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Deutsch

Peter Bürger
»Theorie der Avantgarde«

»Die Montage von Bildern ist im Film das grundlegene technische Verfahren; es handelt sich nicht um eine spezifische künstlerische Technik, sondern um eine durch das Medium vorgegebene. Allerdings wird man Unterschiede im Gebrauch feststellen können: Es ist nicht dasselbe, ob natürliche Bewegungsabläufe fotografiert oder ob künstliche Bewegungsabläufe durch den Bildschnitt hergestellt werden (Beispiel: aus einem schlafenden, einem erwachenden und einem sich erhebenden Marmorlöwen zusammengeschnittene springende Steinlöwe in Panzerkreuzer Potemkin). Im ersten Fall werden zwar auch Einzelbilder „montiert“, aber der im Film entstehende Eindruck reproduziert nur illusionistisch den natürlichen Bewegungsablauf; im zweiten Fall dagegen wird der Bewegungseindruck überhaupt erst durch die Bildmontage hergestellt. (…) Eine Theorie der Avantgarde hat von dem Begriff der Montage auszugehen, wie er von den frühen kubistischen Collagen nahe gelegt wird. Wodurch diese sich von den seit der Renaissance entwickelten Techniken der Bildkonstitution unterscheiden, ist die Einfügung von Realitätsfragmenten in das Bild, d.h. von Materialien, die nicht durch das Subjekt des Künstlers bearbeitet worden sind. Damit wird aber die Einheit des Bildes als eines in allen Teilen von der Subjektivität des Künstlers geprägten Ganzen zerstört. Das Korbgeflecht, das Picasso in ein Bild klebt, mag noch so sehr im Hinblick auf eine kompositorische Intention ausgewählt sein; als Korbgeflecht bleibt es ein Stück Realität, das tel quel, ohne wesentliche Veränderung zu erfahren, dem Bild eingefügt wird. Damit wird ein Darstellungssystem, dass auf der Abbildung der Realität und d.h. auf dem Prinzip beruhte, dass das künstlerische Subjekt die Transposition der Wirklichkeit zu leisten habe, durchbrochen. Zwar begnügen sich die Kubisten nicht – wie wenig später Duchamp – damit, ein Stück Wirklichkeit bloß zu zeigen; aber sie verzichten auf die totale Durchgestaltung des Bildraumes als eines Kontinuums. Will man sich nicht damit zufrieden geben, das Prinzip, das eine über Jahrhunderte akzeptierte Technik der Bildgestaltung in Frage stellt, auf die Dimension einer Einsparung überflüssiger Anstrengung zu reduzieren, so geben vor allem Adornos Ausführungen über die Bedeutung der Montage für die moderne Kunst wichtige Anhaltspunkte zur Erfassung des Phänomens. Adorno notiert das Revolutionäre des neuen Verfahrens (die überanstrengte Metapher dürfte hier am Platz sein): „Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.“ (ÄT, S.323) Das organische Kunstwerk, das von Menschenhand gefertigt, doch wie Natur zu sein vorgibt, entwirft ein Bild der Versöhnung von Mensch und Natur. Das Eigentümliche des nicht-organischen Werks , das mit dem Prinzip der Montage arbeitet, besteht nun nach Adorno darin, dass es den Schein der Versöhnung nicht mehr erzeugt. Man wird der Adornoschen Einsicht auch dann zustimmen können, wenn man die dahinterstehende Philospohie nicht in allen Punkten zu teilen vermag. Die Einfügung von Realitätsfragmenten in das Kunstwerk verändert dieses grundlegend. Nicht nur verzichtet der Künstler auf die Gestaltung des Bildganzen; das Bild erhält auch einen anderen Status, denn Teile des Bilder stehen zur Wirklichkeit nicht mehr in dem für das organische Kunstwerk charakteristische Verhältnis: Sie verweisen nicht mehr als Zeichen auf die Wirklichkeit, sie sind Wirklichkeit. Ob man allerdings der künstlerischen Verfahrensweise der Montage auch eine politische Bedeutung wird zuschreiben können, wie Adorno es tut, ist fraglich. „Kunst will ihre Ohnmacht gegenüber der spätkapitalistischen Totalität eingestehen und deren Abschaffung inaugurieren“ (ÄT, S. 232). Dagegen spricht nicht nur die Tatsache, dass die Montage