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ThemenKunst und KinematografieImmersion/Partizipation
»That’s the only now I get«
Immersion und Partizipation in Video-Installationen von: Dan Graham, Steve McQueen, Douglas Gordon, Doug Aitken, Eija-Liisa Ahtila, Sam Taylor-Wood
Ursula Frohne

http://www.medienkunstnetz.de/themen/kunst_und_kinematografie/immersion_partizipation/

»Vaste comme la nuit et comme la clarité…« Charles Baudelaire, Gedicht vom Haschisch

»Aber drinnen, keine Grenzen mehr!« Jean Tardieu

»I look elsewhere and differently, there where there is no spectacle.« Hélène Cixous

Auflösung des Bildrahmens

Auf einer frühen Fotografie von Sam Taylor-Wood, posiert die britische Künstlerin in der Rolle Jackson Pollocks: Sie imitiert den historischen Kollegen in seiner legendären Erscheinung beim Malen in seinem Studio auf Long Island. Nur verschwommen als weibliche Gestalt zu erkennen, re-inszeniert Sam Taylor-Wood die tänzerische Rhetorik der Pollock’schen Arbeitsweise, die in Hans Namuths Aufnahmen als weltberühmte Ikonen des modernen Künstlersubjekts überlebte. Mit »A Gesture Towards Action Painting« (1992) lenkt Sam Taylor-Wood den Blick auf diesen kunst- und medien-historischen Schlüsselmoment, an dem das Künstlersubjekt über den physischen Schaffensakt (action painting), der sich als Bewegung in Form von Farbspuren indexikalisch in dieLeinwand einschreibt, den Einstieg ins Bild nimmt und dabei die Grenze zwischen Selbst und Repräsentation, zwischen Kunst und Leben durchbricht. [1] Diese fotografische Anverwandlung einer zum Mythos kristallisierten künstlerischen Geste kann als Ausgangspunkt einer Reflexion über die Wirkungsweisen zeitgenössischer Videoinstallationen dienen, da in der Aktion und ihrer Replikation die Kategorien des Theatralischen, des Perfomativen, des mise-en-scène, der Wiederholung und der Transformation vom Bildträger (»screen«) zum Bühnenraum, von der Betrachterperspektive zum Erlebnisfeld aus unterschiedlichen (kunst-)historischen Perspektiven ineinander greifen: So markiert Pollocks Arbeitsweise die Schnittstelle einer Kunstentwicklung, an der sich der traditionelle Werkbegriff durch aktionistische und performative Strukturen tendenziell auflöste und mittels Film, Fotografie und Video – eben jene ›neuen‹ Medien, deren Wirkungsgeschichte untrennbar mit dem Schwarzraum, der Black Box als technisches und metaphorisches Dispositiv verknüpft ist – einem breiten Publikum zugänglich machte. Pollocks Drip-Technik, die in einem von Vernunftkontrolle befreiten Malakt die Begrenzungen der Bildfläche aufhob, ebnete den Weg für vielfältige Formen ereignisorientierter künstlerischer Konzepte (siehe »Autumn Rhythm«, 1950), die sich mit der wachsenden Medienkompetenz gegenwärtiger Künstlergenerationen zunehmend in dunkle Environments verlagert und in Gestalt theatraler Szenarien und kaleidoskopartiger Großprojektionen das klassische Museum von seiner raumbestimmten Visualität um das Parameter der Zeit erweitert haben, bzw. durch die Einflussnahme der mechanisierten Darstellungsweisen die visuelle Wahrnehmung zunehmend von der Raum- auf die Zeiterfahrung verlagern. Im Diffusionscharakter der Pollockschen Farbspuren, die seismografisch auf die ekstatische Absorbiertheit des Künstlers (als eine Form der Auto-Immersionspraktik) verweisen und die stoffliche Grundlage des Gemäldes visuell auflösen, kündigt sich diese Transformation künstlerischer Praxis bereits an, die in den nachfolgenden Dekaden mithilfe neuer Technologien eine allumfassende Wahrnehmungsstimulation des Betrachters in immersiven Rauminszenierungen perfektionierte. In ähnlicher Weise, wie der All-over-Effekt derAktionsmalerei die tendenzielle De-Materialisierung des Trägermediums initiierte und den Einbezug der körperlichen Präsenz in den Prozess der Repräsentation an den Punkt führte – an dem nach Pollocks eigener Aussage, die Dynamik des selbstvergessenen Malaktes dazu führte – dass er buchstäblich ›in‹ das Bild eintrat, erleben heute die Betrachter in cinematischen Illusionsräumen den wirklichkeitsverändernden Sog projizierter Bilder, die sich durch den Einbruch der Zeit als Referenzmedium der eigenen Rezeption, aber auch aufgrund der atmosphärischen Bedingungen von in Dunkelheit aufleuchtenden, häufig akustisch gesteigerten Bildsequenzen als emotionale Reizüberflutung oder distanzierende Reflektionsmomente in die Wahrnehmung einschreiben.

