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Alea iacta est


von Mihai Nadin



"... Vollkommenheit wird letztendlich nicht dann erlangt, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn nichts mehr weggenommen werden kann."
Antoine de Saint-Exupéry

Band Structures
(1969) war meine erste Begegnung mit Manfred Mohr im Jahre 1975. Er ist ein Künstler, ich bin ein Theoretiker. Unser gemeinsames Interesse gilt der Semiotik und dem Computer. Und wahrscheinlich verbindet uns mehr: ein Faible für Paris und New York, beispielsweise; die Bewunderung für das provokatorische Schaffen von Max Bense; ein unbeirrbarer Forschungsdrang. Daher ist es wohl kaum ein Zufall, dass ich mir fast zur selben Zeit, als ihm Zugang zum Plotter des Institut Météorologique in Paris gewährt wurde, meinen eigenen Plotter improvisierte, um endlich die von mir per Computer erzeugten Bilder sehen zu können. Und deshalb gelangte ich wohl auch - nachdem ich einen besseren Einblick in sein Werk gewonnen hatte - zum Schluss, dass der etwas unglückliche Terminus Computerkünstler, der von vielen beansprucht wird, die weder Computerwissenschaftler noch Künstler sind, sich nicht auf ihn anwenden lässt.
Manfred Mohr bewegt sich in einem ästhetischen Raum ( um das Konzept Frieder Nakes zu verwenden), in welchem sich sein Talent in unverwechselbarer Weise entfalten kann. Eben diese Unverwechselbarkeit ist es, die mich veranlasst hat, über ihn zu schreiben und sein herausragendes OEuvre in einigen Artikeln und Vorlesungen öffentlich zu würdigen. In diesem Text möchte ich mich mit dem Aspekt des Zufalls in seinem Werk befassen. Allgegenwärtig und dennoch sehr schwer fassbar, geschweige denn ins Leben integrierbar, durchdringt der Zufall selbst die starrsten der uns bekannten Strukturen: die Mathematik, die Physik, die Genmutationen. Er schleicht sich auch in unsere Gedanken- und Gefühlswelt ein. Je hartnäckiger wir versuchen, ihm zu entgehen, desto subtiler umgarnt er uns. Man denke nur an die Zufallserscheinungen bei Projekten, die eine absolute Präzision erfordern - wie die Erforschung des Weltraums, des menschlichen Erbguts, des Geistes - und an die ungeahnten Perspektiven, die diese Zufälle eröffnen. Die Geschichte der zufälligen Entdeckungen ist auch viel eindrücklicher als jene der methodischen Forschung.
Mohr allerdings scheut den Zufall nicht, er lässt ihn vielmehr für sich arbeiten. So sehr der Zufall unser Leben auch durchdringt, wir wissen dennoch nicht sehr viel darüber. Als theoretisches Gebilde ist er von äusserst schillernder Wesensart. Als Realität in unserem Dasein lässt er das Leben oft wie eine riesige Lotterie erscheinen. Der Begriff aleatorisch, ein anderer Ausdruck für zufällig, ist etymologisch verwandt mit dem lateinischen alea iacta est, die Würfel sind gefallen. Nun, Manfred Mohr weiss einiges mehr über das Zufallsprinzip als jene, die Traktate darüber geschrieben haben. Seine erste " Studie " über den Zufall ergab ein bezauberndes Buch, Le Petit Livre de Nombres au Hasard (Paris 1971, Edition d'artiste), der Ausstoss eines Zufalls-Zahlengenerators. Dies ist konkrete Dichtung in Höchstform, nicht länger semantische Spielerei oder reine Wort-Bild Umsetzungen, sondern - mittels eleganter Kolonnensequenzen - die Verkörperung dessen, was Zufall bedeutet ( wohl auch das Element der Willkür miteinbezogen wird ): die Unmöglichkeit, aus dem Vorhergehenden auf das Nachfolgende zu schliessen. In gewisser Weise ist der Zufall eine Reaktion auf den Determinismus.
