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ThemenÄsthetik des DigitalenEditorial
Digitale Ästhetik: Einleitung
Claudia Giannetti

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Mit Beginn des 20. Jahrhunderts formieren sich in unterschiedlichen Gebieten neue theoretische Ansätze, denen eine Skepsis gegen jene Grundgewissheiten gemeinsam ist, von denen die okzidentale Kultur und Wissenschaft zutiefst geprägt sind. Begriffe wie Wahrheit und Wirklichkeit, Vernunft und Wissen rücken gegen Mitte des letzten Jahrhunderts ins Zentrum einer intensiven Debatte zwischen Rationalismus und Relativismus. Dabei distanzieren sich einige Theorien vom selbstreferentiellen Charakter ihrer wissenschaftlichen Disziplinen, um sich zunehmend in Wechselbeziehungen mit anderen zu verorten. Als Beispiele für metadisziplinäre Modelle lassen sich die kybernetische Analyse von Nachrichtenübertragung und Mensch-Maschine-Kommunikation oder — in jüngster Zeit — die postmoderne Philosophie und deren Konzipierung eines ›kontaminierten‹, ›schwachen‹ Denkens hervorheben. [1] In der Kunst äußert sich dieser Relativismus in unterschiedlichen Aspekten: als wesentlicher Bestandteil des Produktionsprozesses in der experimentellen Kunst seit den frühesten Avantgarden; im radikalen Wandel derRezeptionsformen von Kunst; in der Tendenz, verschiedene Kunstgattungen untereinander zu vernetzen und ihr Wechselspiel zu initiieren — greifbar in interventionistischen und interdisziplinären Werken oder ›Mixed Media‹; und schließlich in der Intensivierung des Austausches zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie. Die künstlerische Praxis eignet sich sowohl neue Medien — zunächst Fotografie und Film, später Video und Computer — wie auch neue Kommunikationssysteme — zunächst Post und Telefon, dann Fernsehen und Internet — an. Unter dieser Prämisse setzt vor allem seit den 1960er Jahren ein allmähliches Abrücken von jenen akademischen, orthodoxen Positionen ein, die die Kunst auf traditionelle Techniken und die Ästhetik auf ontologische Fundamente einzuschränken versuchen.

Die in der Folge dieser neuen Ansätze tiefgreifenden Veränderungen stoßen jedoch nicht immer auf das Verständnis oder gar die Akzeptanz der Künstler. Berücksichtigt man zudem noch die in den vergangenen Jahrzehnten erneut verstärkte Kontroverse um die bereits im Voraus angekündigten Krisen von Kunst und philosophischer Ästhetik sowie den unter postmodernen Autoren verbreiteten, an Tendenzen der Technik- und Wissenschaftstheorie gekoppelten Diskurs, scheint tatsächlich alles auf eine Auflösung von Kunst und Ästhetik zu deuten. Ein Großteil solcher Polemik lässt sich jedoch darauf zurückführen, dass ästhetische Theorie und künstlerische Praxis getrennte Wege eingeschlagen haben. Der zunehmende künstlerische Einsatz von Technologien deckt eine weitreichende und fortschreitende Diskrepanz zwischen künstlerischer Wahrnehmung, Kunsttheorie und Ästhetik auf, die stark divergieren, anstatt sich synchron und kongruent zu entfalten. Diese Spaltung zwischen theoretischem ›Corpus‹ und künstlerischer Praxis gipfelt in einem Paradoxon, das ohne Zweifel zu jenem immer wieder proklamierten Ende der Kunst führt.

Dennoch gilt die Überzeugung, dass bestimmte Symptome des Übergangs nicht sofort mit der radikalen Auflösung der involvierten Bereiche gleichzusetzen sind. Vielmehr müssen neue Denkansätze und Erfahrungsweisen gefunden werden, um zu Analyse und Assimilierung — anstelle von Ablehnung — der zeitgenössischen Phänomene zu gelangen. Einen derWege zu diesen neuen Formen weisen Theorie und Praxis der Medienkunst, insbesondere der interaktiven Medienkunst, die erneuernde Konzeptionen erkennen lässt, indem sich hier die ästhetische Theorie nicht mehr ausschließlich auf das Kunstobjekt selbst richtet, sondern auf dessen Prozess, auf Systeme und Kontexte, auf die breite Verknüpfung unterschiedlicher Disziplinen und die Neuformulierung der Rolle von Autor und Betrachter.

Der komplexe Wandlungsprozess von Kunst und Ästhetik sowie die eng verflochtenen interdisziplinären Beziehungen lassen sich nur über die Erforschung jener Phänomene und Theorien erschließen, die bisher und auch weiterhin die Syntopie [2] von Kunst, Wissenschaften und Technologie vorantreiben. Es genügt nicht, den gegenwärtigen Zustand der Kunst zu beschreiben, indem man sich auf ihr Epizentrum fixiert. Sinnvoller ist es, den Horizont der Betrachtung zu erweitern und die historischen Entwicklungen in angrenzenden Gebieten zu beobachten, um auch dort entsprechende Wandlungen und zeitgenössische Phänomene zu erkennen.

Eine Zielsetzung dieser Hypertextmonographie ist es, eine ästhetische Konzeption herauszuarbeiten, die sich inhärent aus Kontext und schöpferischer Erfahrung sowie Präsentation und Rezeption interaktivitätsbasierter Werke bildet. Es sollen mögliche Wege zur Erneuerung ästhetischer Diskurse aufgezeigt werden, Wege, die jene Vordenker und Künstler geebnet haben, deren Spuren hier verfolgt werden. So werden verschiedene Konzeptionen aus Wissenschaft, Technologie und Kunst im Sinne einer Revision der Begriffe Kunst, Ästhetik und Beobachter verbunden.

Ohne Zweifel führen der künstlerische Einsatz neuer Technologien und die spezifischen Formen aktueller Verzahnung von Wissenschaft und Kunst zu diversen Fragestellungen — praktischer und formaler sowie konzeptueller und philosophischer Art —, auf die nur künftige Entwicklungen Antworten finden können. Die »Ästhetik des Digitalen« thematisiert einige dieser prinzipiellen Fragen. Manche erhalten mögliche Antworten, andere wiederum münden in neue Fragen, die Raum für weitere Überlegungen eröffnen. [3]

© Medien Kunst Netz 2004