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ThemenKunst und KinematografieBroodthaers
Das Museum der Attraktionen: Marcel Broodthaers und die »Section Cinéma«
Eric de Bruyn

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Der Gedanke ist fast so alt wie das Medium selbst: Der Film ist vergleichbar mit einem Schreibprozeß. Mit ironischer Vorliebe kam Marcel Broodthaers im Laufe seiner kurzlebigen Karriere häufig auf diese Analogie zurück. In einem undatierten Manuskript mit dem Titel »Projet pour un texte« finden wir beispielsweise folgenden Kommentar: »Und hier bin ich, grausam hin- und hergerissen zwischen etwas Unbeweglichem, das schon geschrieben ist, und der komischen Bewegung, die 24 Bilder pro Sekunde in Gang hält.« [1] Und ein gleichnamiger Film von 1969 registriert den tragikomischen Effekt eines solchen Schreibens mit der Kamera. Der Film zeigt Broodthaers in seinem Garten, in das Schreiben eines Texts vertieft; der Text wird jedoch nie fertig, weil der Regen, der unablässig auf den Künstler herabfällt, die Tinte von dem Schreibpapier abwäscht. [Abb. 1]

Für Broodthaers funktionierte der Film als ein eigenartiges Werkzeug der gleichzeitigen Einschreibung und Auslöschung. Er war eine Erfindung des technologischen Zeitalters, einerseits eine Totgeburt, andererseits harrte er noch seiner wirklichen Geburt. Wir sollten daher den Film als ein Projekt betrachten,statt als Projektion. »Ausgangspunkt meiner Ansichten wäre jene Auffassung vom Film, die das Konzept der Bewegung von sich weist«, schrieb der Künstler 1967. [2] Diesem Widerstand gegen die vorwärtsgerichtete Kraft des Films entsprach Broodthaers’ Ablehnung der narrativen Absorption im Kinofilm. Das diegetische Universum des klassischen Films mit seiner projektiven Einheit von Wort und Bild bietet dem Betrachter den Anblick einer räumlichen Totalität. Eine solche perzeptuelle »Eroberung des Raums« betrachtete Broodthaers aber stets mit großem Mißtrauen. Denn die verräumlichte Logik des klassischen Films ahmt letztlich die universelle Struktur der Warenform nach – eine Struktur, auf die, wie er betonte, das gesamte Feld der Kultur aufsetzt: »Wenn wir es hier mit Verdinglichung zu tun haben, dann ist Kunst eine spezielle Repräsentation dieses Phänomens – eine Form von Tautologie.« [3]

Broodthaers beobachtete oftmals, wie die kulturelle Sphäre nach und nach von einem Prozeß der Instrumentalisierung durchdrungen wurde. 1967 schrieb er noch halb im Scherz: »Der Filmstreifen ist ein Ort zur Bewahrung von Ideen – eine Konservendose besonderer Art.« [4] Doch schon zwei Jahre später beklagte er die fortschreitende Reduktion des Films auf die bloße Übertragung von Ideen: »So ist in manchen Bereichen der Konzeptkunst der Film oft nur ein banaler Zwischenträger, wo die Idee die Hauptrolle des Themas spielt.« [5] Kunst gleicht sich somit dem Status der Werbung an – wenn nicht das Eingeständnis dieses gegenwärtigen Status der Kunst als Dokumentation von abgedroschenen Ideen eine Möglichkeit bietet, kritischen Boden zurückzugewinnen. [6]

Broodthaers’ filmisches Werk ist daher nicht einfach ein Kino der angehaltenen Bewegung, sondern verhält sich stets in einem permanenten Widerspruch zwischen dem statischen und dem bewegten Bild. Es präsentiert einen Text, der im Prozeß des Geschriebenwerdens begriffen ist und zugleich schon geschrieben worden ist. Ein Text, der die Gegenwart in Gang hält und sich damit im gleichen Moment als Teil der Vergangenheit einschreibt. Die Geschwindigkeit eines solchen Schreibens kann augenscheinlich nie aus dem Gravitationsfeld der Geschichte entkommen. Doch um die eigenartige Temporalität dieser filmischen Methode zu verstehen, müssen wir zunächst dieKonturen ihres Raums der öffentlichen Performanz nachzeichnen. Dies möchte ich in bezug auf ein spezifisches, von Broodthaers selbst entworfenes Filmvorführungstheater tun. Ich meine die »Section Cinéma«, die siebte Abteilung seines berühmten fiktiven Museums, des »Musée d’Art Moderne, Département des Aigles«. Das gesamte Museumsprojekt lief über vier Jahre von 1968 bis 1972, und umfaßte zwölf verschiedene Editionen, bevor es auf der documenta 5 aufgelöst wurde. Die »Section Cinéma« bestand zwischen Januar 1971 und Oktober 1972 in einem Keller am Burgplatz 12 in Düsseldorf. [7] [Abb. 2] In einem figurativen Sinn diente dieser unterirdische Raum sowohl als Gründungs- wie auch als archäologischer Ort, in permanentem Wechsel zwischen Auf- und Abbau, Montage und Demontage. In einem wörtlicheren Sinn erfüllte die »Section Cinéma« eine Mehrfachfunktion als Lagerraum, Versammlungsort, Produktionsstudio, Filmtheater und Galerie.