Als die potentielle Anwendung des Computers in der Kunst entdeckt wurde, herrschte die Meinung, dass Programme zwar die algorithmische Komponente der Kunst darzustellen vermögen, die Intuition hingegen nur durch das Zufallsprinzip gestaltet werden könne. Bense propagierte diese These ( in seinen Aesthetica ), ebenso seine gesamte " Stuttgarter Schule ". Jenseits des Atlantiks, in der Sprach- und Kommunikationsabteilung der Bell Laboratories, manipulierte A. Michael Noll Linien und Formen und liess den Zufalls-Zahlengenerator die eintönige Welt der Ordnung modulieren. Mein eigenes Interesse am Zufallsprinzip ist auf historisch anerkannte Beispiele der Permutationskunst zurückzuführen. ( Mozart ist mein liebstes Beispiel). Einen weiteren Einfluss übte Tristan Tzara aus, dessen provokatorisches und innovatives Genie den Dadaismus mit seinen vielen Auswirkungen auf die Ästhetik der Moderne und Postmoderne mit sich brachte. Jackson Pollock war eine dieser Auswirkungen. Doch während ich mich bemühte, eine kognitive Ästhetik gedanklich zu verwirklichen, schuf Manfred Mohr eine Kunst, welche die Idee in sich einband, die ich in der Theorie auszudrücken suchte. Natürlich liess sein Erfolg, selbst rückblickend, meine Bemühungen völlig nichtig erscheinen.
Was bedeutet also Mohrs Kunst im Hinblick auf die Umsetzung des Zufallprinzips von einer technischen in eine ästhetische Komponente? Mohr selbst hat seine Wurzeln im Action Painting ( allerdings nicht nur ). Sein Glück war es, dass sein künstlerisches Vorbild, K.R.H. Sonderborg, die Gabe besass, Abstraktes abzuleiten aus natürlichen Formen - die Quelle seiner schöpferischen Inspiration. Sonderborgs ausgeprägtes ästhetisches Intuitionsvermögen muss auf Mohrs Kunstverständnis einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben zu einer Zeit, als schöpferische Experimente gleichzusetzen waren mit Selbstverwirklichung. Ein Freund Mohrs, der Komponist Pierre Barbaud, verwendete Computer in der Musik; es faszinierte ihn, wie durch die Verarbeitung in Programmen die Subjektivität buchstäblich überschrieben werden konnte. Sicherlich liessen sich viele weitere Einflüsse finden, aber ich schreibe ja keine Biographie. Mein Hauptinteresse gilt der originell-eigenwilligen Verwendung von mathematischen Konzepten in einem grossen OEuvre, in welchem, für den Betrachter wie für den Künstler selbst, einzig die Kunst zählt. In der Tat wird der Betrachter in Manfred Mohrs Kompositionen nicht Programme, Computer, Zufalls-Zahlengeneratoren oder Algorithmen erkennen. Mohr veranschaulicht nicht die Technologie der Computergraphik oder gar die Funktionsweise von Zufalls-Zahlengeneratoren. Sein Werk ist nicht vom einfachen Gedanken getragen, mit Hilfe einer neuen Technologie jenes zu imitieren, was die alten Meister oder die Kitschproduzenten mit Stift und Pinsel innerhalb der Grenzen der ästhetischen Mimese schufen. Er interessiert sich nicht einmal für die Ideen der Konstruktivisten, Minimalisten oder von Künstlern anderer Richtungen, denen er von einigen Kritikern vorschnell zugeordnet wurde.
Manfrde Mohrs Kunst ist, abgesehen von seinen frühen Werken, das Ergebnis einer systematischen aber kreativen Erforschung der Welt der Geometrie, insbesondere der Linie und ihrer vielfältigen Erscheinungsformen im dreidimensionalen Würfel und in Hyperwürfeln mit variierenden Dimensionen. Für seine Forschungen verwendet der Künstler ein sehr effizientes Instrument - den Computer - , der eine gewaltige Zahl von Operationen ausführen und riesige Mengen von Bildern erzeugen kann. Doch all dies ist nur Teil einer ästhetischen Suche und nicht das Ziel selbst. Letztlich ist es ein gigantischer Versuch, im Universum der dimensionalen Relationen Elemente zu finden, die sich schliesslich zu ausdrucksstarken Einheiten verbinden. Am Ende der Suche entsteht eine relationale Einheit - ein Zeichen. Aber lassen Sie sich nicht durch die Terminologie täuschen. Mohr erzeugt Zeichen als Ausdruck seiner genauen Kenntnis des von ihm erforschten Raumes und seiner selbst, dem Forscher, der Kontinente nicht entdeckt, sondern vielmehr erschafft. Selbstverständlich ästhetische Kontinente. Es wird uns nicht gelingen, seine Methode und seine Vision voll und ganz zu verstehen, wenn wir uns nicht bewusst sind, was sein eigentliches Ziel ist - die expressive, synthetische Natur eines Zeichens wiederzugeben.
