Hinweis: Wenn Sie diesen Text sehen, benutzen Sie einen Browser, der nicht die gängigen Web-Standards unterstützt. Deshalb wird das Design von Medien Kunst Netz nicht korrekt dargestellt. Die Inhalte selbst sind dennoch abrufbar. Für größtmöglichen Komfort und volle Funktionalität verwenden Sie bitte die empfohlenen Browser.
Deutsch English

Rudolf Frieling
»VT ≠ TV – Die Anfänge der Videokunst«

»Eines Tages werden Künstler mit Kondensatoren, Widerständen & Halbleitern arbeiten, so wie sie heute mit Pinseln, Violine & Abfall arbeiten.«
(Nam June Paik, »Elektronischer Videorecorder«)(1)

1963 in Wuppertal verpaßt die deutsche Presse die Geburtstunde der Videokunst: Nam June Paik erzeugt die ersten eigenständig bearbeiteten Fernsehbilder. Aber noch steht den Künstlern nur der Film zur Verfügung, um diese Prozesse zu dokumentieren. Zwar präfiguriert – eben noch auf Film – im gleichen Jahr Wolf Vostells Film »Sun in Your Head« als »Dé-coll/age« von Fernsehmaterial bereits eine spezifische Videoästhetik, doch als erster nutzt Paik 1965 den »Electronic Videorecorder«, um am selben Tag aufgenommene Bilder der Öffentlichkeit im New Yorker »Cafe Au GoGo« zu präsentieren. Zwischen Duchamps Readymades und der elaborierten Trennung in Aufnahme und Rezeption durch den filmischen Entwicklungsprozeß öffnet sich plötzlich ein Raum der »Instant-Kunst« mit bewegten Bildern. Von TV zu VT: das VideoTape fördert Paiks utopische Visionen zur zeitbezogenen Kunst – Visionen, die heute zu einem großen Teil Realität geworden sind. (2)
Mit jedem neuen Technik-Standard verbinden sich also nicht nur neue Hoffnungen auf künstlerische Freiräume, sondern auch eine Revolutionierung der Produktionsmittel. Dabei wird jeder Fortschritt der Elektronik noch heute zuerst in Japan und den USA in den Markt eingeführt, so daß die amerikanischen Künstler schon immer den Künstlern in Europa um einige Bandlängen voraus sind. Siegfried Zielinskis »Geschichte des Videorecorders« belegt dies detailliert. Videogeschichte ist Technikgeschichte, was bei Paik besonders eklatant in Form des Paik/Abe-Synthesizers zu erkennen ist. Aber Videogeschichte ist auch Technikmythos. Der Beginn des Videokunsttapes kann auf 1965 datiert werden, aber seit Jahrzehnten wird auch ein Zusammenhang postuliert mit der Einführung der legendären ersten tragbaren Halbzoll-Einheit von Sony, dem Portapak. Tatsächlich ist, wie Zielinski nachgewiesen hat,(3) das Gerät in Japan und den USA erst 1967 auf den Markt gekommen, so daß Paik 1965 ein anderes frühes, inzwischen vergessenes Halbzoll-Videoformat benutzt haben muß, während in Deutschland die Künstler sogar bis 1969 warten müssen, ehe Philips und Grundig Halbzoll-Geräte auf den Markt bringen – nach der Erstellung eines Prototyps von Grundig bereits 1965! Die deutsche Industrie verkennt, wie bereits bei der Preisgabe des Patents für den Tonfilm in den 20er Jahren, die Zeichen der Zeit. Bei den amerikanischen Sendern WGBH Boston und WNET 13 New York findet Paik nicht nur die Technik, sondern auch den nötigen Freiraum, um 2-Zoll Hi-Tech mit seiner Low-Tech Haltung zu verbinden: Nach der 4-stündigen Live-Sendung »Video Commune« 1970 produziert er mit »Global Groove« 1973 einen ersten fulminanten Höhepunkt des Videokunstbandes.