Vom White Cube zur Black Box

Sam Taylor-Wood gehört der Generation von Künstlerinnen und Künstlern an, in deren Arbeitsweisen der Erfahrungshorizont des Kinos eingeflossen ist. Ihre Installationen verwandeln die statischen Präsentationsbedingungen des Museums in einen Projektions- und Illusionsraums. Die Black Box, so ließe sich aus heutiger Perspektive auf den absorbierenden All-over-Effekt der Bilder Pollocks feststellen, hat sich in der künstlerischen Praxis der letzten zwei Jahrzehnte als neuer Ort der Dissimulation des Rahmens behauptet, als eine Sphäre der Virtualität, in der das Publikum bewegte Bilder als All-over-Stimulation der Sinne erlebt und die Grenze zwischen dem Selbst und der visuellen Repräsentationen ins Undefinierbare verschwimmt: Das Museum durchläuft eine Metamorphose zum Lichtspielhaus, in dem die Bedingungen der Dunkelheit, wie Boris Groys feststellt, eine Unsichtbarkeit erzeugen, die mit der strukturellen Unmöglichkeit einhergeht, eine Videoarbeit in ihrer Gesamtheit zu erblicken. [2] Dieser fundamentale Mangel an Sichtbarem wird zur Herausforderung für die Betrachter: Wahrnehmung schlägt um in Partizipation. Paradoxerweise ist aber gerade die Kraftentfaltung von Pollocks Actionpaintings auf das Engste mit der Wirkungsgeschichte des Galerie-Raums als White Cube, dem paradigmatischen Gegenentwurf zur Black Box verknüpft. Die Rezeption moderner Kunst seit 1945 istuntrennbar an die Darstellungsfunktionen der »weißen Zelle«, als rahmender Raum, der ein Objekt aus seiner Weltlichkeit entrückt und kraft dieser Ent-Kontextualisierung zum Kunstwerk erhebt, gekoppelt. Für die Malerei Pollocks ist die »gesteigerte Präsenz« des gleichmäßig ausgeleuchteten, »weißen, idealen Raumes« [3] zur Bühne des existentiellen Ausdrucksmoments in der Verkörperung des Künstlersubjektes im Bild geworden und hat eine beinahe archetypische Wirkungsästhetik entfaltet. Hans Namuths visuelle Charakterisierung der Leinwand als »Arena« des Künstlerakteurs findet ihr zeitgenössisches Pendant in der Black Box als das neue Aktionsfeld des Publikums. Es reagiert auf das Ereignishafte der projizierten Bild- und Sounddramaturgien und interagiert schließlich mit den narrativen Strukturen und numinosen Szenen über die Intensität der stimulierten Empfindungen. Wenn Brian O’Doherty, der Exeget der Ideologie des White Cube feststellt, dass sich »etwas von der Heiligkeit der Kirche, etwas von der Gemessenheit des Gerichtssaales, etwas vom Geheimnis des Forschungslabors« mit dem »chicen Design zu einem einzigartigen Kultraum der Ästhetik« verbindet, dann bildet die Black Box das ästhetische Pendant zu dieser Distanz gebietenden und Geschlossenheit verkörpernden Raumwirkung der Moderne. Die Black Box fasziniert durch eine Magie ganz anderer Ordnung. Sie bezieht ihre Kraft aus der Wiederbelebung einer Reizästhetik, die tendenziell auf die Immersionseffekte des Spektakels zurückgreift und mit der theatralischen Verführungskraft des Unbekannten, des Unermesslichen lockt, dessen Schwelle die Betrachter überschreiten können, ohne ihre physische Sicherheit beim Eintauchen in die Illusionswelten der Videoräume zu gefährden.

