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ThemenÄsthetik des DigitalenÄsthetische Paradigmen
Ästhetische Paradigmen der Medienkunst
Claudia Giannetti

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Die Definition der ›Kunst jenseits der Kunst‹ entspricht der Verneinung eines Kunstverständnisses, das sich auf akkumulative und historisch linear verlaufende Erkenntnisse stützt. Das Hauptinteresse gilt nicht länger der in der Moderne viel diskutierten Autonomie des Kunstwerks (wie es die zeitgenössische Kunst bereits voll assimiliert hat), sondern der Emanzipation der Kunst von der Kunst selbst. Das impliziert die Überwindung der allgemein üblichen Tendenz in der Moderne, sich mit den Argumenten eines Diskurses im Diskurs selbst auseinanderzusetzen. [1] Das bedeutet auch die Forderung nach einer ›Rekonstruktion des Bereichs‹ auf neuen Fundamenten, die einige seiner grundlegenden theoretischen Verallgemeinerungen und vieler seiner Methoden in Frage stellen.

Die bisherigen Ausführungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Erklärungen von Kunst sind konstitutiv weder reduktionistisch noch transzendental; die Funktion von Kunst besteht in der Ausweitung der Wirklichkeit(en), Kenntnisse und Erfahrungen; dieser Prozess kann dialogisch oder konsensuell verlaufen (durch Verführung) oder mittels Kanonisierung (durch Kontrolle oder Zwang). In derFolge werden weitere, speziell die Medienkunst betreffende Paradigmenwechsel untersucht.

Interdisziplinarität

In ihren verschiedensten Formen — von audiovisuellen Installationen bis zu interaktiven Systemen, von Hypermedia bis zur künstlichen Realität, vom Netz bis zum Cyberspace — bekräftigt die Medienkunst die Idee der ›Interdisziplinarität‹, die viel weiter greift als die bereits bekannten Überlegungen zur Beziehung von Kunst und Technologie. Wenn hier vom Ineinandergreifen von Kunst, Technologien und Wissenschaften die Rede ist, so ist damit jener Prozess gemeint, der Annäherung, Interferenz, Aneignung, Überschneidung und wechselseitiges Durchdringen bewirkt; ein Prozess, der fortschreitend zur Generierung von Bezugsnetzwerken und zu wechselseitigen — nicht hierarchischen — Beeinflussungen führt.

Ubiquität und Entmaterialisierung

Nach dem Verlassen konventioneller Räume wie Museen oder Galerien und der Vereinnahmung öffentlicher Orte, Straßen, Städte, Landschaften (unter anderem Land Art, Performance, Happening) ist es zweifellos dem Einsatz der so genannten neuen Medien — wie den Telekommunikationssystemen — zu verdanken, dass die räumlich-zeitliche sowie materielle Ausweitung eine tiefgreifendere Bedeutung von Ubiquität (die Möglichkeit, zu jeder Zeit beziehungsweise simultan an allen Orten präsent zu sein), Entmaterialisierung (die Unabhängigkeit von der physisch-materiellen Existenz des Objekts) und Partizipation (die Verwendung der interaktiven Netzwerkressourcen) erlangt.

Bei allen ab den 1970er Jahren entwickelten Telekommunikationsprojekten — wie zum Beispiel jenen der Satellitenkunst [2] — handelt es sich, im Grunde genommen, um Versuche, das Medium in ein Meta-Medium für die Kunst zu transformieren, das ihre räumliche und zeitliche Ubiquität erlaubt. Hieraus bezieht beispielsweise Nam June Paik die Idee zur Schaffung eines Werkes, das simultan an verschiedenen Orten entstehen soll, wie er es schon 1961 in der Partitur »Do it yourself« beschrieben hat. Aus Paiks Bemühen um die Realisation einer Meta-Kommunikation resultieren seine bedeutendsten Beiträge zu Projekten der Satellitenkunst, wie seine 1977 durchgeführte Satellitendirektübertragung »Nine Minutes Live« von Performances in Europa und den USA bei der Eröffnung der Documenta 6 in Kassel und das 1984 vom Centre Pompidou zusammen mit der Fernsehgesellschaft WNET-TV organisierte Projekt »Good Morning Mr. Orwell«, in welchem es Paik gelingt, nicht nur ein simultanes, sondern auch ein partizipatives Satellitenliveprogramm zu realisieren. Die Satellitenkunst sollte laut Paik zum wichtigsten nicht-materiellen Werk der postindustriellen Gesellschaft werden. [3]

In den 1970er Jahren erhalten Kunst in Verbindung mit Telekommunikation und die Idee der Ubiquität entscheidende Impulse, als sich international neue Projekte herausbilden. Einer der Pioniere der Computerkunst, der Brasilianer Waldemar Cordeiro, [4] sieht 1971 die Ursache für die Krise in der zeitgenössischen Kunst in der Unzulänglichkeit der Kommunikationsmedien als Form von Informationsübertragung sowie in der Ineffizienz von Information als Sprache, Denken und Handeln. [5] In seinem Manifest Arteônica [6] behauptet Cordeiro, dass eine Kunst, die ihr Hauptaugenmerk auf das materielle Objekt richte, den Zugang des Publikums zum Werk beschränke und dadurch weder qualitativ noch quantitativ den kulturellen Ansprüchen der modernen Gesellschaft gerecht würde. Die Idee von Ubiquität, Partizipation und Netzkunst wird durch die Überlegungen Cordeiros bezüglich einer globalen Vernetzung und eines freien Zugangs des Publikums zum Kunstwerk mittels Telekommunikation vorweggenommen.