Fernsehen besitzt aber nicht nur die hochwertige Technologie, zu der die meisten Künstler keinen Zugang erhalten (oder suchen), sondern es definiert auch als Monopolist mit der »Sendefähigkeit« einen programmtechnischen Maßstab für die Definition eines Fernsehbildes im Gegensatz zum »Amateurvideo«. Sauberes, hochauflösendes Bild, wenig Bildrauschen – mit solchen noch unbezahlbaren technischen Standards kann der »wohltuend schlampige technische Zustand der heutigen Videokunst«, schreibt David Antin noch 1976 (4), nicht aufwarten. Allerdings liegt es auch nicht im Interesse der Künstler, die Glätte der Fernsehästhetik möglichst perfekt zu reproduzieren. Ihr Gegenmittel, die billige Halbzoll-Technologie mit den offenen Spulen, wirkt oft fehlerhaft, z.B. durch die Signalschwankungen in der Montage. Jedes Videobild stabilisiert sich nach einer Unterbrechung erst langsam vor unseren Augen und ein bildgenauer Schnitt bleibt lange ein vergebliches Unterfangen. Viel wichtiger ist aber, daß die billige Technologie künstlerische Unabhängigkeit ermöglicht. So sieht Friederike Pezold Anfang der 70er Jahre endlich die Stunde gekommen, sich vom Kameramann zu befreien, um autonom und direkt die Bildwiedergabe zu kontrollieren. Zu dieser Unabhängigkeit gehören, in einer Umkehrbeziehung zur brillanten Fernsehästhetik, die kontrastarmen, gräulichen Schwarz-weiß-Bilder, die noch den schillerndsten Fernsehstar verblichen wirken lassen. Gerade auch die extremen Längen und undramaturgischen, ungeschnittenen Bänder korrespondieren einer konzeptuellen Arbeitsweise, die nicht Zuschauergewohnheiten bedienen will, sondern nach einer anderen Wahrnehmung sucht bis hin zur provozierten Langeweile.
Von Anfang an reflektieren Künstler die medienspezifischen Aspekte, um das Potential des endlich in greifbare Nähe gerückten Mediums Video auszuloten – sei es in utopischer Sicht wie in Paiks Aphorismen oder aus erkenntnistheoretischer Perspektive. Peter Weibels theoretische Diskurse legen davon eindrücklich Zeugnis ab. Die Erforschung der medienspezifischen und kommunikativen Möglichkeiten, in technischer wie ästhetischer Hinsicht, geht er in Europa als erster an und reflektiert die dem ephemeren Medium Video inhärenten Eigenschaften systematisch. In seinem Text »Zur Philosophie von VTR« benennt er sie: 1. Synthetik – der ganze Bereich der elektronischen Bildmanipulation, 2. Transformation – der »psychedelische« Wechsel von konkreten, interpretierbaren Bildern und abstrakten Formen, 3. Selbstreferenz und 4. Instantzeit – die Komponenten eines 2-Wege-Kommunikationssystems (closed circuit, Videofeedback) und 5. Box – der Monitor von TV und VTR. Weibel sieht ihn als Schalter zu einem Maschinensystem im Gegensatz zum Projektionssystem des Kinos. Was in der Anfangszeit als medienspezifisches Essential der Videokunst gilt, hat sich allerdings nicht in jedem Fall bis heute gehalten. Während Paik mit der Einführung der ersten Videoprojektoren seinen Traum einer elektronischen Sixtinischen Kapelle begeistert näherrücken sieht (5), rechnen z.B. Wulf Herzogenrath und Peter Weibel 1974 die »Box«, also den Fernseher bzw. Monitor, emphatisch der »Videogrammatik« oder »Videologie« zu: Generalisierend bringt Weibel dennoch die Videotechnik etymologisch auf den Kunst-Begriff: »videokunst ist immer epistemisch. das griechische ›techne‹ bedeutet ›kunst‹. von ›eidos‹ (bild) zu ›idos‹ (idee) bis hin zu ›idein‹. von eidologie zu idologie und zur ideologie. idotechnik (die kunst des bildes) ist videotechnik ist videokunst, das heißt die kunst des sehens und erkennens!« (6)
Parallel zu seinem theoretischen Fundament setzt Weibel mit seinen Arbeiten von vornherein nicht auf ein anderes poetisches Erzählen mit dem linearen Videoband und dem Bildschirm als filmisch-assoziativem Versuchsfeld, sondern auf das kritische Potential des Mediums zur Offenlegung von Kommunikationsstrukturen. Damit beginnt auch die medienspezifische Untersuchung räumlicher Aspekte. Seine erste Videoinstallation, »Audience Exhibited«, 1969 in Wien realisiert, nutzt das Instant-Playback einer Closed-circuit-Installation, das Video immer auch als Überwachungssystem evoziert, sowie das zeitversetzte Playback durch den VTR (Videotaperecorder), um in einer Galerie das Publikum mit seinem Abbild zu konfrontieren. Sein die Aktivität des Zuschauers provozierendes Tape »The Endless Sandwich« mit dem Videofeedback eines TV-Zuschauers, dessen Fernsehbild plötzlich gestört wird, realisiert er ebenfalls 1969 in Wien. (7) Spätere systemkritische Arbeiten von ihm wie von Valie Export und Richard Kriesche verstehen sich als Störungen des »kodifizierten Systems« Fernsehen und nicht so sehr als eigenständige Videokunstbänder.