Um seine Forschungen vom Ballast psychologischer Muster zu befreien, spannt Manfred Mohr den Zufall buchstäblich für sich ein und lässt ihn auf die ausgewählten Forschungsobjekte einwirken. Eine wertfreie Selektion, das heisst eine von kulturell und psychologisch bedingten Zwängen und Vorurteilen unbelastete Auswahl ist nahezu unmöglich, wenn sie auf sogenannt subjektiven Kriterien beruht. Dies ist Teil seiner äusserst umfassenden Philosophie. Für Manfred Mohr bringt der Zufall paradoxerweise eben das wieder, was gewöhnlich im weiten Feld ästhetischer Selektionen eliminiert wird. Mohr äussert sich beispielsweise sehr eindeutig darüber, wie er mit dem stark überladenen Begriff und der Kultur der Symmetrie umgeht. Er legt auch dar, wie er mit Hilfe des Zufalls den Bereich jener Ausdrucksmöglichkeiten erforscht, die in der Kunst normalerweise als hässlich oder künstlerisch unattraktiv abgetan werden. Mit Hilfe des Zufallsprinzips zutage geförderte Richtungen werden analysiert. Manchmal scheint es, als sei es nicht das CPU, sondern vielmehr der Zufalls-Zahlengenerator, der den Computer steuert und die Auswahl trifft. Dieser Generator treibt gleichsam das Programm an, verleiht ihm unvorhergesehene Impulse und entrinnt dabei der eintönigen und ästhetisch stets unbefriedigenden deterministischen Starrheit. Dies ist nicht erstaunlich, denn Manfred Mohr trachtet nicht darnach, Kunst nachzuahmen oder Kunstobjekte zu kopieren. Deshalb benötigt er auch nicht alle Schikanen der Computergraphik. Sein eigentliches Ziel ist nicht Sache des Bildschirms oder des Druckers, sondern liegt in der Suche selbst. Anstelle von Pseudoeffekten bevorzugt er wirkungsvolle Durchbrüche in die Komplexität seines künstlerischen Forschungsgebietes.
Die Chaosforschung warf ein neues Licht auf das Konzept des Zufalls. Was auf den ersten Blick zufällig erschien, erwies sich, in manchen Fällen und in grösseren Zusammenhängen betrachtet, als ein grundlegend strukturiertes Phänomen. Bifurcations (Gabelungen) wurden sichtbar gemacht. Attraktoren, Verkörperungen eines inhärenten Ordnungssinns und eines übergeordneten Determinismus, tauchten in erläuternden Modellen der Physik, Biologie und Genetik auf. Selbstähnlichkeit trat als ausschlaggebendes Prinzip zutage, und fraktale Dimensionen änderten unser Weltbild. Beeinflusst all dies Manfred Mohrs künstlerische Perspektive? Stellt es sein Werk in ein anderes Licht? Ohne Zweifel. Seine Kunst ist streng in ihrer Ausdrucksform, doch gehört sie dem offenen System der ästhetischen Werte an. Wir diskutierten zusammen über all dies, wie auch über andere Komponenten seiner ästhetischen Forschungsmethode. Ich glaube, wir gehen beide darin einig, dass Zufalls-Zahlengeneratoren letztlich, wie man weiss, pseudo-zufällig arbeiten. Lässt man sie lange genug durchlaufen, fangen sie irgendwann an, genau jene Ordnung an den Tag zu legen, die man vermeiden wollte. Nach dieser Einführung der ganzen Terminologie komme ich auf eine andere Ebene von Mohrs künstlerischen Grundlagen zu sprechen. Nicht nur lehnt er es ab, sich Modeströmungen zu unterwerfen, er ist auch nicht bereit, sich als Wissenschaftler auszugeben.
Für Mohr ist seine ästhetische Suche eine weitere Form, sich Wissen anzueignen; eine Form, die sich zwar nicht immer komplementär zur Wissenschaft verhält, aber zweifellos gleichsam orthogonal zu ihr steht. Seine Kunst ist präzis und gleichzeitig äusserst ausdrucksstark. Nachdem er sich des Zufalls mittels üblicherweise verworfenen Assoziationen zur Eröffnung neuer Wege schöpferisch bedient hat, überlasst er beim endgültigen Kunstwerk nichts dem Zufall. In diesem Sinne bildet das Kunstwerk also eine Einheit aus all seinen Komponenten: der formalen, der kognitiven, der semiotischen und der künstlerisch-technischen Komponente.
