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Deutsch

Velimir Chlebnikov
»Das Radio der Zukunft«

[Auszug]

Das Wort Rosta ist durch Verschmelzung der Anfangslaute folgender drei Wörter zu einem Ganzen entstanden: »Russische Telegraphen Agentur«. Die Menschheit hat genau dieselben 366 Tage wie der Höhlenmensch. Ihr ist es in ihren 365 Tagen zu eng; da sie das Jahr nicht dehnen kann, verzichtet sie auf lang klingende Wörter. In dieser Beziehung hat die russische Sprache einen kühnen Sprung getan, indem sie überging zu kurzen künstlichen Wörtern wie z. B. Rosta.
Die Rosta können wir in Zukunft vergleichen mit dem Bewußtsein des Menschen, mit seinem Hirn. Sie ist der einheitliche Willenspunkt des Volkes, der ihm, auf zahllosen Wegen und Strömen, seinen Willen zusendet und ihm Stöße und Schläge versetzt. Zur Zeit tobt ein grausamer Kampf, und die Rosta ist aufgerufen, an ihm teilzunehmen. Aber ihre Zukunft ist anders. Das Wachstum eröffnet der Rosta Aussichten auf unendliche Aufgaben.
Das Radio der Zukunft – der wichtigste Baum der Erkenntnis – wird der Wissenschaft eine Fülle von Aufgaben eröffnen und die Menschheit zusammenführen.
Neben der Radiohauptstation, diesem Schloß aus Eisen, um das Wolken aus Drähten wie Haare verstreut sind, werden wahrscheinlich ein Knochenpaar, ein Schädel und die bekannte Aufschrift: »Achtung« zu sehen sein, da die geringste Unterbrechung in der Arbeit des Radios die geistige Ohnmacht des ganzen Landes, den zeitweiligen Verlust seines Bewußtseins verursachen würde.
Das Radio wird zur geistigen Sonne des Landes, zu dessen großem Hexenmeister und Wundertäter werden.
Stellen wir uns die Radiohauptstation vor: in der Luft ein Spinnennetz aus Wegen, eine Wolke von verlöschenden und wieder aufflammenden Blitzen, die von einem Ende des Geländes zum anderen überspringen. Der dunkelblaue Ball eines Kugelblitzes, der wie ein ängstlicher Vogel in der Luft hängt, schräg gespannte Taue.
Von diesem Punkt des Erdballs aus werden, einem Vogelzug im Frühling gleich, Tag für Tag Schwärme von Nachrichten aus dem Leben des Geistes ausgesandt.
In diesem Strom aus Blitz-Vögeln wird der Geist die Gewalt, der gute Ratschlag die Drohung überwiegen.
Die Werke der Meister von Feder und Pinsel, die Entdeckungen der Meister des Gedankens (Mecnikov, Einstein), die die Menschheit plötzlich zu neuen Ufern tragen ...
Ratschläge zum einfachen Hausgebrauch werden mit Aufsätzen der schneebedeckten Gipfel des menschlichen Geistes abwechseln. Die Wellenkämme des Meeres der Wissenschaft breiten sich über das ganze Land hin zu den örtlichen Rundfunkstationen aus, um noch am selben Tag zu Buchstaben auf den dunklen Seiten der riesigen, die Häuser überragenden Bücher zu werden, die auf den Dorfplätzen emporgewachsen und langsam ihre Blätter wenden.

Radiolesesäle

Jene Bücher der Straße - sind die Lesesäle des Radios! Mit ihrem riesenhaften Umfang rahmen sie die Dörfer ein und lösen die Aufgaben der ganzen Menschheit. Radio hat eine Aufgabe gelöst, die das Gotteshaus als solches nicht zu lösen imstande war, und ist für jedes Dorf ebenso unentbehrlich geworden wie heutzutage eine Schule oder ein Lesesaal.
Die Aufgabe des Zusammenschlusses zu einer einigen Menschheitsseele, einer einigen Geisteswoge, die täglich das Land überzog und es über und über mit einem Regen aus wissenschaftlichen und künstlerischen Neuigkeiten besprengte, – diese Aufgabe wurde vom Radio, mit Hilfe des Blitzes, gelöst. Heute hat der Rundfunk auf den riesigen Schattenbüchern des Dorfs die Erzählung eines beliebten Schriftstellers, einen Artikel über die Potenzialbrüche des Raumes, die Beschreibung von einem Flug – und Nachrichten aus den Nachbarländern abgedruckt.
Jeder liest, was ihm Freude macht. Das Buch – ein und dasselbe für das ganze Land – steht in jedem Dorf, stets von einer Leserschar umringt, in strengem Satz gesetzt, der stumme Lesesaal der Dörfer. Soeben ist in schwarzem Druck auf den Büchern eine aufsehenerregende Nachricht aus der Wissenschaft erschienen: der Chemiker X., eine Berühmtheit im engen Kreise seiner Mitarbeiter, hat ein Verfahren zur Herstellung von Fleisch und Brot aus häufig vorkommenden Lehmsorten entdeckt.
Die Menge ist unruhig und fragt sich: was wird geschehen?
Erdbeben, Brände, Verwüstungen würden binnen 24.Stunden auf den Radiobüchern im Druck erscheinen. Das ganze Land wird von Radiostationen überzogen sein ...