In Deutschland entsteht unter ähnlicher Prämisse 1972 »Projektion X« von Wolf (IMI) Knoebel, produziert von Gerry Schum: eine nächtliche Fahrt mit dem Auto durch eine Stadt, deren Silhouette nur durch eine Projektion eines Kreuzes in X-Form aus Licht in unterschiedlichen Graden sichtbar wird inklusive der typischen Nachzieheffekte der Röhrenvideokamera bei der Aufnahme von bewegtem Licht. Doch für Schum macht »nicht das System die Revolution, sondern das, was mit diesem System gezeigt wird«.(8) Das Videoobjekt im Sinne Schums erlaubt die Freiheit individueller Rezeption von Kunst im Unterschied zum Film mit fester Anfangszeit und muß sich auch räumlich vom Kontext Fernsehen emanzipieren. Der Fernseher rückt aus dem privaten Wohnambiente in die neutrale Galerie oder den öffentlichen Raum und wird zum Monitor, der in Endlosschleifen Kunst zeigt. Als meist konzeptuell genutztes Kunst-Stück wird so eine andere, eher kursorische Wahrnehmung evoziert, während sich die bildenden Künstler in Deutschland, im Unterschied zu den USA, wo auch Paik sowie die Vasulkas Grundlagenforschung und die Entwicklung spezifischer Synthesizer und Image Processors vorantreiben, kaum für videographische Ansätze interessieren.
Vom Fernsehen im Stich gelassen, setzen die deutschen Künstler ihre Hoffnungen zunächst nicht unbegründet auf die ihnen bekannten Institutionen: In der Kunsthalle Düsseldorf setzt »Project 71 – Projection« Video und Film von bildenden Künstlern in Szene (in problematischer Abgrenzung zum Experimentalfilm). Schum, der nach seiner Enttäuschung als »Fernsehgalerist« der erste »Videogalerist« Deutschlands wird und künstlerische Tapes auf den wichtigsten Ausstellungen Anfang der 70er Jahre vertreibt, fördert hierbei wie auch 1972 bei der »documenta 5« das Engagement von Museen durch technische Hilfen und Garantien für die Kunstwerke. (9) Im gleichen Jahr plant das Folkwang-Museum in Essen zunächst mit seiner Hilfe ein Videostudio für Künstler. Über die Nutzung werden sich die Parteien jedoch nicht einig. Erst nach Schums Tod wird das Studio eingerichtet, ohne daß es je für eine nennenswerte Produktion genutzt wird. Selbst hier überwiegt am Ende Skepsis gegenüber einer konsequenten Kunst durch Medien. Editionen mit handsignierten Videos für Sammler scheitern dagegen an ganz grundsätzlichen Vorbehalten der Käufer gegenüber dem flüchtigen Medium ohne Aura. Schum, der mit 35 Jahren 1973 früh stirbt, bleibt für lange Zeit der einzige, der sich an der Quadratur des Kreises, der Verbindung von Video und Kunstmarkt, versucht hat. Die einzige institutionelle Einrichtung von Dauer – die erste und damit heute älteste Sammlung von Videokunst als Videothek in der BRD – entsteht 1972 auf Initiative der Künstler Wolf Kahlen und Wolf Vostell im Neuen Berliner Kunstverein.