Das Hauptinteresse jener Zeit gilt der Auseinandersetzung mit Methodologien und Strategien, die eine praktische Umsetzung dieser Ideen ermöglichen. Eines der ersten Experimente dieser Art in Spanien ist das Projekt von Antonio Muntadas »Cadaqués Canal Local« (1974). Ein anderes interessantes Beispiel ist die Livesatellitenübertragung der Aktion »Two Way-Demo« aus dem Jahr 1977, die eine Gruppe um Willoughby Sharp, Liza Bear, Sharon Grace und Carl Loeffler organisiert und bei der verschiedene Künstler an zwei entfernten Orten — New York und San Francisco — live in Verbindunggebracht werden.

Bei vielen Experimenten im Bereich der Telecommunication Art sind nicht die rein ästhetischen Resultate von Bedeutung, sondern die innovativen Vorschläge zur Entwicklung anders gearteter kreativer und sozialer Formen im Umgang mit neuen Medien. Das ist das Ziel des Projekts »Die Welt in 24 Stunden«, entworfen von Robert Adrian X für das Ars Electronica Festival 1982 in Linz. Nach Robert Adrian X haben diese Arbeiten durch die Teleübertragung ihren Objektcharakter aufgegeben und sind so zu »dokumentarischen Spuren eines Handelns« geworden. Andere Projekte wie »Electronic Cafe International«, 1984 von Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz anlässlich des Olympic Arts Festival von Los Angeles entwickelt, oder »Piazza Virtuale« (1992) von der Gruppe Ponton/Van Gogh TV versuchen die Idee von Zusammentreffen und Dialog mit und zwischen dem Publikum zu verstärken. Somit ist es das Publikum, das in einem ständigen Fluss die ›Inhalte‹ der Werke interaktiv generiert. Das Fehlen von Richtlinien und Anweisungen, Moderatoren und Sprechern, vorgefertigten Skripts und Konzepten hat äußerst dynamische Effekte zur Folge. Die Absicht von Van Gogh TV ist es gerade, diese Effekte einer nicht-linearen und nicht-diskursiven Informationsproduktion zu generieren und ein nicht-kommerzielles interaktives Fernsehen zu schaffen, das vollkommen von korporativen Macht- oder Kontrollsystemen abgekoppelt ist. Die User erfüllen somit eine zweifache Funktion: Sie sind gleichzeitig Publikum, Mitwirkende und Akteure. Dies impliziert eine Doppelrolle zum einen als Beobachter des ablaufenden ›Spektakels‹ und als Mitgestalter der Information. Sie sind User und zur gleichen Zeit Erzeuger des Netze.

Ein repräsentativer Teil telematischer Projekte berücksichtigt diesen netzspezifischen Charakter der Userteilnahme, was auch größtenteils ihre konzeptuelle und ästhetische Entwicklung bestimmt. [7] Ein wesentlicher Grundzug der Webkunst-Arbeiten ist die hypertextuelle, nicht-lineare Netzstruktur, die die Vorgehensweise der Bewegung (Navigation) des Users in das Projekt durch Anklicken von Links und Scrollen determiniert. So wird keine direkte Intervention der Betrachter im Werk zugelassen, da das Überspringen von Seiten programmierte Änderungen auslöst — einProzess, der in Bezug auf die Ausdrucksweise meist weniger experimentell und in Bezug auf das ›Surfen‹ eher trivial ist oder zu formalen ästhetizistischen Tendenzen (Webformalismus) führt. Im Gegensatz zu diesen Arbeiten sind Netzkunst (net.art) oder Networkprojekte technisch, konzeptuell und funktional vom Netzdispositiv und von der Userteilnahme abhängig, die durch technische Mittel sowohl im System als auch im Prozess Änderungen bewirken und eigene Beträge einbeziehen kann.

Die Version der Arbeit »Z« aus dem Jahre 2003 von Antoni Abad sucht ein Kommunikationsnetz zu schaffen, das sich unabhängig von einem zentralen Server ausbreitet. Jede Fliege ist Empfänger und Server zugleich. Am Ende des Projektes wird der Quellencode an horizontale Gemeinschaften verteilt, die am Aufbau von Kommunikationsnetzen und der verteilten Information interessiert sind. Das Neue an dieser Art von Arbeiten liegt in der Idee, dass Künstler oder Werk nicht mehr die alleinigen Nukleationspunkte von Rezeption und Transmission sind, sondern dass die Verbreitung des Codes in Form eines Agenten die User zu den Knotenpunkten von Wechselbeziehungen und Multiplikatoren macht. Die Existenz der Agenten und User als Nexus hängt somit von ihrer wechselseitigen Kommunikation ab. Daraus ergeben sich neuartige und spezifische Fragen zum Network und zum System sowie zu dessen Ästhetik, die durch die Umgestaltung des auf Individualismus im Netz gründenden Sozialitätsmodells zu einem selbstorganisierten Gemeinschaftsbewusstsein geformt wird. Um diese Wirkung zu erzielen, entscheidet sich der Künstler bewusst für den Verlust der Kontrolle über sein Werk und für deren Übertragung auf den User, was Aktion und Intervention für die Performance und Erweiterung des Systems betrifft. Andererseits hängt die Kontinuität des Werkes von der Interkommunikation zwischen den Usern und von der progressiven Generierung einer flexiblen, netzförmigen Architektur von Kontakten ab, die die Plattform verbreitet und immer neue Gemeinschaften generiert.

