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Deutsch

Walter Benjamin
»Der Autor als Produzent: Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934«

»Hier nimmt das epische Theater also – mit dem Prinzip der Unterbrechung nämlich – wie Sie wohl sehen, ein Verfahren auf, das Ihnen in den letzten Jahren aus Film und Rundfunk, Presse und Photografie geläufig ist. Ich spreche vom Verfahren der Montage: Das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert ist. Daß aber dieses Verfahren hier sein besonderes, ja vielleicht sein vollendetes Recht hat, darauf erlauben Sie mir einen kurzen Hinweis. Die Unterbrechung der Handlung, derentwegen Brecht sein Theater als das epische bezeichnet hat, wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion nämlich ist für ein Theater unbrauchbar, das vorhat, die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln. Am Ende, nicht am Anfang dieses Versuches, stehen aber die Zustände. Zustände, welcher in dieser oder jener Gestalt immer die unsrigen sind. Sie werden dem Zuschauer nicht nahe gebracht, sondern von ihm entfernt. Er erkennt sie als die wirklichen Zustände, nicht, wie auf dem Theater des Naturalismus, mit Süffisance, sondern mit Staunen. Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung der Abläufe. Nur, das die Unterbrechung hier nicht Reizcharakter, sondern eine organisierende Funktion hat. Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle. An einem Beispiel will ich Ihnen zeigen, wie Brechts Auffindung und Gestaltung des Gestischen nichts als eine Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem oft nur modischen Verfahren in ein menschliches Geschehen bedeutet. – Stellen Sie sich eine Familienszene vor: die Frau ist gerade im Begriff, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. In diesem Augenblick tritt ein Fremder ein. Der Vorgang ist unterbrochen; was an seiner Stelle zum Vorschein kommt, das ist der Zustand, auf welchen nun der Blick des Fremden stößt: verstörte Mienen, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. Es gibt aber einen Blick, vor dem auch die gewohnten Szenen des heutigen Daseins sich nicht viel anders ausnehmen. Das ist der Blick des epischen Dramatikers. Er stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk das dramatische Laboratorium gegenüber.«

Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934« in ders., Gesammelte Schriften, Bd II, Frankfurt/Main 1982, S. 697ff.