Die Geschichte der Medienkunst ist somit vor allem anhand der wichtigsten Ausstellungen zu dokumentieren: Im österreichischen Graz 1973 die Ausstellung »Trigon« unter dem Titel »audiovisuelle Botschaften« u.a. mit den ersten »interaktiven« Videoinstallationen – Valie Exports »Autohypnose« und Peter Weibels »Kruzifikation der Identität«; im Kölnischen Kunstverein »Prospekt ›74« – in Deutschland die erste größere Einführung in die verschiedensten Aspekte der Medienkunst europäischer wie amerikanischer Provenienz einschließlich Performances und am selben Ort 1976 die erste Retrospektive von Paik. Doch schon 1972 zur »documenta 5« trägt die Gruppe telewissen um Herbert Schuhmacher als erste die Idee einer Gegenöffentlichkeit buchstäblich vor die Tore der Kunsthallen (10). Vor dem Ausstellungsgebäude plazieren sie einen Transporter mit Videomonitor und Kamera, um durch direktes Feedback mit den Passanten kommunikative Situationen und »Mikro-Fernsehen« (11) herzustellen. Die Leute bleiben stehen: Das eigene Abbild zu sehen, ist Anfang der 70er Jahre noch keine Alltäglichkeit. Fünf Jahre später, zur »documenta 6«, wird sogar ein eigenes Videostudio eingerichtet, um den Prozeß der Ausstellung zu dokumentieren. Diese »Medien-documenta«, der Höhepunkt der »Gründerzeit« der Videokunst, deren Videoteil vom Mentor der Videokunst in Deutschland, Wulf Herzogenrath, kuratiert ist, stellt den Kristallisationspunkt der Videokunst als Gattung dar: Alternative Medienarbeit und Dokumentation stehen neben Konzeptkunst, Performances neben installativen Werken, die begrifflich hier in Skulptur, Objekt und Installation geschieden werden, und erstmals ist unter dem Motto VT ≠ TV eine repräsentative Videothek mit Bändern vornehmlich aus den USA und aus Deutschland zugänglich.
Was der elektronischen Musik in den 50er Jahren gelungen war, nämlich im Zuge der Erforschung einer spezifischen Akustik für Hörspiele ein weitergehendes Laboratorium innerhalb des Radios zu gründen, bleibt der elektronischen Bilderforschung in Deutschland jedoch leider verwehrt. Museen wie Akademien (12) scheuen substantielle Schützenhilfe finanzieller wie technischer Art. Eine aufwendige elektronische Bildbearbeitung, wie sie Paik schon 1973 mit »Global Groove« vorexerziert hat, steht hier nicht zur Verfügung. Künstler der ersten Zeit wie Vostell oder Kahlen, die das bewegte Bild für konzeptuelle Experimente nutzen, arbeiten zuerst mit Film und dann mit Video, um Ideen und Prozesse zu dokumentieren, jedoch nicht um das Medium zu erforschen. Jochen Gerz realisiert in der Zeit von 1972–75 seine »Six Pieces on Language«, die sich des Mediums bedienen, um gerade seine Grenzen offenzulegen und sperrige Bilder gegen die Verführung durch das elektronische Bild zu setzen. Ulrike Rosenbach, von »Project 71« und Schums Ideen inspiriert, beginnt 1972 als erste Künstlerin in Deutschland, sich auf das Medium einzulassen, sich selbst und den Körper modellhaft zu inszenieren und sich mit feministischen Videobändern und Performances einen Namen zu machen. »Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin« (1976) ist einer der ersten Klassiker der deutschen Videokunstgeschichte. Die eminent wichtige Rolle der Performances für die Videokunst dokumentiert zuvor bereits der erste Videokatalog zu den im Kontext von »Prospekt ›74« entstandenen Arbeiten. Die Verwendung eines Mischers, um Bilder zu überlagern, ist einer der wenigen verfügbaren technischen Tricks. Video ist hier im wesentlichen Aufzeichnung und Kontrolle dessen, was vor der Kamera stattfindet. So entdeckt die Malerin Nan Hoover 1975 das Malerwerkzeug Video – »Video als Bleistift« proklamiert John Baldessari – und beginnt im Studio vor der Kamera mit Licht und Körperumrissen erste suggestive Experimente einfachster elektronischer Malerei ohne Tricks und Bildbearbeitung.