Radiohörsäle

Der Eisenmund des Selbstsprechers verwandelt den eingefangenen und an ihn durchgegebenen Seegang der Blitze in schallende Umgangssprache, Gesang und menschliche Worte.
Das ganze Dorf ist versammelt, um zuzuhören.
Aus dem Mund der eisernen Trompete erschallen die Neuigkeiten des Tags, die Taten der Staatsmacht, Wetternachrichten, Nachrichten aus dem stürmischen Leben der Hauptstädte.
Es scheint, als würde irgendein Riese in einem riesenhaften Tage-Buch lesen; aber es war der Selbstsprecher; streng und genau verkündet er die Morgennachrichten, die der Leuchtturm der Hauptradiostation ins Dorf ausgesandt hatte.
Doch was war das? Woher kam dieser Strom, diese Flut von überirdischen Gesängen, Flügelschlag, Pfiffen und Zok-Zok-Lauten mit einem ganzen Silberstrom aus wundervollen, verrückten Glöckchen, der sich, zusammen mit dem Gesang von Kindern und Flügelrauschen, von dorther ergoß, wo es uns nicht gab? Über jeden Dorfplatz des Landes ergossen sich diese Stimmen, dieser silberne Regenguß. Herrliche Silberschellen strömten, mit Pfiffen, von oben herab. Waren es Himmelsklänge – Geister – die niedrig über die Hütte hinwegflogen? Nein ... Der Musorgskij der Zukunft gab einen Nationalabend mit seinen Werken, auf die Radiostationen im Luftraum zwischen Vladivostok und dem Baltikum gestützt, unter den blauen Wänden des Himmels ... An diesem Abend die Menschen betörend, sie seiner Seele teilhaftig werden lassend, und morgen ein gewöhnlicher Sterblicher! Er, der Künstler, verzauberte sein Land; schenkte ihm den Gesang des Meeres und das Pfeifen des Windes! In jedes Dorf und in jede Kate würde das göttliche Pfeifen und die ganze süße Wonne der Töne gelangen.


Das Radio und Ausstellungen

Warum drängen sich heute um die ungeheuren, feurigen Leinwände, die von Riesen aufgestellten Büchern gleichen, die Menschen der entlegenen Dörfer? Das Radio strahlt bunte Schatten über seine Apparate aus und läßt das ganze Land und jedes Dorf zu Besuchern einer Gemäldeausstellung der fernen Hauptstadt werden. Die Ausstellung wurde durch Lichtstöße übertragen und auf Tausenden von Spiegeln in jeder Radiostation reproduziert. Wenn das Radio einst das Ohr der Welt war, so war es jetzt das Auge, das keine Entfernungen kannte. Der Hauptleuchtturm des Radios sandte seine Strahlen aus, und die Moskauer Ausstellung mit Bildern der größten Maler erblühte auf den Blättern der Lesesäle in jedem Dorf dieses riesengroßen Landes, besuchte jeden bewohnten Punkt.


Radioklubs

Treten wir näher ... Stolze, in Wolken versinkende Wolkenkratzer, ein Schachspiel zwischen zwei Menschen an entgegengesetzten Punkten des Erdballs, ein angeregtes Gespräch zwischen einem Menschen in Amerika und einem Menschen in Europa . . . Jetzt wurde es in den Lesesälen dunkel; und plötzlich erklang das ferne Lied eines Sängers, mit eisernen Kehlen das Radio die Strahlen des Lieds an seine eisernen Sänger weiter: singe, Eisen! Und das ganze Land hatte teil an dem in Stille und Einsamkeit hinausgetragenen Wort, an seinem pulsierenden Quell.
Und die eisernen Instrumente des Radios werden sprechen und singen, seinen Willensstößen folgend, gefügiger als die Saiten unter den Händen eines Geigers.
Jedes Dorf wird Hörgeräte und eiserne Kehlen für eine Sinnesempfindung, und eiserne Augen für die andere haben.


Der große Zauberer
Und schließlich lernte man, Geschmacksempfindungen zu übertragen – zum einfachen, derben, aber gesunden Mittagsmahl strahlt das Radio Geschmacksträume aus, Vorstellungen von völlig anderen Geschmacksempfindungen.
Die Menschen werden Wasser trinken – aber glauben, Wein vor sich zu haben. Ein einfaches und sättigendes Mahl wird die Maske eines luxuriösen Festmahls anlegen ... Dies wird dem Radio noch größere Macht über das Bewußtsein des Landes verleihen ...
Selbst die Gerüche werden in Zukunft dem Willen des Radios untertan sein: im tiefen Winter wird der Honigduft einer Linde, mit dem Geruch des Schnees vermischt, ein echtes Geschenk des Radios an das Land sein.
Die Ärzte von heute hellen auf Entfernung, über einen Draht, mittels Suggestion. Das Radio der Zukunft wird auch als Arzt auftreten können, der ohne Arzneien heilt.
Und weiter:
Es ist bekannt, daß gewisse Laute, wie «Ija» oder «si», die Muskelkraft zuweilen um das Vierundsechzigfache erhöhen, durch Konzentration auf eine kurze Zeitspanne. In Zeiten erhöhter Arbeitsanstrengung, während der Ernte im Sommer, beim Bau von großen Gebäuden, werden diese Laute über das ganze Land ausgestrahlt werden und seine Kräfte um ein Vielfaches steigern. Und schließlich – die Einrichtung der Volksbildung wird in die Hände des Radios übergehen. Der Oberste Wissenschaftsrat wird Lektionen und Vorlesungen für alle Schulen des Landes – sowohl höhere wie Grundschulen – ausstrahlen.
Während dieser Vorlesungen wird der Lehrer nur Satellit sein. Tägliche Himmelsflüge von Aufgaben und Lehrbüchern zu den Dorfschulen des Landes, der Zusammenschluß seines Bewußtseins zu einem einigen Willen.
So wird das Radio ununterbrochene Glieder der Weltseele schmieden und die Menschheit zu einer Einheit verschmelzen.


Quelle: Chlebnikov, Velimir, »Das Radio der Zukunft«, 1921, in: ders.: Werke, Band II (Hg. Peter Urban), 1972 Reinbek bei Hamburg, S. 270–272.