1. »Section Cinéma« – Die stumme Geste des Künstlers

An dieser Stelle möchte ich das erste »Beweisstück« einführen. Es zeigt den maskierten Künstler, eingehüllt in aufwirbelnden Rauch, wie er gut sichtbar ein Buch hochhält. [Abb. 3] Bei dem Buch handelt es sich um eine Exemplar von »L’Invention du cinéma (1832-1897)«, dem ersten Band von Georges Sadouls klassischer »Histoire générale du cinéma« aus dem Jahr 1948. Dieses Buch gehörte, mit »fig. 1« bezeichnet, zum Bestand der »Section Cinéma« von Broodthaers’ Museum. Doch bevor ich den Blickwinkel weiter öffne, um mehr von diesem Museumsdekor zu enthüllen, ist ein kurzer Einschub angebracht. [8] An dieser Schnittstelle möchte ich vor allem die Verbindung hervorheben, die dieses maskierte Selbstporträt zwischen dem Film, genauer gesagt der Frühgeschichte des Films, und einem enunziativen Modus der direkten Ansprache herstellt. Auf diese Weise wird mit der stummen Geste des Künstlers ein Modell eingeführt, dem wir im Folgenden noch mehrfach begegnen werden.

Nach dieser Ausgangsthese kann ich mir zwei unmittelbare Fragen in bezug auf meinen Ansatz vorstellen. Die erste betrifft einen mehr faktischen Aspekt. Man könnte hier einwenden, dass SadoulsGeschichte in »L’Invention du cinéma« 1897 mit der Erfindung des Films im eigentlichen Sinn abbricht. Es befaßt sich also gerade nicht mit der Geschichte des frühen Films. Dennoch möchte ich behaupten, dass Broodthaers’ wirkliches Thema in dem nicht-synchronen Verhältnis zwischen den beiden Gründungsmomenten der technischen Erfindung des Kinos und seiner industriell-kommerziellen (Neu-)Erfindung besteht. Ich werde erläutern, inwiefern die historische Figur des frühen Films für den Künstler als eine Form der Gegen- Erinnerung gegen die progressive Homogenisierung des öffentlichen Raums »unter den wachsamen Augen der Mamas und Papas von der Industrie« [9] fungierte. Die zweite Frage könnte meine Verwendung des Begriffs »Performativität« betreffen. Diese linguistische Kategorie hat in jüngerer Zeit weite Verbreitung in der Diskussion über zeitgenössische Kunst gefunden, insbesondere im Gebiet der Performance Studies. Für unseren Zweck brauchen wir aber nicht die gesamte historische und theoretische Bandbreite dieser komplexen Debatte einzubeziehen. Vorläufig soll es genügen, das Performative zu definieren als eine Aussage, die keine über die Zeit und den Ort ihrer Äußerung hinausreichende Bedeutung beansprucht. Anders gesagt, das Performative bezeichnet einen Modus der direkten Ansprache, der die aktuellen Bedingungen dieses Sprechens in den Vordergrund stellt. Eine performative Äußerung stellt gewissermaßen ihren eigenen Sprechakt zur Schau, im Gegensatz zur gewöhnlichen Unterdrückung der auktorialen Stimme in historischen Erzähltexten. Andererseits ist der performativen Aussage, eben weil sie die Kontingenz ihrer Setzung sichtbar macht, jede transzendente Autorität versagt. Dieser Aspekt wurde in den sechziger Jahren als der »Tod des Autors« gefeiert. Doch es bleibt zu sehen, ob Broodthaers mehr als nur ein Lippenbekenntnis zu dieser revolutionären Befreiung der Sprache ablegte.