Kunst des Spektakels

Das Kino selbst ist mit der Moderne und deren Metamorphose durch die Massenmedien zu einer cinephilen Kultur eng verwachsen. Ob man das Spektakel des Panoramas, des Panoptikums, der Wachsfigurenkabinette, Vergnügungsparks oder Flaneurarchitekturen in den Metropolen des 19. Jahrhunderts als Vorläufer betrachtet, das Kino hat sich als ultimative Evolutionsform derUnterhaltungsindustrie des 20. Jahrhunderts – trotz oder gerade wegen seiner Popularisierung durch das Fernsehen – behauptet1 und hat die künstlerischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mit seiner Wirkungsästhetik, die schon Panofsky nicht als eine »Verzierung«, sondern als »Notwendigkeit« des modernen Lebens erkannte, [4] stark geprägt. [Fig 3? überprüfen]Trotz seiner technologischen Bedingungen überlebte aber gerade im Kino, was der Moderne nicht geheuer war: die populäre Rhetorik der Simulationsmaschinen des 19. Jahrhunderts, ein genrehafter Erzählstil, das Melodram. Bis heute ist der Kern der auf dieser Entwicklung fußenden Zerstreuungskultur das menschliche Bedürfnis, an einem anderen Ort zu sein, eine andere Identität anzunehmen und diesen Übergang durch eine perfekte Illusion zu erzielen, die den Rahmen, der üblicherweise das Bild als Bild kennzeichnet, durch optische Effekte und mithilfe neuer Bildtechnologien zum Verschwinden bringt: Über die Entgrenzung des visuellen Feldes gelingt es, dass sich die Betrachter als Teil dessen imaginieren, was ihre Wahrnehmung affiziert. [5] Bereits im 18. Jahrhundert begannen sich erste Ansätze einer solchen »Reizästhetik« auszubilden. Die englischen Landschaftsgärten, in deren phantasievolle Anlagen man wie in ein lebendes Gemälde eintritt und sich gleichsam beim Durchwandern eines naturalistisch-inszenierten Filmsets in eine andere Realität versetzen ließ, können als Immersionspraktiken betrachtet werden, deren Visualität die cinematischen Effekte des Hollywoodkinos antizipiert. Alexander Popes Ausführungen über das kunstvolle Verbergen von Umzäunungen in Parkanlagen, die Abwechslung von landschaftlichen Akzenten und phantasievoll inszenierten Überraschungseffekten in Form von Attrappen klassischer Tempel und Denkmäler, künstlicher Ruinenarchitekturen, illuminierter Wasserspiele und bizarrer Grottenarchitekturen, belegen ein elementares Bedürfnis nach lebensimitierenden und -steigernden Illusionseffekten. Bereits durch das Aufkommen des Schauerromans in dieser Ära klingt das Thema der überwältigenden Sogwirkung und emotionalen Stimulanz als Unterhaltungsmedium an, dessen Weiterentwicklung schließlich Friedrich Schlegels Prophezeiung der »Eskalation einer Ästhetik des Interessanten« beiweitem übertreffen sollte.