Ganz ohne Kamera kommt die kritische und ironische Aneignung von Fremdmaterial mittels eines Videorecorders aus. Der englische Begriff »found footage« verdeutlicht, wie essentiell die Zufallsempfindsamkeit (serendipity) (13) zu einer videographischen Kunst aus zweiter Hand gehört. Bearbeitung visuellen Materials, »gefunden« im Fundus von Archiven, heißt im Kontext der Videokunst vor allem, daß sich Künstler das Fernsehen als ständig verfügbaren Fundus von Bildern verschiedenster Herkunft kritisch zueigen machen. Montage und Collage werden als Mittel eingesetzt, um das von der Terrorismusfurcht geprägte »Deutschland im Herbst« schonungslos zu konterkarieren. Beispiele sind die frühen Bänder von Marcel Odenbach, »Sich selbst bei Laune halten« (1975), und Klaus vom Bruch, »Das Schleyerband« (1977).(14) Kunst und politische Aktion gehen bei ihnen eine noch wirksame Verbindung ein. Zusammen mit Ulrike Rosenbach senden sie offensiv und illegal als ATV, Alternativ TV, aus dem Atelier in Köln, das zum Studio und Sender umfunktioniert wird, der im Umkreis von ein paar hundert Metern ein selbstproduziertes Fernsehprogramm sendet. »Mikrofernsehen« gegen das noch existierende staatliche Monopol und ein Akt anti-autoritäter Fernsehpiraterie von selbsternannten »Videorebellen«, ganz im Geist einer medialen Gegenöffentlichkeit, wie sie zu der Zeit auch von vielen privaten Radiosendern betrieben wird. Zur Analyse des Mediensystems Video tritt die Kritik am Herrschaftssystem, an dem das elektronische Bild durch Fernsehen und Werbung seinen Anteil hat.(15)
Aber vom Bruch, Odenbach und Rosenbach vergessen bei allem politischen Engagement nicht, daß sie auch im Kunstkontext wirken und wahrgenommen werden wollen. Die Museen und Galerien bleiben Adressaten ihrer Bänder, Performances und Installationen. Der Protest, ironisch in ein Videoband gekleidet, gegen die von Kasper König organisierte Ausstellung »Westkunst« 1981 in Köln, die den gesamten Bereich der Medienkunst ignoriert, markiert daher den Endpunkt der Hoffnungen und Utopien der 70er Jahre. Zwei Jahre zuvor hat Ingrid Oppenheim ihre Galerie, die die neuen Kunstgattungen Video und Performance mäzenatisch gefördert hat, aus finanziellen Gründen geschlossen. (14) Die im selben Jahr ausgerichteten »Videowochen Essen« im Folkwang-Museum können schon keine weitergehenden Impulse mehr vermitteln. Die euphorisch konsumierte Malerei der »Neuen Wilden« aus Deutschland, die nun für Jahre den Kunstmarkt dominiert, beginnt, die spröde Ästhetik der Konzeptkünstler und diskursiven Medienkünstler zu verdrängen. Die Gründerzeit der Videokunst ist vorbei, ohne daß das Medium sich institutionell wie im privaten Sektor etabliert hat. Obwohl der Durchbruch der Medienkunst nun noch fast ein Jahrzehnt dauern wird, sehen Ende der 70er bereits sowohl Weibel als auch Paik eine Zukunft für die Zeit-Kunst Video in ihrem Bezug zum Raum: »Der beste Teil von Cages Werk ist seine elektronische Musik LIVE, die eine komplette ZEIT-RAUM-Kunst ist, die niemals auf eine Audio- oder Videodisc gepreßt weden kann. Die Video-Hochkunst wird die Form der Videoinstallation annehmen, und eine Notationsform wird entwickelt werden, um bestimmte Kunstwerke zu ›überliefern‹«. (15)






(1) Siehe Text im Band »Medien Kunst Aktion«.
(2) Hier ist vor allem die frühe Vision über die elektronische Datenautobahn zu nennen, deren zentrale Passage in diesem Band den Epilog bildet.
(3) Siegfried Zielinski, »Zur Geschichte des Videorecorders«, Berlin, 1986, S.155.
(4) David Antin, »Die wesentlichen Charakteristika des Mediums« (1976), in: Bettina Gruber/Maria Vedder, »Kunst und Video. Internationale Entwicklung und Künstler«, Köln, 1983, S. 33; die Ausrüstung für einen sauberen Schnitt mit der Halbzoll-Technologie schätzt Antin auf $ 100.000!