Dieser komplexe Prozess und die Erfahrung der Beweglichkeit und Veränderlichkeit wirken direkt auf die Wirklichkeits- und Materialitätsbegriffe, die genauso flexibel, veränderlich und virtualisierbar werden. Das Netz ist ein anschauliches Beispiel für die Vielzahl derWirklichkeiten und für die Tendenz zur Umwandlung oder Simulation des Realen im virtuellen Raum (›virtuell‹ hier im Sinne von Wirklichkeit aufhebend). Die fließende und spielerische Erfahrung in diesem Raum verstärkt das Gefühl von Zeitlosigkeit und Immaterialität. Beim Betrachten verschiedener künstlerischer Projekte fürs Internet wird offenkundig, dass die Subversion des Wirklichkeitsbegriffs eines derjenigen Themen ist, mit dem sich die Künstler am häufigsten auseinandersetzen. Auch Chats, MUDs sowie virtuelle Städte und Plätze können als Plattform für die Kreation von künstlichen Realitäten betrachtet werden.

Die jüngsten Abhandlungen bezüglich der ›Ästhetik der Entmaterialisierung‹, und hier speziell einer ›Ästhetik der Verschwindens‹ — wie beispielsweise bei Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard, Johannes Birringer, Paul Virilio, Peter Weibel, Vilém Flusser und Peter Zec — verweisen trotz verschiedenster Diskrepanzen einvernehmlich auf den »chronokratischen Prozess« (Peter Weibel) in der aktuellen Gesellschaft und dessen Auswirkungen auf die menschliche Zeitwahrnehmung, die künstliche Beschleunigung, die körperliche und materielle Desintegration und die räumliche Simulation.

In seiner emblematischen Ausstellung [8] von 1985 im Centre Pompidou in Paris setzt sich Jean-François Lyotard intensiv mit diesem Prozess auseinander, der zu den von ihm so benannten ›Immaterialien‹ führt. Die Ausstellung »Les Immatériaux« versucht, die Art der Veränderung aufzuzeigen, die die Beziehung zwischen Mensch und Materie von der modernen Tradition — ihrerseits Erbe der cartesianischen — bis hin zur Postmoderne mit ihren ›neuen Materialien‹ vor allem im Bereich der Technowissenschaften, Informatik und Elektronik erfahren hat. In dem Interaktionsprozess verschwinde das Material, so Lyotard, als unabhängige Einheit (elektronische Wellen, Klangwellen, Lichtwellen, Elementarteilchen). Das Prinzip der operationalen Struktur basiert somit nicht auf einer stabilen ›Substanz‹, sondern auf einer Reihe von instabilen Interaktionen. Zu dem Immaterialen gesellen sich neue Interaktionsprozesse, die die Art, wie man in der Welt agiert, verändern und somit auch die menschlichen Projekte selbst (Kunst, Philosophie, Soziologie, Wissenschaft).

Paul Virilio und Peter Weibel beschreiben diesen Entmaterialisierungsprozess als eine ›Ära der Absenz‹, die eine Ästhetik hervorbringe, die auf dem ›Absum‹ [9] , in seiner Bedeutung von Ferne und räumlicher Distanz, sowie dem Mangel, dem Verlust und der Dematerialisierung basiere. Die Medienkunst nimmt die Erfahrungen der ersten künstlerischen Anzeichen auf, in denen eine Ästhetik der Absenz [10] erkennbar wird — besonders seit 1945 (Fontana, Manzoni, Klein, Cage und andere bereits Erwähnte) —, sowie die Tendenz zur Entmaterialisierung des künstlerischen Objekts und andere Strategien der Immaterialität, die sowohl die Kunst als auch die Theorie der 1960er und 1970er Jahre dominieren (wie es Frank Popper 1975 in seinem Buch »Le déclin de l'objet« analysiert, das bereits auf den Prozess der Entmaterialisierung und Auflösung des Kunstobjekts hinweist). Betrachtet man die von den Technologien vorangetriebenen Veränderungen, so kommen diese Erfahrungen noch deutlicher zum Ausdruck.

Dass Botschaften ohne Botschaftsträger zirkulieren — kodifiziert und mittels elektromagnetischer Wellen — beziehungsweise dass Zeichen und Informationen körperlos mit einer Geschwindigkeit um die Welt reisen, die es ihnen erlaubt, praktisch allgegenwärtig und simultan präsent zu sein, sind nach Peter Weibel die Ursache dafür, dass die Welt und der Mensch einen Prozess der Relativierung erleben, aufgrund dessen sich der Zustand der Dinge selbst verändert. Wenn die Verdoppelung von Raum und Zeit durch Simulation die wirkliche Zeit und den natürlichen Raum in austauschbare Größen verkehre, dann stelle dies, so Weibel, auch den Körper selbst in Frage. Die Telematik erlaubt dem Körper zum Beispiel die allgegenwärtige Telepräsenz, solange die physische Abwesenheit garantiert ist. Durch technologische Transformation und künstliche Prothese entfernt sich der Körper als zentrales Element für das Verstehen von Wirklichkeit allmählich von seiner historischen Repräsentation. Auch wenn der Körper im Netz aus physikalischer Sicht durch seine Abwesenheit charakterisiert ist, so kann er doch symbolisch oder imaginär durchaus ›präsent‹ sein.