Ästhetik des Re-Make

Spätestens mit der Serie der »Film Stills« von Cindy Sherman oder den dramaturgisch inszenierten Ligthboxes von Jeff Wall haben sich die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler die Verführungsmacht der filmischen Bilder zueigen gemacht. [Fig 4?]Über das Medium Video erlebt der von der Hollywood-Industrie zum Massenmedium degradierte Film seine künstlerische Elevation. In den zeitgenössischen Video-Installationen finden sich nicht allein die Aneignungsweisen der Illusionseffekte, die dem kommerziellen Unterhaltungsfilm seine Erfolge bescheren, sondern auch die Interpretationsansätze, die durch bewusste Desillusion des Betrachters eine erkennende Distanz gegenüber den visuellen Funktionen cinematografischer Inszenierungen schafft. Hundert Jahre nach Geburt des Films dient das künstlerische »Re-Make« dazu, Filmklassiker mit verschiedenen Methoden und in unterschiedlichen Graden der Verfremdung auf ihre elementaren Strukturen zurückzuführen und die Wirkungsgeschichte des Mediums mit analytischen Verfahren kritisch zu durchleuchten. In solchen Verfremdungsformen des ›Originals‹ setzen sich die Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart mit der Wirkungsgeschichte des Kinos auseinander, dessen technische Dispositive zu kulturellen Konstanten unseres Rezeptionsverhaltens geworden sind: vom Schwarzraum in seiner ›Lichtspielqualität‹, über die Erzählnorm, die den narrativen Handlungsfluss in Bildsequenzen bannt, bis hin zum Filmschnitt, durch dessen sinnfällige Montagetechnik die Illusion der ›Lebensechtheit‹ erst ermöglicht wird. Demzufolge sind Kino und Film nicht in erster Linie als Genre für die Künstlerinnen und Künstler der post-cinematischen Ära von Interesse, sondern als Fundus des visuellen Rohmaterials, das die Bildwelten unserer Alltagskultur überflutet. In ihren vielfältigen Arbeitsweisen lassen sich zwei generelle Tendenzen unterscheiden: Videoinstallationen von Künstlerinnen und Künstlern wie Pipilotti Rist oder Doug Aitken, die auf die illusionistischen Wirkungsprinzipien cinematischer Parameter affirmativ reagieren, indem sie durch perfekt aufeinander abgestimmte Bild- und Sound-Inszenierungen einräumliches All-over schaffen, das die Betrachter in einer Art hypnotisierender Realitätscamouflage vereinnahmt. Um diese Effekte zu erzielen, setzen sie bewusst professionelle Schnitttechniken ein und greifen auf das gesamte technologische Repertoire von MTV- bis zu Hollywoodproduktionen zurück, das die visuelle und akustische Überflutung des Zuschauers beabsichtigt. In solchen immersiven Installationen steht die Auseinandersetzung mit Themen des gesellschaftlichen Mainstreams im Zentrum des Interesses: das Bedürfnis nach Transzendenz, die Suche nach außerordentlichen Erlebnissen wie beim Rave oder der Love-Parade, die Durchdringung von Technologie, Massenmedien und Trends und deren Einfluss auf sämtliche Bereiche der Gegenwartskultur, der Reiz der Geschwindigkeit, die Sogwirkung der Informationsflut und die Faszination potentieller Omnipräsenz als futuristisches Versprechen der Medien. Die andere, stärker konzeptuell definierte Richtung der Videoinstallation decouvriert das Kino und die Medienkultur als konstruiertes Spektakel. In der Verarbeitung von found footage und Ikonen der Film- und Fernsehgeschichte eröffnen Künstlerinnen und Künstler wie Douglas Gordon oder Pierre Huyghe Reflexionsansätze über das Wesen cinematischer Bilder und deren Bedeutung für unsere kollektiven Identifikationsmuster. Diese dem Re-Make innewohnenden, sowohl ikonophilen als auch ikonoklastischen Impulse, verweisen auf ein Interesse an der Notwendigkeit, die herkömmlichen filmischen Repräsentationsmodelle, die durch das jeweilige formale »Re-Framing« des vorgefundenen Materials zum eigentlichen Thema werden, zu transformieren. Diese Ansätze befriedigen weniger das Bedürfnis des Publikums nach dem filmischen Spektakel altbekannter Kinohits wie Alfred Hitchcocks »Rear Window« (1954), »Vertigo« (1958), »Psycho« (1960) oder David Lynchs »Blue Velvet« (1985), als dass die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Mediums selbst gelenkt werden und durch die Re-fokussierung des Re-Makes auf das Dispositiv die Position des Betrachters zum eigentlichen Thema des inszenatorischen Konzeptes wird. Durch die Zersplitterung der Blickwinkel (multipleviewer- aesthetic, double-vision, time-delay, etc.) verliert das von Christian Metz postulierte Prinzip der Identifikation mit der Kamera, bzw. mit den Darstellerinnen undDarstellern seine Gültigkeit. [6] Die Position des Betrachters, die bislang im Museum einen definierten Bezugsrahmen besaß, verliert ihre Sicherheit gegenüber dem Gegenstand der Rezeption aufgrund der Herausforderung an die eigene Syntheseleistung unter den Bedingungen der Zeit bei der Bilderfassung. Die darin begründete, fundamentale Instabilität des Zuschauers, die im übrigen auch durch dessen Bewegungsfreiheit vor und in den Videoinstallationen noch verstärkt wird, ist ein Hauptcharakteristikum für den paradigmatischen Wechsel von einer von der visuellen Zentrierung auf das Werk bestimmten musealen Inszenierung zu einer auf den Betrachter übertragenen Verantwortung. [7]

