Gier nach Liebe ermorden sie den Ehemann; die Tat entfremdet sie einander. Die Lebens- und Liebesnot in den niederen sozialen Bereichen wurde hier als Tragödie vorgeführt, freilich ohne jedes Pathos, nüchtern notierend, und in Bildern, die eine bis dahin unbekannte Schlichtheit aufwiesen.
Roberto Rossellinis »Rom, offene Stadt« wurde 1945 im zerstörten Rom gedreht, das Drehbuch stammte von Federico Fellini. Erzählt werden Ereignisse aus den Tagen der faschistischen Herrschaft. Da Studios und Profis fehlten, wurde vor Ort mit Laiendarstellern gedreht, unter die sich Anna Magnani und Aldo Fabrizi mischten. Rossellini »schuf eine bis dahin im fiktionalen Film unerreichte Realitätsnähe«, schreibt Andrea Gronemeyer. »Statt auf psychologische Einfühlung setzte er auf die Schaffung einer intellektuellen Distanz, aus der heraus größere Kausalzusammenhänge überblickt werden können. Absichtlich ließ er die typischen Handlungsbindeglieder aus, um eine klassische Spannungsdramaturgie nach amerikanischem Vorbild zu vermeiden. Die tragischen Episoden des Films stehen deshalb wie zufällig nebeneinander«.28
Auch der Klassiker des Neorealismus, Vittorio De Sicas »Fahrraddiebe« aus dem Jahre 1948 mit einem Drehbuch von Cesare Zavattini, widmet sich dem Überlebenskampf des urbanen Proletariats. Ein Arbeitsloser findet eine Anstellung als Plakatkleber, wird aber sogleich seines Produktionsmittels, des Fahrrades, beraubt und am Ende selbst zum Dieb. Es sind nicht die Grundsätze klassischer Poetik des Dramas mit ihren Krisen, Wendepunkten, Wiedererkennungen und tragischen Auflösungen, von denen die Diktion des Films bestimmt wird.
Es ist die einfache Chronologie des Alltags, die keine tiefere Kausalität aufweist, sondern als erschöpfende Jagd durch die Straßen der großen Stadt gezeigt wird. Cesare Zavattini ging es darum, ohne das Korsett der filmisch-technischen Konventionen ein Erkenntnis-Bild der zusammenhangslosen, bruchstückhaften Wirklichkeit in der Moderne zu zeigen.
Für den französischen Realisten Renoir war »Authentizität« der filmkünstlerische Schlüsselbegriff. »Toni« handelt vom vergeblichen Kampf um Anerkennung, den ausländische Landarbeiter in Südfrankreich führen, inszeniert als verzweifelte Geschichte von Liebe und Verbrechen, die auf Gerichtsakten basierte, zu denen Renoir Zugang hatte. »Die große Illusion« zeigt Soldaten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen, die dem Trugbild zum Opfer fallen, dass sich durch Krieg Konflikte lösen ließen. Die Selbstzerstörung der menschlichen Triebnatur unter den Bedingungen sozialer Unfreiheit, die Emile Zola literarisch analysiert hatte, wird in »Die Bestie im Menschen« vorgeführt. Das waren die großen Themen, mit denen Renoir das breite Publikum fesseln und die Kritiker begeistern konnte. In der Zeit der »Volksfront«-Regierung (also nach 1934) zeichnete seine Kunst gesellschaftliches Engagement aus, das nicht zur politischen Propaganda verkam.
Eine Vermitlungsposition zwischen Realismus und phantastischem Film nahm unter anderem René Clair ein. Schon Charles Baudelaire hatte von den »phantastischen Realien des Lebens« gesprochen. Beide Theorien, die des realistischen und die des phantastischen Films, korrespondierten mit den beiden großen, mehr oder weniger untergründig präsenten literarischen Traditionen Frankreichs, des Naturalismus und des Surrealismus. Clair wollte das Irreale der Realität und die Verrücktheit des Rationalen zeigen.