Die Hand des maskierten Künstlers hält das Buch in unser Blickfeld. Broodthaers, könnten wir sagen, wird durch diese Geste gegenwärtig, doch er manifestiert dabei keine affirmative Präsenz. Nichts wird erklärt außer dem Akt selbst, doch zumindest der exakte Inhalt des Akts bleibt unbestimmt. Das Buch-Objekt wird gleichermaßen vor dem Gerichtshof derGeschichte als Beweisstück vorgezeigt, doch noch ist kein endgültiges Urteil gesprochen. Was diese Proposition letzten Endes »darstellt« oder »figuriert«, ist eine reine Geste des Zitierens. Der Sprechakt wird als »fig. 1« ausgestellt: eine (exemplarische) Figur, ausgewählt aus einem Spektrum verfügbarer Ready-made-hafter Aussagen. Doch »fig. 1« gibt uns nicht den Schlüssel, um den Code zu enträtseln. Dieses »fig. 1« benennt keinen stabiles Referenzobjekt – z.B. die historische These oder das Signifikat von Sadoul –, sondern wird von Broodthaers’ Geste als ein leeres Zeichen in einem diskursiven Netz der Tauschbeziehungen mobilisiert. In diesem Sinne können wir seine Geste strategisch nennen, obwohl wir bislang das genaue Operationsgebiet seiner Taktik noch nicht bestimmt haben. Der Schriftsteller hat nur die Möglichkeit, »verschiedene Formen des Schreibens miteinander zu vermischen, die einen den anderen entgegenzusetzen, und sich nie auf eine von ihnen zu verlassen.« [10] Wie Roland Barthes betonte, ist der performative Akt grundlegend ein Schreibakt. Die Hand des Schreibenden vollführt eine Geste der reinen Einschreibung, losgelöst von jeder Stimme. Und in der Tat sehen wir, wenn wir genauer hinschauen, einen schwarzen Fleck auf Broodthaers’ Zeigefinger, als ob er sich mit Tinte aus einem Füllhalter beschmiert hätte. »Als ob«, doch nicht in Wirklichkeit, denn offenkundig hat Broodthaers das Bild nachträglich manipuliert. So werden wir erneut an die Performativität des Schreibens erinnert, das »immer nur eine Geste imitieren kann, die bereits vorgängig gegeben, die nie original ist.« [11] Und eine Geste, die wir zudem gleichzeitig als komisch und tragisch erfahren. [12]

Broodthaers’ filmisches Werk gleicht zweifellos der intertextuellen Beschaffenheit einer écriture, wie sie von Roland Barthes theoretisiert wurde. Seine Filme reichen über die Grenzen der Genres von narrativem Film, Dokumentarfilm und Experimentalfilm, ohne sich letztlich in eine bestimmte Kategorie einzufügen, und einzelne Filme wurden oft einem Prozeß des Rekombinierens und Recycelns unterworfen. Doch Barthes’ Modell der Performativität läßt sich in diesem Fall nur in eingeschränktem Maß anwenden. Wie wir sehen werden, ließ Broodthaers sich nicht von dem utopischen Aspekt einer écriture vereinnahmen, die keine andere Zeit außer der der Äußerung kennt – eineZeit, in der zudem jeder Text immerwährend hier und jetzt geschrieben wird. Im Gegenteil ist Broodthaers’ theatralische Geste nicht von der Vergangenheit abgeschnitten, vielmehr täuscht sie eine Rückkehr zu der, wenn man so will, Urszene des Kinos vor. Diese historische Dimension von Broodthaers filmischem Werk sollten wir nie aus den Augen verlieren.

2. Die Pfeife – Magritte und Foucault

Wenn ich nun den Rahmen unseres Blickfelds nochmals ein Stück erweitere, sehen wir an einer weiß getünchten Wand ein Arrangement von zwölf Objekten, darunter eine Pfeife, eine Rauchbombe, eine Uhr, einen Kalender, einen Spiegel, ein Rückspulgerät und eine Maske von derselben Art, wie Broodthaers sie auf dem Foto trägt. [Abb. 4] Jedes dieser Objekte ist mit einer Beschriftung wie »fig. 1«, »fig. 2«, »fig. 12« etc. versehen. Eine Truhe enthält nochmals zwölf Objekte, darunter das Buch von Sadoul. Schließlich steht an einer Wand ein kleines Klavier unter einem gerahmten Schild, das den zweisprachigen Titel dieses Kunstgebildes verkündet: »Musée – Museum«.