Darstellung als körperliche Erfahrung

Der experimentelle Charakter rückt die Videoinstallationen der jüngeren Künstlergenerationen in die Nähe der Performance. Im Sinne einer Unmittelbarkeit, die durch das Verhältnis der Handlungsregie zum Raum erzielt wird, werden performative Praktiken der späten sechziger, frühen siebziger Jahre wiederbelebt, die Körper und Psyche ins Zentrum der Auseinandersetzung rückten und mittels Film und Video in ihren sozialen und medialen Bedingungen erforschten. Insofern unterscheiden sich die Arbeiten der 1990er Jahre grundlegend von den frühen Videoarbeiten und den Praktiken, die bis in die späten 1980er Jahre hinein das Medium in seiner künstlerischen Nutzung prägten. Einerseits löst sich die Rahmenvorgabe – die bei den Monitorskulpturen etwa von Nam June Paik, Bruce Nauman, Marie-Jo Lafontaine oder auch Bill Viola zunächst noch weitgehend intakt blieb – zunehmend in variable Bildfelder auf. Die Streuung multipler Projektionen, die Wände, Decken, Böden und freistehende Leinwände bespielen, verwandeln den statischen Rahmen der Black Box in ein Raumerlebnis der Unendlichkeit. Mit cinematografischen Formaten entstehen kaleidoskopartige Panoramen aus Bewegungsbildern, in denen die Protagonisten überlebensgroß agieren und in scheinbar leibhaftiger Präsenz den Raum wie eine Bühne bespielen. Andererseits wandeln sich die reduzierten Aktionsmuster früherer Videoarbeiten von einer kaum von Regie gekennzeichneten »Aufzeichnungsästhetik« in theatrale Mikrodramen, die– wie in den Arbeiten Tony Ourslers, Monika Oechslers oder Eija-Liisa Ahtilas – das Publikum in eine psychologisch aufgeladene Erzählstruktur und fingierte Dialogsequenzen verwickeln und dessen Rolle zwischen der von Augenzeugen und potentiellen Mitspielern zum Oszillieren bringt. Diese Art der »Rezeptionsästhetik«, der Michael Fried den Vorwurf der künstlerisch bereits einkalkulierten »Betrachterfiktion« machte, basiert auf einer ausgeprägten Rezeptionspsychologie, die ihre performative Disposition den frühen dokumentarischen Videoaufzeichnungen von Bruce Nauman, Vito Acconci, Chris Burden oder Joan Jonas insofern vergleichbar macht, als sie die Aktion als vereinnahmendes Erlebnis durch eine medial überdeterminierte körperliche Präsenz der (virtuellen) Protagonisten auf die (realen) Betrachter übertragen und über die physischen, psychischen und institutionellen Rahmenbedingungen den Eindruck einer Real-Live-Situation implizieren. Anfang der siebziger Jahre erweiterten Film und Video das visuelle Spektrum der von Performance und Aktion geprägten Tendenzen, indem sie sich als Medien ›zwischen‹ Künstlerinnen und Publikum schoben. In der Betonung auf ›presence and place‹ war die Unmittelbarkeit der Anwesenheit von Performer und Publikum ursprünglich das Hauptcharakteristikum dieser in den 1960er Jahren aufkommenden Kunstformen. In den Möglichkeiten der Videoperformance haben sich diese situativen künstlerischen Ausdrucksformen experimentell weiterentwickelt und im Zusammenspiel der Aktion mit den Aufzeichnungsmedien in komplexen Inszenierungsformen fortgeführt, ohne dabei grundsätzlich auf die ›Aura‹ des Live-Acts als Orientierungspunkt des Publikums zu verzichten. Frieds Kritik an der Betrachterspezifik minimalistischer Kunstwerke, ihre Abhängigkeit vom Publikum als Resonanzfigur und damit dessen insgeheime Aufwertung zugunsten des eigentlichen ›Werkes‹, wird durch eine bewusst eingesetzte Theatralität in den Arbeiten der 1990er Jahre, die nicht allein auf die Bedeutung der Zeitbedingtheit des Mediums Video verweist, sondern gerade das Verhältnis zwischen Betrachter und künstlerischer Formulierung als ein explizit performatives Bezugsverhältnis akzentuiert, souverän unterlaufen. [8]