Das Bewegungsgesetz der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist die Jagd nach dem Vermögen, und dieses Gesetz ist ebenso durch und durch rational wie zutiefst irrational. Diese Paradoxie kann man sich ja bis heute zu Gemüte führen, wenn man das Börsengeschehen verfolgt. Es ist ein Musterbeispiel zweckrationalen Handelns, wenn man alles tut, um ein Vermögen zu machen; aber indem man sein ganzes Handeln allein unter diese Maxime stellt, gerät einem jeder vernünftig bestimmbare Zweck aus dem Blick, wozu es eigentlich gut sein soll, ein Vermögen zu haben. Außerdem ist die Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft, die auf dem Eigentum an Kapital und Produktionsmitteln beruht, einerseits im Rahmen dieser Ordnung streng rational, andererseits von außen betrachtet komplett irrational, weil Gewalt und blinder Zufall über die soziale Verteilung der Vermögen bestimmt. Seit jeher ist der rationale Wahnsinn der bürgerlichen Gesellschaft ein bevorzugtes Thema der Komödie gewesen. Solche Paradoxie hat, René Clair in seinem Film »Le Million« visualisiert. »Den Kern der Handlung bildet ein verlorengegangenes Lotterielos, das in die Tasche eines alten, abgetragenen Jacketts geraten war.« Im Film versuchen »die Helden und ganze Menschenscharen, organisierte und unorganisierte, das kostbare Jackett in die Hände zu bekommen.«29 Clair wandte ein rationalistisches Kompositionsverfahren an, das er selbst vom Aufbau der klassischen Dramen Racines oder der Komödien Molières sowie von deren Popularisierungen im Vaudeville ableitete: strenge mathematische Präzision. »Auf ›Die Million‹ bezogen«, so noch einmal Jerzy Toeplitz, »bedeutet der Terminus ›mathematisch‹ die Kunst filmischer, dramaturgischer Komposition. Hier handelt es sich um die rhythmische Gestaltung der einzelnen Ausdrucksmittel, um die präzise Rollenverteilung auf das gesprochene Wort, die Chöre, die Geräuscheffekte und die Stille. Den Rhythmus des Films ›Die Million‹ bestimmte der Ton. Der Schnitt wurde ebenfalls dem Ton untergeordnet. Doch die Montageweise, die Art, wie die einzelnen Einstellungen und Sequenzen aufgebaut wurden, entsprach nach wie vor der Stilistik des Stummfilms. Das primäre Einwirkungsmittel auf die Sinne des Zuschauers blieb grundsätzlich das Bild.«30 Damit wurde der Dialog seiner Führungsrolle entkleidet und die Realität scheinbar zum Schwingen gebracht. »In ›Le Million‹, sagte der Schöpfer des Films, habe er aus realen Elementen eine völlig irreale Welt aufgebaut, die Logik und Konsequenz verspottet. Aber selbst die Verspottung der Welt ist noch mit Ironie gewürzt und somit gewissermaßen entschärft. Folglich ist alles variabel, jedes Ding wird nur vielfach als hämisch grinsende Larve vom Spiegel reflektiert.«31

Die Spätfilme von Luis Buñuel sind vielleicht die genialsten Vermittlungen zwischen Surrealem und Realistischem. Die Verdoppelung der Hauptdarstellerin in »Das obskure Objekt der Begierde«, die virtuosen Umkodierungen kultureller Verhaltenssequenzen in »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« oder der Bruch mit eingübten Seh-Erwartungen in »Das Gespenst der Freiheit« führten vor Augen: »Wirklichkeit« ist nicht Naturtatsache, sondern Ergebnis sozialer Konstruktionen. Diese Konstruktionen sind veränderbar und veränderungsbedürftig.
Auf diese Weise hat Buñuel unsere gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit – im Sinne des Philosophen Roland Barthes – visuell entmythologisiert.


