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Hans Magnus Enzensberger
»Baukasten zu einer Theorie der Medien«

Hans Magnus Enzensberger,
Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970)
[Auszug]

1. Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseins-Industrie zum Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden. Sie infiltriert alle anderen Sektoren der Produktion, übernimmt immer mehr Steuerungs- und Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden Technologie. An Stelle normativer Definitionen hier eine unvollständige Liste von Neuentwicklungen, die in den letzten zwanzig Jahren auf den Plan getreten sind: Nachrichten-Satelliten, Farb-, Kabel- und Kassettenfernsehen, magnetische Bildaufzeichnung, Video-Ärecorder, Videophon, Stereophonie, Lasertechnik, elektrostatische Kopierverfahren, elektronische Schnelldrucker, Satz- und Lernmaschinen, Microfiche mit elektronischem Zugriiff, drahtloser Druck, timesharing computer, Datenbanken. Alle diese Medien gehen untereinander und mit älteren wie Druck, Funk, Film, Fernsehen, Telefon, Fernschreiber, Radar usw. immer neue Verbindungen ein. Sie schließen sich zusehends zu einem universellen System zusammen. Der allgemeine Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen tritt aber dort am schärfsten hervor, wo jene am weitesten avanciert sind.
[...]
Eine marxistische Theorie der Medien gibt es bisher nicht. Daher fehlt es an einer brauchbaren Strategie für diesen Bereich. Unsicherheit, Schwanken zwischen Angst und Verfallenheit kennzeichnen das Verhältnis der sozialistischen Linken zu den neuen Produktivkräften der Bewusstseins-Industrie. Die Ambivalenz dieser Haltung spiegelt bloß die Ambivalenz der Medien selbst wider, ohne ihrer Herr zu werden. Aufzuheben wäre sie nur durch die Entfesselung der emanzipatorischen Möglichkeiten, die in der neuen Produktivkraft stecken: Möglichkeiten, die der Kapitalismus ebenso sabotieren muss wie der sowjetische Revisionismus, weil sie die Herrschaft beider Systeme gefährden würden.
[...]

2. [...]
Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.
Dieser Sachverhalt lässt sich aber nicht technisch begründen. Im Gegenteil: die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger. Jedes Transistorradio ist, von seinem Bauprinzip her, zugleich auch ein potentieller Sender; es kann durch Rückkopplung auf andere Empfänger einwirken. Die Entwicklung vom bloßen Distributions- zum Kommunikationsmedium ist kein technisches Problem. Sie wird bewusst verhindert, aus guten, schlechten politischen Gründen. Die technische Differenzierung von Sender und Empfänger spiegelt die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten wider, die in der Bewusstseins-Industrie eine besondere politische Zuspitzung erfährt. Sie beruht letzten Endes auf dem Grundwiderspruch zwischen herrschenden und beherrschten Klassen (das heißt, zwischen Monopolkapital oder Monopolbürokratie auf der einen und abhängigen Massen auf der anderen Seite).
[...]

3. [...]
Die elektronischen Medien haben das Informationsnetz nicht nur intensiv verdichtet, sondern auch extensiv ausgedehnt. Schon die Ätherkriege der fünfziger Jahre haben gezeigt, dass die nationale Souveränität im Kommunikationsbereich zum Absterben verurteilt ist. Die Weiterentwicklung der Satelliten wird ihr vollends den Garaus machen. Informations-Quarantänen, wie sie der Faschismus und der Stalinismus verhängt haben, sind heute nur noch um den Preis bewussten industrieller Regression möglich.

4. [...]
Die elektronischen Medien räumen mit jeder Reinheit auf, sie sind prinzipiell »schmutzig«. Das gehört zu ihrer Produktivkraft. Sie sind ihrer Struktur nach anti-sektiererisch; ein weiterer Grund dafür, dass die Linke, sofern sie ihre Traditionen nicht überprüfen will, wenig mit ihnen anzufangen weiß. Das Verlangen nach einer sauber definierten »Linie« und nach der Unterdrückung von »Abweichungen« ist anachronistisch und dient nur noch dem eigenen Sicherheitsbedürfnis. Es schwächt die eigene Position durch irrationale Säuberungen, Ausschlüsse und Fraktionierungen, statt sie durch rationale Diskussion zu stärken.

5.
Manipulation, zu deutsch Hand- oder Kunstgriff, heißt soviel wie zielbewusstes technisches Eingreifen in ein gegebenes Material. Wenn es sich um ein gesellschaftlich unmittelbar relevantes Eingreifen handelt, ist die Manipulation ein politischer Akt. Das ist in der Bewusstseins-Industrie prinzipiell der Fall.
Jeder Gebrauch der Medien setzt also Manipulation voraus. Die elementarsten Verfahren medialen Produzierens von der Wahl des Mediums selbst über Aufnahme, Schnitt, Synchronisation, Mischung bis hin zur Distribution sind allesamt Eingrifffe in das vorhandene Material. Ein unmanipuliertes Schreiben, Filmen und Senden gibt es nicht. Die Frage ist daher nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muss nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.
[...]

6. Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen; die Programme selbst sind immateriell und beliebig reproduzierbar. Damit stehen die elektronischen im Gegensatz zu älteren Medien wie dem Buch oder der Tafelmalerei, deren exklusiver Klassencharakter offensichtlich ist. Fernsehprogramme für privilegierte Gruppen sind zwar technisch denkbar (closed-circuit TV), aber strukturell widersinnig. Tendenziell heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien, damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz auf. Hier liegt einer der Gründe für das Ressentiment vermeintlicher Eliten gegen die Bewusstseins-Industrie. Der Geist, den sie gegen »Entpersönlichung« und »Vermassung« zu verteidigen trachten – je schneller sie ihn aufgeben, desto besser.