Als Beispiel für diesen Prozess steht die so genannte Telepräsenz- Kunst. [11] Diese untersucht die Möglichkeiten telematischer Medien und telerobotischer [12] Technologien hinsichtlich derEntwicklung von Koexistenzformen im realen und virtuellen Raum von Aktionen, die synchron von Künstlern und Usern ausgeführt werden und durch ihre doppelte Präsenz gekennzeichnet sind: physisch und immateriell. Hier sei das Werk »Rara Avis« (1996) angeführt, eine Telepräsenz-Installation des Künstlers Eduardo Kac, die sowohl physisch am Ausstellungsort der Installation als auch telematisch im Internet existiert. Dies impliziert zwei Arten von Mitwirkung: lokal mittels der Verwendung einer Datenbrille und aus der Ferne über das Netz. Das Netzkunstwerk »Bodyscan« (1997) von Eva Wohlgemuth ist ein anderes Beispiel für den Bedeutungsverlust der (biologischen) Materie als Wirklichkeitsparadigma. Es besteht aus dem Bild des digitalisierten Körpers der Künstlerin, der durch den Zugang der Besucher zu ihrem Inneren zu ›leben‹ beginnt. Das Transformieren des Körpers in eine virtuell-topografische Zone, in ein Forschungsfeld, steht zudem im Einklang mit postbiologischen Ideen, die von verschiedenen Künstlern vertreten werden.

Der Künstler Stelarc schlägt den Übergang des biologischen Individuums zum »Cybersystem» durch ein neues Körperprojekt vor, das heißt durch ein neues Projekt des Menschlichen. Die Anwendung biokompatibler Mikrotechnologie am und im menschlichen Körper ermögliche es, biologische Grenzen zu durchbrechen. Die Technologie wird immer unsichtbarer, je weiter sie ins Körperinnere eindringt. Während bei den »chirurgischen Performances« der französischen Künstlerin Orlan der Angriff auf die körperliche Integrität durch die Mikrochirurgie die ›Oberfläche‹ des Körpers formt und die Identifikation von Subjekt und Körper, Schein und Identität attackiert, beruht er im Falle Stelarcs auf der Ausweitung der Gliedmaßen- und Organfunktionen durch technische Instrumente. Seine »Metaformances« [13] implizieren notwendigerweise die Performance (in ihrer wörtlichen Bedeutung im Englischen) der von ihm verwendeten technischen Prothesen. In Arbeiten wie »Ping Body« (1995—1998) verschwindet der Körper als Handlungsinstrument: der (virtuelle) Phantom-Körper, der (physisch abwesend sich beteiligende) User und die Maschine realisieren die Metaformance über Internet. »Ping Body« ist insofern ein gutes Beispiel für extreme Abwesenheit, da der Körper zu einem hohlen Element wird, zu einem Gastgeber-Körper, der sich denProjektionen und dem Eingreifen von aus der Distanz Mitwirkenden anbietet.

Durch die Schaffung eines Körpers im Netz, der von Internetusern ›bewohnt‹ und manipuliert werden kann, entwirft Stelarc letztendlich eine neue Konzeption von Identität und vom Bewusstsein der eigenen Wirklichkeit: Der Körper ist Subjekt und Objekt zugleich; er ist nicht länger ein geschlossenes funktionales System, sondern Empfangsmedium und Interface zwischen Subjekt und Beobachter, Subjekt und Kontext, Subjekt und Maschine.

Diese Entmaterialisierungsprozesse (des Körpers, des Subjekts) wirken sich aus anderer Perspektive auf die Konzepte von Wirklichkeit und Wahrheit aus. Hinsichtlich der Kunst sind Restrukturierung und Neubestimmung dieser drei Grundkonzepte — Subjekt (Körper), Wirklichkeit und Wahrheit — die Prämissen für eine ästhetische Bewertung der Medienkunst. Originalität versus Multiplizität und Simulation Die tiefgreifenden Veränderungen der Kunst durch die digitale Technologie wirken sich auf die Produktions- und Übertragungsform von Information aus. Jedes Pixel ist berechen- und transformierbar, so dass Bilder und Klänge beliebig modifiziert werden können. Der Dokumentations- beziehungsweise Wahrheitsgehalt des Bildes geht somit durch die Möglichkeiten digitaler Manipulation verloren, womit notwendigerweise die Fragen zur Authentizität und Referenzialität der digitalen Bilder neu zu formulieren sind. Der entscheidende Bruch mit den Modellen westlicher Kultur, die durch Sequenzialität und Originalität (beziehungsweise Nicht-Reproduzierbarkeit) des Kunstwerks gekennzeichnet sind, kann als eine dem technologischen Prozess — und hier besonders dem der Digitalisierung — inhärente Veränderung betrachtet werden.

Die diesem Prozess innewohnende Infragestellung der Originalität führt zur Veränderung des Begriffs von Autor und Autorenschaft. Die Herausbildung des Mythos vom Original war eng mit der Anwendung von Begriffen wie geistigem Eigentum, Genie, Individualität oder Einzigartigkeit in Bezug auf künstlerisches Schaffen verbunden. Die ›Superstition‹ des Jahrhunderts — wie Nietzsche den ›Aberglauben vom Genie‹ bezeichnet — hat unter anderem mit Kant und seiner Bestätigung der unmittelbaren Beziehungzwischen Originalität und Genialität Aufnahme in den ästhetischen Diskurs gefunden, der sich bis heute teilweise so erhalten hat. Aus der neuen Perspektive der digitalen Kreation wird man sich nun bewusst, dass die Frage nach der Originalität jeder Problemstellung mit utopischen Begriffen ausweicht. Diese machen sich während des ganzen 20. Jahrhunderts bemerkbar, so zum Beispiel in der oftmals zitierten auratischen Theorie Walter Benjamins, in der er sich des Begriffs ›Aura‹ [14] als ästhetischer Metapher bedient, um seine These vom künstlerischen Verfallsprozess im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zu stützen. Der Verlust der Aura durch den Prozess der Sozialisierung bedeutet somit das Ende einer elitären Ästhetik, was — so Benjamin — zur bedauernswerten Verdrängung des Wertes der Tradition aus dem kulturellen Erbe führe. [15] Die Klage über den Verlust der Aura kommt der nostalgischen Klage über den Verlust des mythisch-romantischen Werts von Authentizität in Verbindung mit der individuellen (manuellen, direkten und genialen) Kreation gleich, eine Haltung, die in der bürgerlich-intellektuellen Tradition stark verwurzelt ist.