Die Mehrzahl dieser Objekte hatte Broodthaers zuvor in seinen Filmen als Requisiten benutzt, unter anderem in einer Serie von kurzen Stummfilmen, die auf René Magrittes Gemälde »Ceci n’est pas une pipe« basierten. Der erste Film dieser Serie war »La Pipe (Magritte)«, entstanden im Jahr 1969. [Abb. 5] Er wurde mit einer stationären Kamera gedreht, die alle möglichen Kombinationen von einer leeren weißen Wand, einer Pfeife, einer Uhr und Rauchschwaden aufzeichnete. In diese Originalaufnahmen ließ Broodthaers nachträglich nach seinem bekannten System die Bezeichnungen »Figure I«, »Figure II« oder »Figures« einblenden. Auf der Ebene des individuellen Films, z.B. »La Pipe«, imitiert Broodthaers obsessiv, wenn nicht parodistisch, die kapitalistische Logik der Serienproduktion: Ein identisches Ding wird so lange wiederholt, bis alle Bewegung in dieser Identität verwischt. Was im Verlauf des Films wechselt, sind nur die Beschriftungen. Sie ersetzen die unmittelbare Erfahrung des Objekts, ähnlich wie Reklameslogans es tun, ohne dabei aber dieselbe beruhigende Illusion eines Inhalts zu bieten. Die instrumentale Sprache der Werbung, die Magritte zu seiner Zeit in abgeänderter Form zitierte, scheint nun sein Gemälde ganzaufgesogen zu haben. »Die Materie hat sich verflüchtigt«, erklärte Broodthaers 1971, und »das Objekt ist nun das der gesprochenen, geschriebenen oder gefilmten Sprache.« [13] Tatsächlich verschwindet in diesem Film die Pfeife zeitweise im aufsteigenden Rauch; in einem figurativen Sinn könnte man auch sagen, dass das materielle Objekt hinter dem beschrifteten Bild einer Pfeife verschwindet. Die Pfeife ist, in Broodthaers’ Worten, als gefilmte Sprache repräsentiert. Doch das ist nicht alles.

Man könnte vermuten, dass der Betrachter die Materialität der statischen Pfeife immer noch registriert, wenn auch nur indirekt in dem diskontinuierlichen Stottern des Films mit seinen vielen abrupten Schnitten. Zudem können wir uns fragen, was die intrinsische Funktion dieser Pfeife ist. Was wir auf der Leinwand sehen, erscheint wie Bildmuster eines unwahrscheinlichen Films – eines Films ohne intrinsische Organisation und Richtung. Abgesehen von dieser internen Disseminierung der Figuren setzte Broodthaers aber auch einen externen Prozeß der Multiplikation in Gang, indem er die Aufnahmen von »La Pipe« unablässig neu kombinierte und somit weitere Varianten des Films produzierte, wie »Ceci ne serait pas une pipe« oder »La Pipe (Gestalt, Abbildung, Figur, Bild)«. Diese Methode der Serialisierung trieb er so weit, dass es letztlich nicht immer möglich ist, zu entscheiden, was als ein einmaliges und vollendetes Werk gelten soll.

Die Frontalität des Bildes in »La Pipe«, die zeitweise von den eingeblendeten Untertiteln unterstrichen wird, ist typisch für Broodthaers’ frühe Filme. Doch wenn hier eine stumme Stimme eingeschrieben ist, so bleibt der Sprecher selbst abwesend. Wessen Sprache ist hier also figuriert? Welcher Modus der Kommunikation wird hier vorgeführt? Im Katalog der »Section des Figures« von Broodthaers’ Museum, die 1972 in Düsseldorf ausgestellt wurde, findet sich die Anweisung: »Lesen Sie den Text von M. Foucault ›Dies ist keine Pfeife‹«. [Abb. 6] Halten wir uns für den Moment an diese Empfehlung von Broodthaers, obwohl sich letzten Endes erweisen wird, dass sie nur eine eingeschränkte Geltung beanspruchen kann. Wenn wir der Vorgabe des Künstlers folgen, müssen wir zu dem Schluß kommen, dass Broodthaers’ eigenwillige Methode des »Filmens nach Zahlen« darauf abzielt,auf der Schwelle zur symbolischen Sprache stehenzubleiben. Dem Objekt wird eine figurative Bezeichnung innerhalb eines Sprachsystems zugeordnet, das jedoch über keine definitive räumliche Organisation verfügt. Die Bezeichnungen erscheinen gewissermaßen, ohne dass ein Subjekt sie behauptet und sie an ihren ordnungsgemäßen Platz verweist.