Der Film als Bildmedium der Massenkunst

»Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche«, schrieb Erwin Panofsky. Er hat das als theoretischen Grundstein dafür verstanden, dass das Massen-Medium Film uneingeschränkt als neue Kunstgattung anzuerkennen sei. Erwin Panofsky hat in den 1930er Jahren eine realistisch-materialistische Ästhetik des Films formuliert, die von einem ikonologischen Blick auf den Film ausgeht. Die Kernthese lautet: »Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche.«32
»Die Verfahrensweisen aller früheren bildenden Künste«, meint Panofsky, »entsprechen, mehr oder weniger, einem idealistischen Weltbild. Die Künste agieren sozusagen von oben nach unten. Sie beginnen mit einer Idee, die in die gestaltlose Materie projiziert werden soll, nicht mit den Objekten, aus denen die äußere Welt besteht. Ein Maler beginnt mit der leeren Wand oder Leinwand und gestaltet sie zum Abbild von Dingen und Personen gemäß seiner Idee, wie sehr diese Idee auch von der Realität gespeist sein mag.«33 Ähnlich der Produktionsvorgang in Bildhauerei und Schriftstellerei und sogar noch beim Bühnenbild. Anders der Film: »Der Film und nur der Film wird jenem materialistischen Weltverständnis gerecht, das die gegenwärtige Kultur durchdringt, ob es uns nun gefällt oder nicht. Von der Sonderform des Zeichenfilms abgesehen, gibt der Film materiellen Dingen und Personen, nicht neutralem Stoff, einen Sinnzusammenhang, der seinen Stil und sogar seine Phantastik oder unbeabsichtigte Symbolqualität weniger durch die Vorstellung des Künstlers erhält als durch die Arbeit mit den äußeren Objekten und der Aufnahmeapparatur.«34 Alle »Objekte und Personen« die sozusagen das Wirklichkeits-Substrat des Films bilden, »müssen in einem Kunstwerk zusammengeordnet werden. Sie können in jeder beliebigen Weise angeordnet werden, wobei ›Anordnung‹ natürlich Schminke, Beleuchtung, Kameraarbeit usw. einschließt. Aber aus dem Weg gehen kann man ihnen nicht.«35
Ausgangspunkt von Panofskys Abhandlung über »Stil und Medium im Film« aus dem Jahre 1936 war die Frage nach dem spezifischen Bildcharakter des Films. Panofsky untersucht dort, welche Problemstellungen der Film als Bildmedium löst, auf welche Fragen der Film Antworten gibt. Was leistet der Film im Unterschied zum Tafelbild, zur Plastik und Grafik, was im Unterschied zum Theater, zur Pantomime und zum Ballett? Diese vergleichende Betrachtung erfolgt im ikonologischen Horizont der neuen Formen von Vergesellschaftung und Wahrnehmung, wie sie für das beginnende 20. Jahrhundert charakteristisch sind. Die industrialisierte, technisierte Massengesellschaft mit ihren veränderten Möglichkeiten und Bedürfnissen ist der Hintergrund, vor dem Panofsky in die Bilderflut eintaucht. Ikonologie, wie sie von Aby Warburg und Panofsky, mit Hilfe von Kategorien aus Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« entwickelt wurde, fragt nach den kulturellen, historischen, sozialen und nationalen »Grundeinstellungen«, nach den »symbolischen Werten«, die sich in Bild-Formen manifestieren. Sie versucht, die für eine Epoche kennzeichnenden »symbolischen Werte« zu entdecken und zu interpretieren.36 Erstmals in der kunsthistorischen Zunft wurde hier das neue Medium Film als Kunst gewürdigt.
Filmkunst ist Bildkunst; der Film ist für Panofsky »legitimer Nachfolger der traditionellen Bildkünste«, wie Detlev Schöttker resümiert hat.37 Film ist zunächst einmal eine Folge von bewegten Bildern. Film ist nach Panofsky nicht herabgesunkenes Kulturgut, also nicht etwas, das von der Hochkunst unter fortwährender Entdifferenzierung in die Sphäre des Massenvergnügens durchgereicht worden ist. Im Gegenteil. Film sei einerseits nicht aus künstlerischem Ausdrucksinteresse überhaupt erst als Kunstform entstanden, sondern im Gefolge einer technischen Erfindung. Andererseits sei Film wesentlich durch ein massenkulturspezifisches Bedürfnis motiviert: durch das Vergnügen am Betrachten von Bewegung im Medium des Scheins. Dass er evidenterweise dieses Bedürfnis befriedigt, läßt ihn als Kind der Volkskunst erkennbar werden.