Dan Graham

Ein früher Ansatz, diesen Übergang, bzw. Bruch zwischen Darstellung und körperlicher Erfahrung experimentell zu untersuchen, findet sich in Dan Grahams Installation »Body Press« (1970–72): Ein Mann und eine Frau stehen Rücken an Rücken in einem mit Spiegeln ausgekleideten zylinderförmigen Raum und führen jeweils eine Kamera um ihre nackten Körper herum. Nachdem die beiden Akteure an einem bestimmten Punkt die Kameras ausgetauscht haben, setzen sie die Performance fort, während die Bilder als Projektion auf den jeweils gegenüberliegenden Wänden des Raumes erscheinen. [9] Die Betrachter werden mit den nahezu lebensgroßen Körperdokumentationen konfrontiert, deren dreifache Spiegelung die unterschiedlichen Gesichtspunkte der Akteure, der Kamera und der Beobachter repräsentieren. Die kubistische Aufsplitterung der Ansichten, dient dazu, die entschwundene physische Taktilität der Performance in die filmischen Bilder hineinzuholen und die Darstellung der Körper, sowohl in ihrem Verhältnis zum Realraum als auch zum Projektionsraum, in dem sich die Besucher der Installation befinden, in einer ›bildsprengenden‹ Dynamik so zu verdichten, dass die filmische Repräsentation in Richtung skulpturaler Raumpräsenz tendiert. [10] Die hier angedeutete Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und dessen Relation zur Architektur und zum Medium als virtuelle Fortsetzung des (öffentlichen) Raumes, nimmt die zeitverzögerten Videoinstallationen und verspiegelten, semi-transparenten Raumkonstruktionen Dan Grahams, in denen Betrachter und Betrachtergegenstand unter den Bedingungen der Mehrfachspiegelung miteinander verschliffen werden, vorweg und zwar nicht mehr in einer Apotheose des Bildgeschehens, sondern vielmehr durch die Verunklärung der Sphären des beweglich-aktiven Körpers und dessen Reflexionen. Ähnlich wie in Dan Grahams späteren Spiegel-Environments, erfährt sich der Betrachter in den Projektionsräumen der post-cinematischen Ära nicht mehr nur als ›Blick‹, sondern auch als körperlich-konkretes Subjekt, da die Dynamisierung des Raumes eine Verräumlichung der Zeitebene bedingt, die in den bewegten Bildern der Projektion neu zum Tragen kommt.