Broodthaers’ »Figuren« agieren so als »aushöhlende Wörter«, die, wie Foucault schreibt, unter der scheinbar glatten Oberfläche von Magrittes Bildern ihre tückischen Tunnel graben: »Magritte untergräbt insgeheim einen Raum, den er in seiner traditionellen Ordnung zu bewahren scheint.« [14] Und seine Wortwahl gleicht in bemerkenswertem Maße der von Broodthaers, der einmal bemerkte: »Magritte zielte auf die Entwicklung einer poetischen Sprache, um das zu untergraben, worauf wir angewiesen sind.« [15] Doch der Bereich der affirmativen Sprache, gegen den Broodthaers seine Kritik richtete, war nicht wie bei Magritte die Alltagssprache. Ihm ging es mehr um die hohlen Phrasen in der Sprache der Werbung, die im Spätkapitalismus alle Lebensbereiche durchdringt. »Gibt es irgendeine andere Erklärung«, fragt er, »außer dem Kontext einer Welt, die sich um Reklame, Überproduktion und Horoskope dreht?« [16] Broodthaers gesteht ein, dass Magritte ihm in dieser Hinsicht nicht zustimmte, sondern kritisierte, er sei zu sehr auf Soziologisches fixiert.

Broodthaers und Magritte stimmten jedoch darin überein, dass sie die falsche Autorität eines Modus der affirmativen Sprache entlarven wollten, der in Foucaults Text von der Figur des Lehrers personifiziert wird. Um Foucault zu paraphrasieren, setzt der Lehrer an, zu zeigen, wie alles stabil in einem pädagogischen Raum verankert ist. Das heißt, ein Film »zeigt« ein Bild, das die Form einer Pfeife »zeigt«; die von einem beflissenen Lehrer darunter geschriebene Unterschrift »zeigt«, dass wirklich eine Pfeife gemeint ist. Doch kaum hat er gesagt: »Dies ist eine Pfeife«, muß er sich auch schon korrigieren und stottert: »Dies ist keine Pfeife, sondern die Zeichnung einer Pfeife«, »Dies ist keine Pfeife, sondern ein Satz, der sagt, dass dies keine Pfeife ist«, etc. etc. [17] Und der verwirrte Lehrer muß seinen ausgestreckten Zeigefinger senken und sich umwenden, während die Schüler schallend lachen. Aber was geschieht dann?

3. Das Simulakrum

Die Geschichte nimmt jetzt eine vertraute Wendung. Die Figur des Simulakrums war die Gegenmaßnahme des Poststrukturalismus, um die falsche Hegemonie des pädagogischen Diskurses, des Herrendiskurses von Foucaults Lehrer zu zerstören. Bei dieser Figur des Simulakrums handelt es sich nicht um eine bloß äußerliche Ähnlichkeit, die nur den Anforderungen der Repräsentation genügt, sondern um eine, die von der Logik der reinen Wiederholung strukturiert ist. Sie öffnet sich für eine Serie von Differenzen, Kontiguitäten und Verschiebungen – eine niemals abgeschlossene Serie. Kurz gesagt, die utopische Imagination ist hierin neu figuriert als ein endloses Spiel von Zeichen, als ein Text, der immerwährend im Hier und Jetzt geschrieben wird. Doch wie jedesmal, nährt sich auch hier die utopische Imagination von ihrem spezifischen historischen Kontext. Foucaults Buch endet bekanntlich mit einer fernen Wunschvorstellung: »Eines Tages wird auch das Bild selbst, mitsamt dem Namen, den es trägt, durch die in einer Serie endlos übertragene Gleichheit desidentifiziert werden. Campbell, Campbell, Campbell, Campbell.« [18] Kann diese Serie der Simulakren eine Alternative zur Unähnlichkeit der modernen Kunst bieten? Kann die Form des Simulakrums ein Antidot gegen das Phantasma bieten, das, wie Broodthaers sagte, »wie ein Schattenspiel an den Peripetien unserer Geschichte entlangflackert«? [19] Läßt die Fiktion von der Autonomie der Kunst sich einfach im Hier und Jetzt der strukturellen Ähnlichkeit auflösen? Offensichtlich entspräche eine solche Schlußfolgerung nicht dem enunziativen Status von Broodthaers’ filmischem Werk, das, wie schon gesagt, sich sowohl in die Gegenwart als auch in die Vergangenheit einschreibt.