Betrachtet man das Argument Benjamins, wonach die technische Reproduktion des Werks für den ›Verfall‹ der Aura verantwortlich sei, erkennt man den Widerspruch seiner Hypothese. Die ›Aura‹ ist eine Kategorie der Wahrnehmung und kann folglich nur im Rezeptionsprozess entstehen; sie ist weder der Originalität oder Authentizität noch der Einmaligkeit der Werkkreation inhärent, das heißt, sie ist nicht an die Materie oder das Objekt gebunden, sondern ist beobachterabhängig. Im Rezeptionsprozess ist die Einmaligkeit oder Vielfältigkeit des Objekts eine praktische Frage bezüglich des Zugangs zum Kunstwerk. Und gerade an diesen Zugang richtet sich die Kritik Benjamins. Der massenhaften Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen entgegen, behauptet Benjamin, [16] und verweist damit auf zweierlei Folgen: zum einen die Erosion des Mythos von der intellektuellen ›Exklusivität‹ der Kunst und zum anderen die Angst vor der Ausnutzung kultureller Produkte seitens autoritärer Regime als Mittel zur Kontrolle der Massen.

Mit der Einführung neuer Technologien zur Simulation des Schaffensprozesses werden die Einwände gegen das Originalitätsdenken nochexpliziter. Hierfür steht das KI-Programm »Aaron« als paradigmatisches Beispiel. Der englische Künstler Harold Cohen hat ein praktisches Argument geliefert, das eine andere Problematik im Zusammenhang mit Autorenschaft und Authentizität aufzeigt. Cohen hat das Kunstexpertensystem »Aaron« entwickelt, das darauf spezialisiert ist, Arbeiten mit einem ›eigenen‹ Stil hervorzubringen. [17]

Mit seiner polemischen Frage: »Können Maschinen denken?« — mit der Alan Turing praktisch die Philosophie der Künstlichen Intelligenz initiiert — versucht er, der Beziehung zwischen Simulation und realem Handeln auf den Grund zu gehen. Zudem eröffnet er die Diskussion über die Möglichkeit, einen theoretischen Versuch zu erarbeiten, der als Entscheidungskriterium dienen könnte, ob ein Computer zum Denken fähig ist oder nicht (das Turing- Theorem). Das Hauptaugenmerk, das die Forschung seitdem im Bereich der künstlichen Intelligenz leitet, gilt — wenn man es so kurz fassen kann — der Frage nach dem Simulakrum, die sich in zwei fundamentale Themen teilt: einerseits die Simulation als Phänomen, dessen Eigenschaften sich denen des Simulierten nur annähern — man spräche in diesem Fall von ›Pseudosimulation‹ —, und andererseits die Simulation als eine exakte Kopie des Simulierten, mit dem einzigen Unterschied, künstlich erzeugt worden zu sein. Der Ausgangspunkt für die Untersuchungen im KI-Bereich ist die Frage, ob die technische Reproduktion des menschlichen Denkens eine Simulation und somit mehr als eine Pseudosimulation sein kann. Die Frage im spezifischen Fall von »Aaron« wäre demnach, ob das Programm als Simulakrum des Künstlers ebenso wie Cohen als Künstler betrachtet werden könnte. Würde diese Frage bejaht, wäre die nächstfolgende: Kann ein Computer kreative Fähigkeit im ästhetischen Sinn simulieren? Ab den 1960er Jahren ist dies ein zentraler Diskussionspunkt bei Computerkünstlern und Theoretikern (Frieder Nake, Abraham A. Moles und anderen). Auch wenn es sich, historisch gesehen, nicht um eine aktuelle Diskussion handelt, so erhält sie dennoch gegenwärtig neue Impulse durch die wachsenden Möglichkeiten der KI-Systeme sowie ihrer immer häufigeren Anwendung in Werken der Medienkunst.

Die KI-Spezialistin Margaret A. Boden hat sichin den letzten Jahren mit der Untersuchung der Beziehung zwischen Informatik und Kreativität sowie der Frage beschäftigt, inwieweit ein Computerprogramm kreative Ideen generieren könnte. Zuallererst müsse man die Bedeutung des Begriffs Kreativität klären, der nach Boden in der Fähigkeit von Personen bestehe, kreative, das heißt, neue, überraschende und bedeutende Ideen zu produzieren. Die Parameter ›neu‹ und ›überraschend‹ seien von KI-Systemen wie »Aaron« leicht erfüllbar, da sich das Programm bei seinen Tätigkeiten auf ästhetische Parameter beziehungsweise zufällige und überraschende Transformationen stütze. Schwieriger werde es mit dem Bedeutungskriterium, denn das Dilemma bestehe darin, dass man Ideen aus einer ganzen Reihe von Gründen als bedeutungsvoll oder -los bezeichnen könne und diese Gründe von Ort und Zeit abhängig seien. [18] Die Frage wäre somit, ob ein Computer selbst den Wert seiner Produktion erkennen könnte. Für Boden sind zwei Problemstellungen denkbar: Zum einen könnte man sich fragen, ob man in das Programm (als adäquat erachtete) Evaluationskriterien mit einbeziehen könnte, damit es diese automatisch auf seine eigenen neuen Ideen anwende; zum anderen, ob das Programm selbst dazu imstande sein könnte, real und eigenständig den Wert einzuschätzen. [19]