»Filme […] sind ursprünglich ein Produkt genuiner Volkskunst«. »Ganz am Anfang steht die bloße Aufzeichnung von Bewegungen: galoppierende Pferde, Eisenbahnzüge, Feuerspritzen, sportliche Ereignisse, Straßenszenen.« Das zeige: »der Ursprung der Freude am Film war nicht ein objektives Interesse an bestimmten Inhalten, viel weniger ein ästhetisches Interesse an der Form der Darstellung von Inhalten, sondern ganz einfach die Freude an etwas, das sich zu bewegen schien, ganz gleich, was es sein mochte.«38
Aus Panofskys Studie lernt man, dass der Film ein genuin massenkulturelles Phänomen ist, das eine genuine ästhetische Erfahrung ermöglicht, die andernorts nicht möglich wäre. Im Film wird der Raum, der im Theater statisch ist, dynamisiert. Der nach wie vor auf seiner Beobachterposition fixierte Zuschauer ist doch ästhetisch immer in Bewegung, wenn er sich mit dem Kameraauge identifiziert. Der Bildraum ist nicht ruhendes Gefäß für in ihm stattfindende Bewegungen. Mittels filmischer Produktionstechniken wie Bewegung und Einstellung der Kamera, Schnitt, Montage sowie der zahlreichen special effects wird der Bildraum selbst bewegt: Er »nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an«.39 Komplementär dazu, sagt Panofsky weiter, wird die Zeit verräumlicht. Damit ist gemeint, dass die Zeit als »das Medium des in der Sprache sich mitteilenden Fühlens und Denkens«40 in sichtbares, räumliches Geschehen übersetzt wird. Was innen ist (also in der Person, die vom Darsteller repräsentiert wird), wird nach außen gebracht, es wird visualisiert. Das gilt sowohl für psychisches Geschehen, das ins Bild gesetzt wird, als auch für die Gesichter der Agierenden, die bei Monolog- und Dialogszenen in der obligatorischen Großaufnahme gezeigt werden. Hier, beobachtet Panofsky, »verwandelt sich die Physiognomie in einen Schauplatz: schauspielerische Qualität vorausgesetzt, wird die feinste, aus gewöhnlicher Entfernung nicht erkennbare Regung des Gesichts zum ausdrucksstarken Ereignis im sichtbaren Raum und verschmilzt dabei vollkommen mit dem Ausdrucksgehalt der gesprochenen Worte.«41
Dass die neue Kunstgattung von Anfang an, und erst recht in der Ära des Tonfilms, in massenweise reproduzierter und von Massen rezipierten Gestalt auftrat, war ein Umstand, der viele Theoretiker aus der Frühzeit des Films irritiert hat, aber nicht Panofsky. Kommerzialität, so seine lakonische Auskunft, sei ein wesentliches Merkmal neuzeitlicher Kunst, in der die Künstler darauf angewiesen seien, wenigstens mit einem Teil ihrer Produktion Publikumsbedürfnisse zu befriedigen. Dürers Druckgraphik sei kommerziell gewesen, ebenso Shakespeares Dramatik, im Unterschied zu seiner esoterischen Lyrik. (Shakespeares Dramen wurden noch im Nordamerika des 19. Jahrhunderts von den einen für hohe Kunst, von den anderen für populäres Trivial-Amusement gehalten.)
Panofsky meint natürlich nicht, dass alle kommerzielle Kunst gute Kunst sei. »Indem sie mitteilbar sein muß, ist kommerzielle Kunst vitaler als nichtkommerzielle, und deshalb hat sie weit mehr Wirkungsmöglicheiten, im guten wie im schlechten.«42 Seine These: Hollywoods Begründung für die Massenproduktion schlecht gemachter Filme, das Massenpublikum wolle das so und würde sich bessere nicht ansehen, hält Panofsky für Unsinn. Er meint, das Publikum würde alles abnehmen, was Hollywood produziert, auch Produktionen auf hohem Niveau. Die Filmgeschichte hat ihn hierin bestätigt (ebenso die Geschichte des Fernsehens).
Siegfried Kracauer ist Panofsky gefolgt. Der Film arbeite mit »Leben im Rohzustand«, oder, mit anderen Worten formuliert: Er »spiegele Realität wider« und »bilde die sichtbare Welt ab«.43 Das täten Filme freilich nicht nur, um bloß einen visuellen Abklatsch der Welt zu geben, an dem das Publikum sich dann ergötzen könne. Filme, die auf der Höhe ihrer spezifischen ästhetischen Möglichkeiten seien, hätten objektiv die Intention, die Erscheinungen der Welt gleichsam zu »erretten«. Gerettet werden sollen sie, so kann man vermuten, vor dem Desinteresse, vor ihrer funktionalen Reduktion, d. h. der Verstümmelung durch den Verschleiß, dem sie die warenproduzierende, industrielle Gesellschaft aussetzt; und weiterhin vor der Bedeutungsminderung, die sie durch die zweckrational, oder besser: instrumentell-rationale Verengung der Wahrnehmung unter den so gekennzeichneten gesellschaftlichen Lebensbedingungen erleiden. Gerettet werden soll die physische, erscheinende Wirklichkeit aber eben auch vor der Degradierung zum amorphen Stoff, die sie durch den Künstler erfährt, der in ihr nur das Material sehen kann, das es durch Formung allererst zu einer sinnhaften und ästhetischen Totalität zu machen gilt.