Die Relevanz dieses einzigartigen Gepräges seiner Kunst wird deutlich, wenn man Mohrs wichtigste Schaffenszyklen betrachtet. Jeder Künstler durchläuft in der Regel eine sogenannte frühe Phase. Im hypothetischen catalogue raisonné des Mohrschen Werkes zeugt seine frühe Kunst weniger von einer Phase der Entdeckungen als der Selbstverwirklichung. Das Zufallselement in der intuitiven Suche erstreckt sich hier auf seine Methoden und Themenkreise, und der Gedanke an etwas wie einen Zufalls-Zahlengenerator liegt noch in weiter Ferne. Später wird die Subjektive Geometrie zum Sprungbrett für erste algorithmische Werke und führt zur Gründung seiner Ästhetik in den herausragenden Cubic Limit Serien. Der Künstler befindet sich in einem einzigartigen Zustand der Offenbarung. Seine primäre Struktur, der Würfel (den er als Metastruktur bezeichnet), gibt ihm die Möglichkeit, ein vielfältiges Universum zu erforschen sowie die Verwirklichung einer effizienten ästhetischen Kommunikation zu entmystifizieren. Die Klarheit seiner Formen ergibt sich aus der Erforschung der dem dreidimensionalen Erscheinungsbild zugrundeliegenden Struktur. Nichts bleibt der Willkür überlassen. Die Methode schliesst den Zufall mit ein in der Absicht, ästhetische Unabhängigkeit vom Stereotypen und Vorurteilsbehafteten zu erzielen.
Der Zufall wollte es, dass mich mein Beruf mit einem Künstler zusammenbrachte, David Brisson, den die Geometrie des Würfels und seine "Inkarnationen" jenseits des dreidimensionalen Raumes in ihren Bann gezogen hatten. Ich lernte auch einen Mathematiker kennen, Thomas Benchoff, der versuchte, den Würfel in vier, fünf und sechs Dimensionen darzustellen. Faszinierende Persönlichkeiten, faszinierende Themen, faszinierende Zeiten für unseren Wissensstand, der immer mehr vom Computer beherrscht wird. Während wir, die wir in einem dreidimensionalen Raum leben und arbeiten, uns mit der Vorstellung eines Würfels in vier oder mehr Dimensionen schwer tun, registriert der Computer Koordinaten, ohne sich durch menschliche Zeit- und Raumbegriffe stören zu lassen, und zeigt alles auf, was man ihm eingibt. Das Ergebnis sind fremd anmutende Bilder, die bewegt noch interessanter erscheinen. In den späten sechziger Jahren befasste sich auch der bereits erwähnte A. Michael Noll mit dem Hyperwürfel und entwickelte sogar Computertechniken, mit deren Hilfe n-dimensionale Hyperobjekte abgebildet werden konnten. Inspiriert wurde er von Flatland, Edwin Abbotts entzückender kleinen Geschichte zweier Welten verschiedener Dimensionen.
Doch dies alles gehört in den Bereich der Wissenschaft; es sind professionelle Vorstösse, um neue Dinge zu entdecken. Manfred Mohr ist grundsätzlich an etwas anderem interessiert. Und dieses andere setzt sich zusammen aus Dimensionen im allgemeinen, Dimensionen als Möglichkeiten, wie sie ein dreidimensionaler Würfel, aber auch ein vier-, fünf- oder gar sechsdimensionaler Würfel eröffnet. Jemand propagierte die These, dass die fünfte Dimension als "letzte geistige Instanz" betrachtet werden könnte. Wer weiss ? Bekannt ist jedenfalls, dass Einsteins Relativitätstheorie nur unter Beizug von Raumgeometrien mit sechs (und mehr) Dimensionen verstanden werden kann. In den von Mohr untersuchten Dimensionen liegt das Schwergewicht nicht auf der Mathematik, obwohl der relativistische Gedanke deutlich vorhanden ist. Sein eigentliches Ziel liegt in der Erzeugung jener synthetischen, äusserst kompakten Bedeutungsträger der Ästhetik, seiner unverwechselbaren Zeichen. Gleich von welchem Raum aus er forscht, er kehrt zu seinen "être-graphiques" in zwei Dimensionen zurück, semiotischen Elementen, die das Ergebnis von Erzeugnisprozessen sind. Komplexitäten in den von ihm erforschten Räumen werden nicht ausgeklammert, sondern in seine Zeichen integriert.