Auf den ersten Blick scheint die »Section Cinéma« allerdings eine solche Interpretation zu stützen, ja sogar den Status der ausgestellten Objekte als Simulakren besonders hervorzuheben. Wie Broodthaers in einem Interview bemerkte, führt die Unterwerfung dieser Objekte unter ein gleichbleibendes System der Numerierung zur Auflösung ihrer individuellen Identität; sie werden zu »austauschbaren Elementen auf einer Bühne«. Woraus er den Schluß zog: »Ihr Schicksal ist ruiniert.« [20]

Doch die Objekte tragen eine doppelte Bezeichnung. Zunächst gibt es zwei Gruppen von Objekten. Die eine ist in dem architektonischen Raum verstreut; zu ihr gehört unter anderem ein Stuhl und eine Deckenlampe. [Abb. 7] Die andere ist in einer Truhe aufbewahrt, wie die gesammelten Spielsachen eines Kindes in seiner Spielzeugkiste. Zudem ist auch die numerische Serie einer doppelten Artikulation unterworfen. Broodthaers bietet nicht nur die Alternative von »fig. 1« und »fig. 2«, sondern auch die Möglichkeit ihrer symbolischen Kombination, wie in dem »fig. 1 & 2« des Film-Rückspulgeräts oder dem »fig. 12« der Uhr. In anderen Worten heißt dies, dass der rein äquivalente Status dieser numerierten Ready-mades ihre Assimilation innerhalb einer spezifischen ideologischen oder narrativen Ordnung der Sprache nicht ausschließt. Diese Objekte sind in der Lage, im räumlichen Kontinuum eines jeden diegetischen Universums, gleichgültig ob es vom sozialen Apparat des Museums oder des Films projiziert ist, eine übertragene Bedeutung anzunehmen. »Wenn man auf den Sinn der Inschrift vertraut«, erklärt Broodthaers, »nimmt das Objekt den Charakter einer Illustration an und verweist auf eine Art Roman der Gesellschaft.« [21] Doch diese übertragene Figur ist nicht das Ende unserer Serie. Trotz der Oszillation dieser Objekte zwischen dem Raum der Ähnlichkeit und dem der Repräsentation, zwischen einem differentiellen und einem übertragenen Wert betont Broodthaers, dass hier ein weiterer Wert im Spiel ist. Die Objekte behalten eine beharrliche Präsenz, die sich ihrer vollständigen Aufhebung in die räumliche Sphäre der affirmativen Sprache oder die entmaterialisierte Sphäre der Simulakren widersetzt. Der Fortschritt, die Bewegung, die komische Animiertheit der Bilder, alles gerät ins Stocken, wenn es mit der Materialität einer »schon geschriebenen« Spur konfrontiert wird, das heißt mit einer »lesbaren Textur« aus Holz, Glas, Metall und Stoff. Diese Textur, behauptet Broodthaers, verhindert die völlige Angleichung der Objekte im Prozeß der technischen Reproduktion. »Ich hätte diese Komplexität nicht mit technischen Objekten erreichen können«, erklärt er, »deren Einmaligkeit den Geist zur Monomanie verurteilt: Minimal Art – Roboter – Computer.« [22] Doch auch damit ist unsere Serie noch nicht vollständig.