sowohl von den italienischen Futuristen verwendet worden ist, denen man keineswegs nachsagen kann, sie hätten den Kapitalismus abschaffen wollen, als auch von den russischen Avantgardisten nach der Oktoberrevolution, die in einer im Aufbau befindlichen sozialistischen Gesellschaft arbeiteten. Grundsätzlich ist es problematisch, einer Verfahrensweise eine feste Bedeutung zusprechen zu wollen. Hier ist das Vorgehen von Bloch angemessener, der davon ausgeht, dass in historisch verschiedenen Kontexten eine Verfahrensweise verschiedene Wirkungen haben kann. So unterscheidet er zwischen „Montage unmittelbar“ (d.h. im Spätkapitalismus) und „Montage mittelbar“ (d.h. in der sozialistische Gesellschaft). Selbst wenn die konkreten Bestimmungen, die Bloch von der Montage gibt, gelegentlich unscharf bleiben, so ist doch an der Einsicht festzuhalten, dass Verfahrensweisen nicht semantisch festlegbar sind auf eine ihnen ein für allemal zukommende Bedeutung. (…) Der Rezipient des avantgardistischen Werks macht die Erfahrung, dass sein an organischen Kunstwerken ausgebildetes Verfahren der Aneignung geistiger Objektivationen dem Gegenstand unangemessen ist. Weder erzeugt das avantgardistische Werk einen Gesamteindruck, der eine Sinndeutung erlaubt, noch lässt der möglicherweise sich einstellende Eindruck im Rückgang auf die Einzelteile sich klären, da diese nicht mehr einer Werkintention untergeordnet sind. Diese Versagung von Sinn erfährt der Rezipient als Schock. Ihn intendiert der avantgardistische Künstler, weil er daran die Hoffnung knüpft, der Rezipient werde durch diesen Entzug von Sinn auf die Fragwürdigkeit seiner eigenen Lebenspraxis und die Notwendigkeit, diese zu verändern, hingewiesen. Der Schock wird angestrebt als Stimulans einer Verhaltensänderung, er ist das Mittel, um dieästhetische Immanenz zu durchbrechen und eine Veränderung der Lebenspraxis des Rezipienten einzuleiten.«
, Frankfurt/Main, 1974, S.98-116.
Quellentext:
»Die Montage von Bildern ist im Film das grundlegene technische Verfahren; es handelt sich nicht um eine spezifische künstlerische Technik, sondern um eine durch das Medium vorgegebene. Allerdings wird man Unterschiede im Gebrauch feststellen können: Es ist nicht dasselbe, ob natürliche Bewegungsabläufe fotografiert oder ob künstliche Bewegungsabläufe durch den Bildschnitt hergestellt werden (Beispiel: aus einem schlafenden, einem erwachenden und einem sich erhebenden Marmorlöwen zusammengeschnittene springende Steinlöwe in Panzerkreuzer Potemkin). Im ersten Fall werden zwar auch Einzelbilder „montiert“, aber der im Film entstehende Eindruck reproduziert nur illusionistisch den natürlichen Bewegungsablauf; im zweiten Fall dagegen wird der Bewegungseindruck überhaupt erst durch die Bildmontage hergestellt. (…) Eine Theorie der Avantgarde hat von dem Begriff der Montage auszugehen, wie er von den frühen kubistischen Collagen nahe gelegt wird. Wodurch diese sich von den seit der Renaissance entwickelten Techniken der Bildkonstitution unterscheiden, ist die Einfügung von Realitätsfragmenten in das Bild, d.h. von Materialien, die nicht durch das Subjekt des Künstlers bearbeitet worden sind. Damit wird aber die Einheit des Bildes als eines in allen Teilen von der Subjektivität des Künstlers geprägten Ganzen zerstört. Das Korbgeflecht, das Picasso in ein Bild klebt, mag noch so sehr im Hinblick auf eine kompositorische Intention ausgewählt sein; als Korbgeflecht bleibt es ein Stück Realität, das tel quel, ohne wesentliche Veränderung zu erfahren, dem Bild eingefügt wird. Damit wird ein Darstellungssystem, dass auf der Abbildung der Realität und d.h. auf dem Prinzip beruhte, dass das künstlerische Subjekt die Transposition der Wirklichkeit zu leisten habe, durchbrochen. Zwar begnügen sich die Kubisten nicht – wie wenig später Duchamp – damit, ein Stück Wirklichkeit