Steve McQueen

Mit ähnlichen Möglichkeit der Betrachteraffizierung arbeite auch Steve McQueen in seiner Installation »Deadpan« (1997). Wie in vielen vergleichbaren Arbeiten der neunziger Jahre ist hier das Filmbild in einem abgeschlossenen, dunklen Raum, wandfüllend von der Decke bis zum Boden projiziert. Mit Steve McQueen als Darsteller zeigt der Schwarz-Weiß-Film in einem ununterbrochenen Loop eine Szene, die sich als Re-Inszenierung eines Slapsticks aus einem populären amerikanischen Stummfilm zu erkennen gibt. Der Rolle Buster Keatons in der Komödie »Steamboat Bill Jr.« nachempfunden, steht er bewegungslos mit dem Rücken vor einer Hausfassade, die sich langsam in Richtung seines Körpers senkt, ihn dann aber überraschenderweise unversehrt lässt, weil eine Fensteröffnung genau an der Stelle die Wand durchbricht, an der er sich befindet. Die Unterkante der Projektion schließt mit dem Fußboden des Installationsraumes ab, so dass es aussieht, als falle die Hauswand in den (realen) Raum hinein – bzw. im Gegenschuss aus den Installationsraum heraus. Die Szene wiederholt sich vier Minuten lang ohne Ton. Die Fächerung des Blickwinkels in verschiedene Kameraperspektiven und die Dramaturgie, die durch die Steigerung der Fallgeschwindigkeit der Hausfassade gegen Ende des Loops eine Intensivierung des immer gleichen Geschehens in der körperlichen Eigenwahrnehmung des Betrachters bedingt, insistieren geradezu auf der »physischen Taktilität des cinematischen Erlebnisses« [11] , das Steve McQueen mit eigenen Worten beschreibt: »Indem der Film so an die Rückwand der Galerie projiziert wird, dass er sie von der Decke bis zum Boden und von der einen Seite zur anderen gänzlich ausfüllt, erhält er eine Art umgreifender Wirkung. Man wird in das Geschehen hineingezogen. Es soll eine stumme Erfahrung sein, denn wenn die Leute den Raum betreten, nehmen sie sich selbst stärker wahr, ihren eigenen Atem. Ich möchte die Leute in eine Situation versetzen, in der sie sich selbst spüren, während sie das Stück sehen.« [12] Forciert wird dieser Effekt durch die Reflektionen des Bildes auf dem Boden der Black Box, der für die Betrachter frei begehbar ist und sie die »raumgreifende Resonanz« [13] des Projektionslichtes als physische Realität erleben lässt, je näher sie an dasBild und damit an das Geschehen herantreten. Rosalind Krauss’ Feststellung, dass die physische Distanz des Betrachters zum Bild in den Installationen James Colemans wie in einem »Blitzlichtgewitter« verloren geht, lässt sich als ein generelles Phänomen der Kunstgattungen, die mit Lichtprojektionen arbeiten, verallgemeinern, denn das Charakteristikum der Videobilder, selbst das Licht im Raum zu erzeugen, ist eine maßgebliche Ursache für ihre starke Anziehungskraft, die sie auf die Betrachter ausüben, wenn sie das Dunkel betreten. [14] Die slapstickartige und zugleich beklemmende Wiederholung der Szene in McQueens »Deadpan« zitiert die monotone Sprache der Aktionen der 1970er Jahre, die es darauf anlegten, »das Betrachter-Subjekt im Zentrum seiner psychischen Präsenz zu treffen.« [15] So könnte man das Angstmoment, das sich auch beim Zuschauer einstellt, wenn sich die Hausfassade gefährlich in Richtung des Akteurs senkt, etwa mit Chris Burdens Performance »Shoot« (1971) vergleichen, bei der er sich regungslos dastehend in den Arm schießen ließ, als nur eines aus einer Fülle von Beispielen vielfältiger performativer Ansätze, die seit den sechziger Jahren, auf pragmatische Weise die physisch-psychischen Reaktionen des Publikums zwischen Lust und Angst, Ekel und Erregung provozierten.

Projektions- und Suggestionsräume

Der bei McQueen verdeutlichte Zusammenhang zwischen Wiederholung, Dramatik und Affekt kennzeichnet die Black Box gegenüber dem kontemplativen Klischee des White Cube als Projektions- und Suggestionsraum des Psychologischen und Affektiven. Vergegenwärtigt man sich nochmals den Wirkungscharakter des White Cube: »Schattenlos, weiß, clean und künstlich – dieser Raum ist ganz der Technologie des Ästhetischen gewidmet,« [16] so besteht die Metaphorik der Black Box darin, mit der Ästhetik der neuen Technologien die Wiederkehr des Unterdrückten zu ermöglichen und zwar nicht nur in Affirmation der Bilderflut, sondern in Kompensation und De-Konstruktion der in der kommerziellen Medienästhetik ausgeschlossenen und verworfenen Bereiche. Somit wird das Museum u.a. zu einem neuen Aufführungsort cinematischer Experimente, die in den etablierten Institutionen der Distribution immerweniger Möglichkeiten der Präsentation finden. Die Film- und Videosequenzen der künstlerischen Installationen entwickeln ihre eigene visuelle Dynamik, indem sie sich wie traumatische Ereignisse bis hin zur Zwanghaftigkeit perpetuieren. Besonders in der Wiederholung einzelner Sequenzen tritt das Zeitmotiv als ästhetische Erfahrung zwischen Exzess und Reduktion – die durch die Verweigerung der Narration entsteht – in den Vordergrund.