(5) Vgl. Nam June Paik, »Elektronische Sixtinische Kapelle« (1976), in: ders., »Niederschriften eines Kulturnomaden«, a.a.O., S. 141 f.; 1993, auf der Biennale in Venedig, hat er diesen Traum endlich wahr werden lassen.
(6) Peter Weibel, »An Annotated Videography«, Innsbruck, 1977, Rückseite (Übersetzung R.F.)
(7) Uraufgeführt 1970 in London und erste TV-Ausstrahlung im ORF 1972 im Rahmen der Sendung »Impulse«.
(8) Interview mit Gerry Schum von Karl Otto Blase (1972) in: Katalog »documenta 6«, Kassel, 1977, S. 40; nolens volens akzeptiert Schum jedoch implizit eine Differenz in der Ökonomie der Kunstverbreitung, wenn im Sommer 1972 mit dem U-matic Standard in Deutschland endlich Videokassetten in den Markt eingeführt werden und somit neue Möglichkeiten der Konfektionierung von Videoobjekten in Editionen ermöglichen. In diesen Kontext gehören natürlich die vielfach zitierten Thesen Walter Benjamins über den Verlust der Aura und die Reproduzierbarkeit der Kunst.
(9) »Videotapes werden von uns mit wenigen Ausnahmen unlimitiert angeboten. Jedes Videoobjekt wird vom Künstler durch ein signiertes und numeriertes Zertifikat autorisiert. Im Interesse der Künstler werden wir die Objekte nicht verleihen, sondern nur verkaufen. Grundsätzlich bleibt das Copyright beim Künstler (...). Die Tapes werden bei uns in einer Art Garantieservice bei Vorlage des Zertifikats gegen neue Bänder, evtl. auf neuen Systemen, eingetauscht.« Gerry Schum, »Vertriebssystem von Videotapes«, Faltblatt 1971, unpaginiert, Slg. Staatsgalerie Stuttgart, Archiv Sohm.
(10) Zu Gegenöffentlichkeit und alternativer Medienarbeit siehe den Text von Gerd Roscher im vorliegenden Band.
(11) René Berger unterschied zwischen Makrofernsehen, nationalem Massenfernsehen, Mesofernsehen, regional begrenzten Reichweiten, und Mikrofernsehen, das ein Individuum für andere Individuen produziert.
(12) Die Düsseldorfer Akademie hat zwar Anfang der 70er Jahre eine Filmklasse unter dem Dänen Ole John, aber das Verdikt von Beuys, daß Medien wie Fotografie oder Video nur dokumentarische Funktion haben könnten, wirkt sich lange Zeit negativ aus. Erst Nam June Paik, der 1978 als erster zum Professor für Medienkunst berufen wird, nutzt seine Position auch für die Anschaffung des notwendigsten Equipments.
(13) »Cybernetic Serendipity« ist eine historisch wegweisende Ausstellung zu Computerkunst 1968 in London.
(14) Hanns-Martin Schleyer, Präsident des Arbeitgeberverbandes, wurde von den Terroristen der RAF 1977 entführt und ermordet – d. Red.
(15) Wie schon mit Bedauern im Vorwort angemerkt, die Herausgeber sind bei der Recherche zu signifikanten Medienkunstwerken in der DDR nicht fündig geworden. Es sollte jedoch wenigstens erwähnt werden, daß die Galerie Schweinebraden in Ost-Berlin Performances mit zwei Medienkünstlern Ende der 70er Jahre veranstaltet hat (Wolf Kahlen, Marcel Odenbach).
(16) Die Sammlung Oppenheim ist Anfang der 80er Jahre als Schenkung an das Kunstmuseum Bonn gegangen, wo sie als Teil des Museums ständig in einem eigenen Raum präsentiert wird.
(17) Nam June Paik (1993), a.a.O., S. 152; vgl. Peter Weibel, »Video als Raumkunst« (1977), abgedruckt in: »Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader«, Siegfried Zielinski (Hrsg.), Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris, S. 147–151.


Quelle: Rudolf Frieling, Dieter Daniels, Medien Kunst Interaktion – die 60er und 70er Jahre in Deutschland, Wien 1997, S. 115–121.