4. »Silence«

Bei der Eröffnung der »Section Cinéma« kündigte Broodthaers an, dass er die ausgestellten Objekte entfernen und zum Verkauf anbieten werde. Diese Ansammlung von Objekten, argumentierte er, könne keinen permanenten Platz in einem Museum haben, das nur eine fiktive Existenz besitze. Nachdem sie an das Städtische Museum Mönchengladbach verkauft worden waren, wiesen nur noch die auf die Wand gemalten Abkürzungen »fig.« auf die nicht mehr vorhandenen Objekte hin. Dafür wurde ein weiteres Wort hinzugefügt: »Silence«. [Abb. 8] Ein Wort, dass ohne enunziative Markierung unentschieden zwischen dem Imperativ – »Still!« – und dem Deskriptiven – »Hier herrscht Stille« – zu stehen scheint. Ein Wort also, das zwischen einem performativen und einem affirmativen Sprachmodus verharrt. Ich möchte an dieser Stelle einen Vorschlag machen, wie wir die historische Bedeutung dieses einfachen und doch so enigmatischen Worts »Silence« verorten können. Und wo anders sollten wir damit beginnen, als nochmals bei Foucault. »Sobald eine figürliche Darstellung einer Sache (oder einer anderen Figur) gleicht«, schreibt er, »schleicht sich in das Spiel der Malerei eine selbstverständliche, banale, tausendfach wiederholte, jedoch fast immer stillschweigende Aussage ein (wie ein endloses, beharrliches Murmeln, welches das Schweigen der Bilder umzingelt, belagert, erstürmt und zum Ausbruch zwingt, um es schließlich auf das Feld der nennbaren Dinge zu treiben).« [23]

Der Modernismus war, wie der akustisch gedämpfte Raum des Museums, eine schweigende Kunst; doch den verdinglichenden Prozeß des Benennens, auf den Foucault anspielt, konnte er nicht aufhalten. Die zeitgenössische Kunst, scheint Broodthaers dagegenzuhalten, hat die Taktik des Modernismus umgekehrt. Sie veharrt nicht mehr im Schweigen, sondern ist von einer Rhetorik infiziert, die die Kunst zu bloßer Werbung für eine gerade modische Theorie macht. [Abb. 9] Kommentare über Kunst reflektieren daher nur die Resultate einer ökonomischen Verschiebung. Was Broodthaers zu dem nüchternen Schluß führte, dass zweifelhaft sei, ob diese Kommentare als politisch gelten können. [24]

Doch wir können das schablonierte Wort »Silence« auch in seinem offensichtlichsten Sinn verstehen,nämlich als Bezug auf die akustische Bedingung von Filmaufnahmen. Und in weiterem Sinne als eine Referenz auf die Geschichte der Filmtechnik: nicht nur in bezug auf die Abwesenheit einer Stimme aus dem Off im narrativen Kinofilm, sondern in bezug auf die völlige Abwesenheit von Geräuschen im Stummfilm. Tatsächlich hat die Sprache nur langsam und allmählich den ausgeprägt nicht-narrativen Bereich des Stummfilms durchdrungen, bis es mit dem Eindringen des narrativen Prinzips in den Film zugleich zu einer Homogenisierung des Raums kam, die mit dem Triumph der großen kommerziellen Studios einherging. Diese Vielfalt am Beginn der Filmgeschichte betraf, wie Rosalind Krauss in einem neueren Essay argumentiert, nicht nur eine differentielle Spezifizität des Mediums. Krauss beobachtete eine Ähnlichkeit zwischen Filmen aus der Pionierzeit des Kinos und Broodthaers’ Filmen mit ihren »ungleichmäßigen, zusammengeklebten Aufnahmen und ihrer flackernden Bewegung.« [25] Dieser Vergleich läßt sich noch einen Schritt weiter führen. Die formale Heterogenität der frühen Filme hatte ihr Pendant in ihrem uneinheitlichen Ort im Raum des öffentlichen Lebens. Das Gleiche läßt sich auch von Broodthaers’ filmischem Werk sagen. Broodthaers’ performative Geste erstreckt sich also vor dem spektakulären Hintergrund einer Mediengesellschaft, und hier, vor diesem homogenisierten Hintergrund, können wir ansetzen, um seine entscheidenste Bedeutung zu erkennen.

Die weitere Ausarbeitung dieser These wird bis zu einem späteren Zeitpunkt warten müssen, doch ich möchte hier wenigstens andeuten, welche Richtung sie nehmen kann. Hierbei wird Tom Gunnings Begriff eines »Kinos der Attraktionen« sich als hilfreich erweisen. [26]