Siegfried Kracauer stellt den Film als Kunst, die die erscheinende Wirklichkeit nicht dem Gesetz der ästhetischen Form unterwirft, dem autonomen Kunstwerk gegenüber. Das autonome Kunstwerk ist eine sinnerfüllte Totalität, in der die Teile ihre Existenzberechtigung dem stimmigen Zusammenhang verdanken, in den sie das künstlerische Subjekt gebracht hat. Die »Bedeutung eines Kunstwerks« bestimmt die Bedeutung »seiner Elemente«, schreibt Kracauer; »seine Elemente haben Bedeutung insoweit, als sie zur Wahrheit oder Schönheit beitragen, die dem Werk als Ganzem innewohnt.« Kunstwerke unterliegen den Gesetzen ihrer Komposition. »Ihre Funktion ist nicht, die Realität widerzuspiegeln, sondern eine Vision von ihr zu vergegenwärtigen«.44
Wo sie gelingen, erbeuten Filme Bilder als Rohmaterial, die »ihre eigene Story erzählen«.45 Sie zeigen wirklich, »was sie zeigen».46 Ihre Schöpfer sind »in den Dschungel der materiellen Phänomene« eingedrungen, »auf die Gefahr hin, sich unrettbar darin zu verlieren«.47 Das ist der ontologische Realismus der Kracauerschen Filmtheorie.
Mit Claude Sautets Worten kann man auch sagen: Der Stoff des Films sind »die Dinge des Lebens«.


Zurück in die Zukunft

Das Phantastische im Film ist aber vor allem unter dem Science-Fiction-Label seit den 1950er Jahren wieder auf dem Vormarsch. Im Unterschied zum Horror und zur traditionellen Phantastik spielt in der Science Fiction natürlich der Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Errungenschaften die zentrale Rolle. Der Literaturwissenschaftler Darko Suvin hat in seiner »Poetik der Science Fiction« die Kategorie des »Novum« als die wichtigste der ganzen Gattung formuliert. Das lässt sich auf den Science-Fiction-Film übertragen. Auch hier kommt es darauf an, der »Wirklichkeitsnorm« der Betrachter (und der Filmemacher) einen neuen Erfahrungsgehalt entgegenzusetzen, der von dieser Wirklichkeitsnorm entscheidend abweicht. Das Novum wird in der Regel durch eine der wissenschaftlichen frei nachempfundene Methode legitimiert.48 Science-Fiction-Filme gestalten kulturelle Träume und Alpträume, Wunsch- und Angstphantasien, die im Erfahrungsfeld der Rezipienten verankert sind, aber in euphorischer oder panischer Weise darüber hinausschießen. So können Außerirdische als Retter oder Zerstörer der Welt, wie wir sie kennen, auftauchen; die technologischen Innovationen des Fortschritts-Zeitalters können als Segen oder Fluch erscheinen. Häufig, in den trivialeren Etagen des Genres, sind die Zukunfts-Welten nichts anderes als mehr oder minder parabelhaft angelegte Projektionen dessen, was Drehbuchautoren und Produzenten für die tragenden Konflikte unserer Epoche halten, in eine austattungs-verliebt dargestellte Zukunft. Das »Novum« ist dann nur zum Schein präsent.
