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Deutsch

Vilém Flusser
»Mein Atlas«

Vilém Flusser, »Mein Atlas«

»Mein Großvater erzählte, wie sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts diese Atlantennaivität zerstreute. Es wurde deutlich, dass das Problem nicht technisch war, sondern semantisch. Atlanten verloren den sie stützenden Konsens und begannen, in verschiedene Richtungen zu explodieren.
[...] es entstanden historische Atlanten. [...] Die Absicht war, die Geschichte auf der Geographie zu entwerfen. Das Resultat war das Gegenteil der Absicht. Wer den Code solcher Karten entzifferte, stand nicht mehr innerhalb der Geschichte, sondern ihr gegenüber. Er konnte in der Geschichte blättern und sie als Code erkennen. Die Nachgeschichte hatte begonnen.
Mein Großvater sagte er hätte Schwierigkeiten gehabt, dies einzusehen. Er blätterte in diesen Atlanten und merkte dabei, wie die Geschichte begann, blätterbar zu werden, anstatt zu fließen. Sie sah jetzt aus wie ein schlecht projizierter Film: Vorgänge begannen, sich in hüpfende Szenen aufzubröckeln.
[...]
Eine andere Richtung der Explosion bildeten die sogenannten enzyklopädischen Atlanten. Dort zeigten die Landkarten Strukturen, wie etwa jene der Verteilung der Menschheit über die Erde. [...] Mein Großvater sah darin, wo sich Hungersnöte vorbereiteten, wo Kriege knapp vor dem Ausbruch standen und wo religiöse Konflikte schwelten. Der Effekt war ein Abstand von den Ereignissen, ein sich Herausziehen aus ihnen. Der Effekt war der Tod des Humanismus.
Eine neue Einbildungskraft kam auf. Nicht mehr Mensch unter Menschen, sondern Mensch, der andere kodifiziert, um sie zu Inhalten von Atlanten zu machen.«

Vilém Flusser, »Mein Atlas«, in: ders., Dinge und Undinge, München 1993 S. 113–117, hier S. 114ff.