bloß zu zeigen; aber sie verzichten auf die totale Durchgestaltung des Bildraumes als eines Kontinuums. Will man sich nicht damit zufrieden geben, das Prinzip, das eine über Jahrhunderte akzeptierte Technik der Bildgestaltung in Frage stellt, auf die Dimension einer Einsparung überflüssiger Anstrengung zu reduzieren, so geben vor allem Adornos Ausführungen über die Bedeutung der Montage für die moderne Kunst wichtige Anhaltspunkte zur Erfassung des Phänomens. Adorno notiert das Revolutionäre des neuen Verfahrens (die überanstrengte Metapher dürfte hier am Platz sein): „Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.“ (ÄT, S.323) Das organische Kunstwerk, das von Menschenhand gefertigt, doch wie Natur zu sein vorgibt, entwirft ein Bild der Versöhnung von Mensch und Natur. Das Eigentümliche des nicht-organischen Werks , das mit dem Prinzip der Montage arbeitet, besteht nun nach Adorno darin, dass es den Schein der Versöhnung nicht mehr erzeugt. Man wird der Adornoschen Einsicht auch dann zustimmen können, wenn man die dahinterstehende Philospohie nicht in allen Punkten zu teilen vermag. Die Einfügung von Realitätsfragmenten in das Kunstwerk verändert dieses grundlegend. Nicht nur verzichtet der Künstler auf die Gestaltung des Bildganzen; das Bild erhält auch einen anderen Status, denn Teile des Bilder stehen zur Wirklichkeit nicht mehr in dem für das organische Kunstwerk charakteristische Verhältnis: Sie verweisen nicht mehr als Zeichen auf die Wirklichkeit, sie sind Wirklichkeit. Ob man allerdings der künstlerischen Verfahrensweise der Montage auch eine politische Bedeutung wird zuschreiben können, wie Adorno es tut, ist fraglich. „Kunst will ihre Ohnmacht gegenüber der spätkapitalistischen Totalität eingestehen und deren Abschaffung inaugurieren“ (ÄT, S. 232). Dagegen spricht nicht nur die Tatsache, dass die Montage sowohl von den italienischen Futuristen verwendet worden ist, denen man keineswegs nachsagen kann, sie hätten den Kapitalismus abschaffen wollen, als auch von den russischen Avantgardisten nach der Oktoberrevolution, die in einer im Aufbau befindlichen sozialistischen Gesellschaft arbeiteten. Grundsätzlich ist es problematisch, einer Verfahrensweise eine feste Bedeutung zusprechen zu wollen. Hier ist das Vorgehen von Bloch angemessener, der davon ausgeht, dass in historisch verschiedenen Kontexten eine Verfahrensweise verschiedene Wirkungen haben kann. So unterscheidet er zwischen „Montage unmittelbar“ (d.h. im Spätkapitalismus) und „Montage mittelbar“ (d.h. in der sozialistische Gesellschaft). Selbst wenn die konkreten Bestimmungen, die Bloch von der Montage gibt, gelegentlich unscharf bleiben, so ist doch an der Einsicht festzuhalten, dass Verfahrensweisen nicht semantisch festlegbar sind auf eine ihnen ein für allemal zukommende Bedeutung. (…) Der Rezipient des avantgardistischen Werks macht die Erfahrung, dass sein an organischen Kunstwerken ausgebildetes Verfahren der Aneignung geistiger Objektivationen dem Gegenstand unangemessen ist. Weder erzeugt das avantgardistische Werk einen Gesamteindruck, der eine Sinndeutung erlaubt, noch lässt der möglicherweise sich einstellende Eindruck im Rückgang auf die Einzelteile sich klären, da diese nicht mehr einer Werkintention untergeordnet sind. Diese Versagung von Sinn erfährt der Rezipient als Schock. Ihn intendiert der avantgardistische Künstler, weil er daran die Hoffnung knüpft, der Rezipient werde durch diesen Entzug von Sinn auf die Fragwürdigkeit seiner eigenen Lebenspraxis und die Notwendigkeit, diese zu verändern, hingewiesen. Der Schock wird angestrebt als Stimulans einer Verhaltensänderung, er ist das Mittel, um dieästhetische Immanenz zu durchbrechen und eine Veränderung der Lebenspraxis des Rezipienten einzuleiten.«

Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main, 1974, S.98-116.