5. Das Museum der Attraktionen

Das »Kino der Attraktionen« bezieht sich auf eine vorklassische Periode des Films, die bis etwa 1907 dauerte. Gunning setzt diesen Ausdruck der gebräuchlicheren Redeweise von der Pionierzeit des Kinofilm entgegen, da er argumentiert, dass die damaligen Filme einen spezifischen Modus des Zuschauens einführten, der später von den narrativen Genres des Hollywoodfilms nicht einfach überlagert, sondern verdrängt wurde. So kontrastiert Gunningbeispielsweise den häufigen Gebrauch von Formen der direkten Ansprache im frühen Film mit der absorptiven Struktur des klassischen Films. »Die theatralische Zurschaustellung«, beschreibt Gunning das Erlebnis des frühen Films, »dominierte gegenüber der narrativen Absorption; sie betonte mehr den unmittelbaren Reiz des Schocks oder der Überraschung als die Entfaltung einer zusammenhängenden Geschichte oder die Erzeugung eines diegetischen Universums.« [27] So bot das frühe Kino eine populäre Attraktion in der Tradition von Vaudeville und Jahrmarktstheater, ein Ereignis, das von einem im Saal anwesenden »Showman« oder Filmansager orchestriert wurde.

Man hat oft erklärt, dass Broodthaers die altmodischen Rollen des Sammlers und Amateurs verkörperte. Diesen beiden Typen können wir als dritten die historische Figur des »Showman« hinzufügen. Dessen Aufgabe war es, das Filmprogramm den wechselnden Gegebenheiten des architektonischen Raums und der gesellschaftlichen Ereignisse anzupassen und das Publikum zu aktiver Teilnahme zu bewegen. In ähnlicher Weise war auch Broodthaers’ Ausstellungspraxis von einem endlosen Umarrangieren der Inhalte, den wechselnden Beziehungen zu institutionellen Kontexten und dem theatralischen Modus der Präsentation gekennzeichnet. Die »Section Cinéma« ließe sich in anderen Worten beschreiben als eine Inszenierung des uneinheitlichen öffentlichen Raums des frühen Kinos; sie wiederholte den ursprünglichen Konflikt zwischen einem performativen und einem reproduktiven Modus des Films, der dem Aufstieg des Studiosystems und seiner industriellen Organisierung der öffentlichen Raums vorausging. Broodthaers’ Inszenierung funktionierte jedoch nur als ein Theater der Erinnerung; die längst in Gang befindliche Erosion der sozialen Erfahrung konnte sie nicht umkehren. Um meine These zu stützen, möchte ich abschließend auf das Filmprogramm verweisen, das Broodthaers in der »Section Cinéma« zeigte. Dieses Programm bot eine bewußte Mischung und Verquickung verschiedener filmischer Genres. An erster Stelle war da ein Quasi-Dokumentarfilm über die Gründung des Musée d’Art Moderne unter dem Titel »Une Discussion Inaugurale« (1968), der einem gewundenen Verlauf folgt und zu keiner Schlußfolgerung gelangt. Der zweite Film,»Un Voyage à Waterloo (Napoléon 1769-1969)«, war eine Kombination aus Reisebericht und historischer Fiktion, in dem Broodthaers mit einer Pappnase auftritt. Drittens schließlich eine Gruppe von »gefundenen« Filmen, die Broodthaers neu geschnitten und arrangiert hatte, beispielsweise »Charlie Chaplin als Filmstar«, sowie Ausschnitten aus Wochenschauen und Werbefilmen. Die Filme wurden auf eine weiße Wandfläche projiziert, auf die Broodthaers in Schablonenschrift die Abkürzungen »fig. 12«, »fig. 2«, »fig. 1« und »fig. A« gemalt hatte. [Abb. 10] Broodthaers’ filmisches Projekt demonstriert letztlich einen Prozeß der kontinuierlichen Disorganisation. Doch gerade damit bietet die »Section Cinéma« eine gewisse Andeutung einer alternativen Öffentlichkeit; sie weist auf einen sozialen Erfahrungshorizont, der anscheinend nur in fragmentierter Form repräsentierbar ist. Die »Section Cinéma« erinnert auf diese Weise an ein unverwirklichtes, utopisches Potential der modernen Technologie – ein Potential, das zudem nur in dem flüchtigen Moment eines angehaltenen Bilds erfaßt ist. Ich habe versucht, zu zeigen, wo diese Interpretation von Broodthaers’ Projekt sich mit Argumenten überschneidet, die andernorts vorgebracht worden sind. Doch angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der Dinge neige ich dazu, Broodthaers’ Projekt unter einem anderen Vorzeichen aufzufassen. Wenn man sagen kann, dass die »Section Cinéma« ein befreiendes Potential besaß, dann deswegen, weil sie der bereits absehbaren Realität des Museums als Spektakel ein Museum der Attraktionen entgegensetzte.

© Medien Kunst Netz 2004