Wie bekannt, existieren künstlerische Computerprogramme, die über bestimmte Evaluationskriterien verfügen, ja sogar selbst je nach Erfolg ihrer Arbeiten neue Werte entwickeln können (wie zum Beispiel in Systemen künstlichen Lebens oder Programmen, die über heuristische Methoden zur Veränderung konzeptueller Bereiche verfügen oder sogar ihre Heuristik selbst ändern können). Die Hauptanalyse würde sich somit auf die Intentionalität und das Bewusstsein konzentrieren, das heißt auf die Frage, ob Computer wirklich wissen können, was sie machen, wenn sie ihr Werk beurteilen. Es besteht kein Zweifel, dass »Aaron« über seine Produktion nicht nachdenken kann, auch fehlt ihm jeder reale als auch virtuelle kausale Bezug zur externen Welt. Aber genauso wie Programme, die heuristische, spezialisierte oder verallgemeinerte Methoden anwenden und ihren eigenen Verarbeitungsmodus untersuchen und verändern können, wäre es nicht abwegig anzunehmen,dass ein Programm dieser Art zur Kunstproduktion fähig wäre. All diese Fragen eindeutig zu beantworten, ist noch nicht möglich, und viele andere Fragen sind noch nicht einmal klar formuliert. Doch das Interesse dieser Debatte beruht zum einen auf der Infragestellung von Begriffen wie Künstler, Autorenschaft, Originalität, Kunstwerk, Kreativität, Bewusstsein in Bezug auf den Wert der Kreation und ihrer künstlerischen Bedeutung sowie zum anderen auf der Auseinandersetzung mit kognitiven Prozessen, die bei der künstlerischen Kreation und Realisierung eine Rolle spielen.

Autor und Rezipient

Das postmoderne Denken hinterfragt den Sinn der Begriffe Autor und Rezipient, doch ist das Interesse an diesem Thema weder so zeitgenössisch noch so postmodern, wie man gewöhnlich zu verstehen gibt. Der von den jüngsten Erben des hegelianischen Denkens verkündete ›Tod des Autors‹ ist zwar polemisch, aber dieser Ansatz kann nur verstanden werden, wenn er im weiteren Kontext der Forschung des 20. Jahrhunderts zur Funktion von Autor und Rezipient betrachtet wird. In diesem Zusammenhang kommt dem russischen Literaturkritiker Michail M. Bachtin (1895—1975), der bis in die 1970er Jahre unbeachtet blieb und heute als einer der repräsentativsten Literaturtheoretiker gilt, ein besonderer Stellenwert zu. Als scharfer Kritiker des Formalismus vertritt er die gleichrangige Bedeutung von Autor und Werkrezipient sowie eine viel weiter gefasste Konzeption der ästhetischen Dimension, da er sie als eine dialogische in den Gesamtkontext kultureller, philosophischer und historischer Praxis stellt. Sein Aufsatz über das Autorenproblem, von dem nur Teile erhalten sind, wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre geschrieben, jedoch erst 1975 auf Russisch veröffentlicht. Die vorhandenen Fragmente können aber über die Grundideen Bachtins Aufschluss geben, und obwohl sich seine Überlegungen auf die Literatur beziehen, sind sie auch auf andere Kunstbereiche übertragbar. Bachtin stellt zunächst die Bedeutung in Frage, die man gewöhnlich dem ›Material‹ beimisst, mit dem der Autor arbeitet: der Sprache. Ein Dichter schaffe nicht in der Welt der Sprache, er benutze sie lediglich. Die von seinem Hauptanliegen bestimmte künstlerische Arbeit könne im Hinblick aufdas Mittel als »Überwindung des Materials« bezeichnet werden. [20] Dieser Ansatz gleicht besonders zwei, mit der Tradition brechenden Positionen, auf die im vorigen Abschnitt bereits hingewiesen wurde: erstens der Kritik am zentralen Stellenwert des Objekts und der Materie im ästhetischen Diskurs; zweitens der Informationstheorie und ihrem übergroßen Interesse am Zeichen. Laut Bachtin soll man nicht den technischen Apparat, sondern die immanente Logik des Schaffens verstehen. Überhaupt muss der Kontext, in dem sich der kreative Akt vollzieht, in Betracht gezogen werden. Mit anderen Worten, das Prädominieren der Materie beziehungsweise der Form reduziere die künstlerische Arbeit auf eine sekundäre und determinierte Etappe. Nach der ›Überwindung des Materials‹ hat gleichermaßen eine Neubestimmung der Rolle von Autor und Rezipient zu erfolgen. Bachtin führt somit die Frage nach der ›Krise der Autorenschaft‹ ein. Seines Erachtens sei die Krise des Autors nicht ausschließlich im Zusammenhang mit dem Individuum und dessen Schaffensbereich zu sehen, sondern impliziere die Neubestimmung des eigentlichen ›Ortes‹ der Kunst innerhalb der Kultur. Das Ziel des Künstlers sei ja nicht, andere Künstler, sondern die Kunst selbst zu übertreffen. Für Bachtin steht diese Krise in Beziehung zur Ablehnung des Kulturdeterminismus. Derart ließe sich eine Brücke von seinem Denken zur Idee der ›Kunst jenseits der Kunst‹ schlagen. Der Autor wird als ein dem Kunstwerk inhärenter Teil betrachtet, der sich im Rezeptionsprozess des Publikums widerspiegelt. Ausgehend vom Werkgeschehen, müsse er folglich vor allem als dessen Mitwirkender betrachtet werden.