7. Die neuen Medien sind aktions- und nicht kontemplativ, augenblicks- und nicht traditionell orientiert. Ihr Zeitverhältnis ist dem der bürgerlichen Kultur, die Besitz will, also Dauer, am liebsten Ewigkeit, völlig konträr. Die Medien stellen keine Objekte her, die sich horten und versteigern ließen. Sie lösen »geistiges Eigentum« schlechthin auf und liquidieren das »Erbe«, das heißt, die klassenspezifische Weitergabe des immateriellen Kapitals.

Damit ist nicht gesagt, dass sie geschichtslos wären oder zum Schwund des geschichtlichen Bewusstseins beitrügen. Sie erlauben es im Gegenteil zum ersten Mal, historisches Material so zu fixieren, dass es jederzeit vergegenwärtigt werden kann. lndem sie dieses Material gegenwärtigen Zwecken zur Verfügung stellen, machen sie jedem Benutzer klar, dass Geschichtsschreibung immer Manipulation ist. Doch ist das Gedächtnis, das sie bereithalten, nicht einer Gelehrtenkaste vorbehalten. Es ist gesellschaftlich. Die gespeicherte Information steht dem Zugriff aller offen, und dieser Zugriff ist ebenso augenblicksbestimmt wie die Aufnahme. Es genügt, das Modell einer Privatbibliothek mit dem eines vergesellschaftlichten Speichergeräts zu vergleichen, um den strukturellen Unterschied beider Systeme zu erkennen.

8. Es ist falsch, Mediengeräte als bloße Konsumtionsmittel zu betrachten. Sie sind im Prinzip immer zugleich Produktionsmittel, und zwar, da sie sich in den Händen der Massen befinden, sozialisierte Produktionsmittel. Der Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten ist den elektronischen Medien nicht inhärent; er muss vielmehr durch ökonomische und administrative Vorkehrungen künstlich behauptet werden.
[...]
9. Schon aus den angegebenen strukturellen Eigenschaften der neuen Medien geht hervor, dass keines der heute herrschenden Regimes ihr Versprechen einlösen kann. Nur eine freie sozialistische Gesellschaft wird sie produktiv machen können. Ein weiteres Charakteristikum der avancierten Medien, wahrscheinlich das entscheidende, bestätigt diese Hypothese: nämlich ihre kollektive Struktur.
[...]

10. Eine jede sozialistische Strategie der Medien [muss] die Isolation
der einzelnen Teilnehmer am gesellschaftlichen Lern- und Produktionsprozess aufzuheben trachten. Das ist ohne Selbstorganisation der Beteiligten nicht möglich. Dies ist der politische Kern der Medienfrage. An ihm scheiden sich sozialistische von spätliberalen und technokratischen Auffassungen. Wer sich Emanzipation von einem wie auch immer strukturierten technologischen Gerät oder Gerätesystem verspricht, verfällt einen obskuren Fortschrittsglauben; wer sich einbildet, Medienfreiheit werde
sich von selbst einstellen, wenn nur jeder einzelne fleißig sende und empfange, geht einem Liberalismus auf den Leim, der unter zeitgenössischer Schminke mit der verwelkten Vorstellung von einer prästabilierten Harmonie der gesellschaftlichen Interessen hausieren geht.
[...]
11. [...]
Dennoch kündigt sich darin etwas anderes an. Der Konsum als spectacle verspricht das Verschwinden (des Mangels. Die attrappenhaften, brutalen und obszönen Züge dieses Festes rühren daher, dass von der realen Einlösung dieses Versprechens keine Rede sein kann. Solange aber der Mangel herrscht, bleibt der Gebrauchswert eine entscheidende Kategorie, die nur betrügerisch liquidiert werden kann. Doch ist ein Betrug von solchen Dimensionen nur denkbar, wenn er sich auf ein massenhaftes Bedürfnis einlässt. Dieses Bedürfnis, ein utopisches, ist vorhanden. Es ist das Verlangen nach einer neuen Ökologie, nach einer Entgrenzung der Umwelt, nach einer Ästhetik, die sich nicht auf die Sphäre des »Kunstschönen« beschränkt. Diese Wünsche sind nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, verinnerlichte Spielregeln des kapitalistischen Systems. Sie sind physiologisch verwurzelt und lassen sich nicht mehr unterdrücken. Die Schaustellung des Konsums ist eine parodistische Vorwegnahme einer utopischen Situation.
[...]

12. Zusammenfassung
Repressiver Mediengebrauch Emanzipatorischer Mediengebrauch
Zentral gesteuertes Programm Dezentralisierte Programme
Ein Sender, viele Empfänger Jeder Empfänger ein potentieller
Sender
Immobilisierung isolierter Individuen Mobilisierung der Massen
Passive Konsumentenhaltung Interaktion der Teilnehmer, feedback
Entpolitisierungsprozess Politischer Lernprozess
Produktion durch Spezialisten Kollektive Produktion
Kontrolle durch Eigentümer Gesellschaftliche Kontrolle durch
oder durch Bürokraten Selbstorganisation



Quelle: Lorenz Engell u.a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Deutsche Verlags-Anstalt , Stuttgart 2000