Jede Dimension wird bis zur Erschöpfung erforscht. Doch die eigentliche Arbeit liegt in der kreativen Suche, die nicht durch bereits bestehende Vorurteile oder persönliche Neigungen eingegrenzt wird. Immer wird ein Fenster geöffnet; der Würfel wird als Raum mit vielen Möglichkeiten betrachtet, gleich in welchen Dimensionen. Schnitte, Rotationen, Verschiebungen, ein komplettes Arsenal an Methoden (additiv, subtraktiv, nebeneinanderstellend usw.) zur Reduzierung des Bildes auf die wesentlichen Elemente wird angewandt. Der ganze Prozess wird vom hartnäckigen Entschluss getragen, dort Kunst herauszukristallisieren, wo nahezu jeder andere nur Bruchstücke oder nichtssagende Formen erkennen würde. Wären die Metaphern der Goldgräberei nicht schon so abgenützt, man könnte sie gut zur Beschreibung von Mohrs Arbeit verwenden. Die Zyklen Divisibility (dreidimensionaler Würfel), Dimensions (vierdimensional), Laserglyphs und Kontrapunkt (sechsdimensionaler Hyperwürfel) folgen ganz selbstverständlich aufeinander, doch jeder bringt versteckte ästhetische Möglichkeiten ans Licht. Um mit der Komplexität solch vieldimensionaler Räume umgehen zu können, verfeinert Mohr seine Forschungsstrategie durch die Verwendung des Zufalls. Dadurch verleiht die Forschung sogar dem endgültigen, beharrlichen Bild auf der Leinwand eine plastische Dimension. Ich behaupte, dass diese Dimension eine Folge der intensiven Suche ist und nicht einer dekorativen Eingebung zu verdanken ist.
Während all jene, die den Weg der Geometrie einschlagen irgendwann beim Dekorativen enden, vermeidet Manfred Mohr dies gerade deshalb, weil seine Forschungen dank dem Zufallsprinzip (oder ist es Chaos ?) von der Subjektivität befreit sind, die sich gewöhnlich in der dekorativen Kunst manifestiert. Der Zufall ist jedoch kein gestalterisches Prinzip, kein Ersatz für verlorene Spontaneität und mangelnde Improvisationsgabe im schöpferischen Akt. Er ist vielmehr richtunggebend in dem Sinne, als er Entdeckungen fördert. Als Forschungsmethode ahmt Mohrs Zufallsprinzip nicht länger Intuition und Spontaneität nach - ein dominanter Trend in der sogenannten Computerkunst - , sondern es lenkt nachgerade die Intuition. Der Zufall führt die Intuition jenseits der vom Künstler bewusst oder unbewusst gesetzten Grenzen, unbewusst wie wir alle sind in bezug auf Vorurteile, selbst dann, wenn wir unsere kreativen Kräfte mobilisieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Methoden und das Thema im Kunstwerk verschmelzen. Sie verleihen dem Werk seine Notwendigkeit, genauso wie in einem Zeichen die einzelnen Elemente zu einer Einheit zusammenfliessen. So wird deutlich, warum die Bilder, Tuschzeichnungen, Installationen und alles andere, was Mohr schafft, einen Eindruck der Einheit vermittelt. Das semiotische Hauptinteresse für die Zeichen überträgt seinen Werken nicht nur expressive, sondern auch kommunikative Funktionen. Obwohl der Zufall neue Wege eröffnet hat, liegt sein Beitrag zum ästhetischen Akt im Kunstwerk selbst und steht nicht im Konkurrenzverhältnis zu ihm. In mancher Hinsicht wird der schöpferische Akt selbst - Suche, Beurteilung, kritische Prüfung - zum endgültigen Kunstwerk. Die Sphäre, die Manfred Mohr erforscht, seine Methode und die vereinheitlichende Vision setzen dieser sich ewig wandlenden und stets herausfordernden menschlichen Projektion, die wir Kunst nennen, neue Grenzen.



Copyright by Prof. Dr. Mihai Nadin, aus Monographie 'Manfred Mohr', Waser Verlag Zürich 1994