In seinen Schriften von 1970—1971 setzt sich Bachtin expliziter mit der Idee vom aktiven Rezipienten auseinander, der am Werkgeschehen Anteil hat. Nach Bachtin könne man den Prozess des Lesens und Erfassens eines Werkes nicht als einfache Übersetzung der Sprache eines anderen in die eigene verstehen, da das Verstehen des Lesers in dessen Fähigkeit bestehe, das Werk zu vervollständigen. Es sei somit eine aktive und kreative Tätigkeit, bei der sich der verstehende Rezipient dem Werk annähere, und zwar ausgehend von seinem eigenen Standpunkt mit seiner eigenen Weltsicht und seinen persönlichen Einstellungen. Der Akt des Lesens werde somit zu einem Akt ›kreativerMitwirkung‹. Einmal mehr überrascht Bachtin durch die Vorwegnahme späterer Theorien: Er sieht den Rezipienten nicht nur als Mitwirkenden am kreativen Akt, er bewertet den Vorgang selbst als ›Interaktion‹. Kunst eröffne sich dem Rezipienten mittels eines interaktiven Prozesses, der im kokreativen Prozess der Werkrezeption Gestalt gewinnt. Diese Merkmale werden ersichtlich in dem auf Streamingvideo basierenden Online-Werk »In death’s dream kingdom« von Iván Marino. Der Autor schafft einen audiovisuellen Hypertext, der sich durch eine komplexe Handlung videographischer Fragmente herausbildet. Das Werk stellt eine inhaltlich in den Videos angegangene Dichotomie zwischen der Erzählkonstruktion seitens der User und der Dekonstruktion von Sprache und Wahrnehmung her. Der Versuch, das Chaos zu ordnen, schafft keine neue Erzählung, sondern eine Art Navigationsunfälle, die es dem Benutzer ermöglichen, neue Formen der Inhalte miteinander zu verbinden. So strukturiert Marino die audiovisuelle Information auf verschiedenen Ebenen und macht durch das Interface alle im Network aktiven User sichtbar. Die meisten Theorien, die sich mit den Begriffen Autor und Rezipient auseinandersetzen, beruhen auf zwei gemeinsamen Annahmen: erstens auf dem zentralen Stellenwert des Diskurses über das definierte Objekt und zweitens auf der Annahme, dass das Objekt Träger von Bedeutung sei beziehungsweise der Rezipient ihm eine bestimmte Bedeutung zuerkennen könne. Beide Grundannahmen werden durch neue Interpretationen, die mit der Entwicklung der Medienkunst speziell im interaktiven und telematischen Bereich entstanden sind, in Frage gestellt.

Meta-Autor und Interaktor

Partizipative Kunstwerke erlauben dem Betrachter den Zugang zur kreativen Erfahrung nicht allein über den kognitiven Weg — wie es die Rezeptionsästhetik nahe legt —, sondern auch explizit über das Handeln. Die kybernetische Kunst schlägt auf der Grundlage bidirektionaler Kommunikationstheorien eine Neubestimmung der ›passiven‹ Haltung des Betrachters dem Kunstwerk gegenüber vor. Partizipative Kunst bemüht sich in erster Linie um die Öffnung des Kunstwerks für die Intervention des Betrachters. Interaktive digitale Systeme sind diesbezüglich nochradikaler: In diesen komplexen, offenen und pluridimensionalen Systemen agiert der Rezipient, hier ›Interaktor‹ [21] genannt, nicht nur mental im Raum des Kunstwerks, sondern übernimmt zudem eine fundamental-praktische Rolle beim eigentlichen Wirksamwerden des Werks. Sowohl der aktive Prozess zur Integration des Betrachters als auch die Besonderheiten des interaktiven digitalen Systems führen zu neuen Fragestellungen hinsichtlich ästhetischer Paradigmen und regen zudem die theoretische Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Kreation und Rezeption sowie mit der Funktion des Rezipienten und der Bedeutung des Autors an.

Eine radikale Ausweitung des konzeptuellen Rahmens, wie sie die Medienkunst erfordert, impliziert auch bedeutende Veränderungen in der Wahrnehmungsform, die diese Art von Werken hervorruft. Der nordamerikanische Künstler Myron Krueger, einer der Vorläufer der interaktiven Kunst, beginnt seine Arbeit in diesem Bereich mit der Absicht, jene Veränderungen der Wahrnehmung zu untersuchen, die interaktive Systeme beim Betrachter auslösen könnten. Das Hauptinteresse Kruegers besteht darin, der Beziehung zwischen Mensch und Computer nachzugehen; einem Phänomen, das er für die Gegenwart als eines der signifikantesten erachtet. Nach dem Studium der Computerwissenschaft entdeckt er, dass man bei der Erforschung der Möglichkeiten der Mensch-Maschine-Schnittstelle nicht von strikt technischen oder wissenschaftlichen, sondern eher von ästhetischen Methoden auszugehen habe.