Es gibt auch Science-Fiction-Produktionen, die hauptsächlich als Vergangenheitsbewältigung gelesen werden müssen. Commander McLane von der »Raumpatrouille Orion«, gespielt von Dietmar Schönherr, war ein Update des guten deutschen Wehrmachtsoffiziers, der aber, im Gegensatz zu den armen Schweinen im Zweiten Weltkrieg, mit Courage und klugem Eigensinn am Ende immer Erfolg hat. Die bundesdeutsche Fernsehserie aus dem Jahr 1966 war mit dem Schema der Landserhefte und Kriegsfilme verwandt. Ihr Subtext transportierte eine typische Variante der Nachkriegsideologie: Tapfere Kämpfer für eine gute Weltordnung werden von ›denen da oben‹ schikaniert, auf Himmelfahrtskommandos geschickt oder aufs Abstellgleis abgeschoben. Die gänzlich ironiefreie Produktion legte Balsam auf deutsche Wunden – und nahm zugleich die Führungsposition in der Sience-Fiction-Filmproduktion ein, in der sie durch technischen Ideenreichtum bei geringstem Aufwand Maßstäbe setzte. Fast 25 Jahre später eroberte die Serie dann die Programm-Kinos bundesdeutscher Universitätsstädte. Durch die ironischen Lesarten des akademischen Publikums wurde die Produktion aufgewertet. Die Zuschauer hatten ihr bissiges Vergnügen an den anachronistischen Fortschritts-Botschaften einer hypertechnoiden Weltall-Zivilisation, an unfreiwillig komischen Verhaltens- und Kommunikationsmustern, an skurrilen Dramaturgien, aber auch an gelungenen Lösungen im Bereich der technisch-visuellen Inszenierung wie die berühmten Bügeleisen als Armaturen von Weltraum-Kanonen.
Die neuen Trick-Techniken Computeranimation, Digital Composing und Shape Shifting haben die Tore für einen finalen Triumph phantastischer visueller Effekte im Film weit geöffnet.
Der neueste Stand computertechnologischer Bilderzeugung macht potenziell jeden Film zum Trickfilm. Hinter dem prätentiösen Ausdruck »virtuelle Realität« steht also nichts anderes als der gute alte Animationsfilm. Aber: Auf dem avanciertesten Stand der Produktivkräfte wächst ihm eine ganz neue Kraft zu. Mickey Mouse und Donald Duck haben die Sehgewohnheiten auf andere Weise verändert als ihre Nachfolger, deren im Computer errechnete Bild-Realität von traditionell aufgezeichneter Realität mit bloßem Auge kaum oder gar nicht zu unterscheiden ist. In »Monsters Inc.« gelang erstmals die überzeugende Darstellung von Oberflächen, die nicht glatt sind. So können haptische Signale ausgesandt werden, die Trickfilmen bis dahin nicht zur Verfügung standen. Hier besteht das Phantastische oder das Wunderbare nicht mehr darin, dass, wie einst im Zeichenfilm, Produkte künstlerischer Handarbeit durch technische Reproduktionsmittel belebt erscheinen, genauer: dass sie agieren, »als ob« sie aufgezeichnetes Leben wären, und unser ästhetischer Genuss dabei zu einem guten Teil darin besteht, dass wir dieses »als ob« halbbewusst wahrnehmen. Das Phantastische heute ist vom Stoff der »äußeren Realität als solcher« kaum noch zu unterscheiden. Man sieht den Kamerafahrten durchs Schlüsselloch in »Panic Room« nicht an, dass die das Ergebnis von Rechenoperationen des Computers sind. In die Produktionsbedingungen des elektronischen Bildes sind Stilmittel des Phantastischen eingeflossen, und sie werden auf diese Weise zu konstitutiven Bedingungen eines filmischen Realismus ganz anderer Art. Realismus ist nicht mehr eine Form des Zeugnisses von Wirklichkeits-Elementen, die existiert haben, wie die Evidenz der Film-Aufzeichnung beweist. Der Hyper-Realismus der neuen Bilder, die aus Realem und Phantastischem komponiert werden, ist der einer medialen Wirklichkeit eigener Art. Differenzierte und subtile Filmkunstwerke spielen damit, um einerseits klar zu machen, was hier geschieht, und andererseits das Vergnügen daran wachzuhalten und vielleicht noch um die Dimension der Reflektiertheit zu erweitern. Das fing schon bei »Citizen Kane« und »Zelig« an, den großen Doku-Fiktionen von Orson Welles und Woody Allen.
Triviale Filmwerke dagegen feiern Special-Effect-Orgien. Sie entmythologisieren »die Wirklichkeit« nicht; eher schaffen sie einen neuen Mythos, der besagt, dass es überhaupt keine Wirklichkeit mehr gibt, die von medialen (visuellen) Konstruktionen zu unterscheiden sei. Und das ist nichts anderes als Ideologie. Denn alle Medien und alles, was Medien produzieren, ist Teil einer übergreifenden Wirklichkeit, die nicht bloß mediale Konstruktion ist.