Sein erstes reaktives Environment »Glowflow« (1969 zusammen mit einer Gruppe von Künstlern und Technikern entwickelt) bietet den Besuchern die Möglichkeit, visuelle und auditive Parameter im Raum durch druckempfindliche Sensoren zu verändern. Aufgrund des großen Publikumsandrangs im Ausstellungsraum ist das System permanent aktiv und niemand bemerkt, dass es auf die Präsenz einzelner Personen reagiert. Dieser Fehler erlaubt es Krueger zu erkennen, dass es, genau genommen, nicht das Ziel sei, interaktive Kunst zu schaffen, sondern das interaktive Computersystem in eine dem Publikum zugängliche und verständliche künstlerische Form zu bringen. Von daher ist es nötig, die traditionellen, rein ästhetischenInteressen der Schaffung einer interaktiven Beziehung zwischen Werk und Betrachter — als Interaktor — unterzuordnen. Dies bedeutet zugleich die Neubestimmung der drei grundlegenden Bereiche Wahrnehmung, Ausstellungsweise und Struktur.

Bei einer solch reaktiven Installation ist die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung fundamental, denn das Werk muss auf das menschliche Verhalten reagieren, folglich die Handlung des Interaktors korrekt ›interpretieren‹; auch ist es wichtig, dass sich das Publikum der Reaktionsmöglichkeiten des Werkes bewusst wird, um das Angebot des Kunstwerks zum Dialog richtig annehmen zu können. Dem System und dem Rezipienten kommt so eine neue Dimension zu: die im Werk benutzte Computertechnik muss die vom Publikum übermittelten Botschaften erfassen, ›wahrnehmen‹, verarbeiten und entsprechend erwidern. Der Betrachter tritt in direkten Kontakt zum Kunstwerk und modifiziert es durch sein Handeln. Entscheidend ist die Tatsache, dass es sich dabei um eine direkte, oft intuitive und funktionale Intervention handelt, im Gegensatz zur intellektuellen Dimension der ›modellhaften‹ oder ›impliziten‹ Rezipienten, über die bereits gesprochen wurde.

Ein flexibles Werk, das die Integration des Publikums ermöglicht, muss notwendigerweise über eine offene Struktur verfügen, die diesen Zugang erlaubt. Dies bedeutet eine Distanzierung vom definierten und abgeschlossenen Strukturmodell des ›traditionellen‹ Kunstwerks. Interaktive Kunst bricht mit dem stabilen, objekthaften und vom Künstler abgeschlossenen System (siehe Margarita Schultz, »Instabilität, eine Ästhetik der digitalen Produktionen«), mit einem System, das in der westlichen Kultur und ihren künstlerischen Ausdrucksformen vorherrscht. Letztendlich geht es darum, einen Kanal zum Informationsaustausch zwischen Kunstwerk, Betrachter und Kontext zu schaffen, der ein dialogisches Netz bilden kann, das offen genug ist, um nicht nur Daten zirkulieren zu lassen, sondern auch Kommunikation zu ermöglichen.

Das Beispiel des Nexus zwischen Harald Cohen und »Aaron« verdeutlicht diese komplexe Situation des Werkschöpfers im Zusammenhang mit technologischen Produktionsprozessen, die wiederum direkt oderindirekt die Art der Werkrezeption beeinflussen. Die Frage, ›wer‹ der Autor des Werks ist, führt unausweichlich zu einer Ausweitung des Autorenbegriffs. Verschiedene Theoretiker, unter ihnen Douglas Hofstadter, sprechen von einem ›Meta-Autor‹ als dem Autor des Autors des Resultates. Bei Cohen ist das Programm »Aaron« der Autor des Resultats; folglich kann man das Programm als Autor der generierten Werke und Cohen, den Schöpfer des Systems »Aaron«, als Meta-Autor bezeichnen. Nach Hofstadter gebührt dem Menschen das Verdienst, das Programm erfunden zu haben, nicht aber jene vom Programm entwickelten Ideen hervorgebracht zu haben. [22]

Auch interaktive Werke, bei denen die aktive Mitwirkung des Interaktors ein konstituierendes Element im eigentlichen Prozess der Werkgenerierung ist, lassen einen ähnlichen Entwicklungsprozess erkennen. In diesem Fall könnte der Interaktor zum ›Mitautor‹ des Werks werden (abhängig vom jeweiligen Grad der Mitwirkung, den das Werk zulässt oder anbietet), während der Künstler sich zum ›Meta-Autor‹ verwandelt. Allerdings darf man diese Kategorien nicht hierarchisch interpretieren beziehungsweise ihnen verschiedene Bedeutungsgrade zumessen; es ist wichtig, sie als komplementäre Teile des Werks zu verstehen.

Die genannten Beispiele und Überlegungen führen zu einer grundlegenden Feststellung: die aktuelle Kunst, die sich auf digitale Medien und Werkzeuge stützt, stellt sich nicht nur selbst konstant in Frage, sondern hinterfragt darüber hinaus die Rolle des Künstlers, die Stellung des Rezipienten dem Kunstwerk gegenüber, die Werkfunktion, die Funktion der Maschine und — ganz wesentlich — die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Rezipienten. Das häufige Auftreten dieser Fragen sowie die verschiedenen Perspektiven oder eingenommenen Sichtweisen machen vor allem eins deutlich: Es ist unmöglich, allgemeingültige Definitionen beziehungsweise starre und homogene Modelle für die ›Gesamtheit‹ der zeitgenössischen künstlerischen Produktion zu erstellen, wie es Informationsästhetik oder kybernetische Ästhetik versucht, da die Kunst selbst eine Dynamik zur ständigen Erneuerung und Neuformulierung dieser Konzepte und Beziehungen in Gang setzt.

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