Douglas Gordon

Douglas Gordon hat diesen Aspekt in seinen »Re-Makes« von Filmen wie Hitchcocks »Psycho« (1960) hervorgehoben, indem er die Abspielgeschwindigkeit auf 24 Stunden ausdehnt. Dadurch zerbricht das Kontinuum des Films und die nahezu bewegungslosen Bilder werden wie beispielsweise in »24 Hour Psycho« (1993) als eine Abfolge von Stills erlebt, die das Medium in den Zustand seines Rohmaterials zurückübersetzen, wobei der erzählerische Fluss zum Erliegen kommt. Der Doppelsinn, der in der Semantik des englischen Wortes »suspense« oszilliert, entspricht der Bedeutungsdialektik, die auf das Verfahren Douglas Gordons verweist: Durch die buchstäbliche Dehnung des Films, bei der auch der Ton verloren geht, setzt Gordon die lineare Erzählung, die für den Aufbau der Spannung gerade in den Filmen Hitchcocks von zentraler Bedeutung ist, außer Kraft und verlegt den Akzent auf die absolute Präsenz des Augenblicks, auf die Theatralität isolierter Handlungsmomente, Gesten und Posen, deren Isolierung in eingefrorenen, expressiven Ausdrucksschemata Akteure und Betrachter über ein affektives Bezugssystem miteinander in Beziehung setzen. Erst durch die technische Voraussetzung des Videorecorders wurde diese Art der strukturellen Sezierung des Films und dessen Verwendung als ›Ready Made‹ möglich, denn die Kaderstruktur des Films, die bei der Drosselung der Abspielgeschwindigkeit in Erscheinung treten würde, bleibt in der verlangsamten Videoversion verborgen. Gordon hat sich dieses Verfahren der ›Videoanalyse‹ zu Nutze gemacht, um wie ein Wissenschaftler die ›Symptomatik‹ des Films als Prüfstein unseres kulturellen Selbstverständnisses zu untersuchen. Dass extreme geistige Zustände, Psychosen, Ekstasen, Wahn- und Euphoriedarstellungen die Ästhetik seiner kompilierten Filmmaterialien dominieren, trägt zurpsychologischen Aufladung seiner Rauminszenierungen bei, besonders wenn darin die Projektionsflächen frei stehen und beidseitig bespielt werden, so dass die Zuschauer motiviert sind, sich um die Bilder herum zu bewegen. Dabei ist es unvermeidlich, dass die Körper der Betrachter von den Projektorstrahlen getroffen werden und als Schatten, »wie ein negatives Eindringen in die Inszenierung«, [17]16 schemenhaft ins Bild fallen. Im de-konstruierenden ›Re-Framing‹ des vorgefundenen Filmmaterials tritt nicht nur die Beziehung zwischen Regisseur/Künstler, Betrachter und dem Begehren, das die Bilder evozieren, in ihrer ausbeuterischen Grundkonstellation offen zu Tage [18] , sondern durch die Reduktion des Mediums auf seine elementaren Strukturen entsteht auch eine Wahrnehmungsirritation, die dafür sorgt, dass sich das Publikum selbst beim Sehen des (verfremdeten) Filmmaterials beobachtet und ein Bewusstsein für seine eigene synthetisierende Funktion bei der Rekonstruktion der Film-Geschichte(n) entwickelt.

Doug Aitken

Das ›Hineinnehmen‹ des Betrachters in das Werk erweist sich auf verschiedenen Ebenen als charakteristisch für die künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Bedingungen der cinematischen Medien. Weniger in kritischer Distanz zu den Medienpraktiken einer längst verinnerlichten Hollywoodästhetik, sondern in Aneignung und Steigerung ihrer Techniken, spekuliert Doug Aitken mit der totalen Sinnesabsorption des Publikums. Indem er die Besucher seiner Installationen auf eine fiktive Reise durch passagenartige Bildszenarien schickt, macht er die Illusionswirkung zum eigentlichen Fluchtpunkt des optischen Verlangens. Seine cinematischen Landschaftsausblicke, die sich wie Fata Morganas in überwältigenden Bildpanoramen eröffnen und deliröse Seh- und Raumerlebnissen wie Rauschzustände erzeugen, lassen sich bestenfalls mit dem Wort »vaste« aus Baudelaires »Gedicht über Haschisch« im Sinne einer grenzüberschreitenden Erfahrung von Unermesslichkeit fassen. Das Faszinosum, in eine ›andere Realität‹ einzutreten, ohne sich von den Koordinaten der ›real world‹ grundsätzlich zuverabschieden. Dieser immersive Charakter, der schließlich auch für viele Netzbenutzer ausschlaggebend ist, die sich mittels einer Stellvertreterfigur durch künstlich generierte Raumsysteme navigieren, ist in die rahmen- und raumsprengende Bildrhetorik von Aitkens Videoinstallationen als kultureller Erfahrungshorizont eingeflossen. Umgeben von Bildkulissen, die sich aus cinephilen Projektionen exotisch-mysteriöser Schauplätze und urbaner Landschaften zusammensetzen, erliegt das Publikum dem immersiven Sog des Bilderzaubers, der weniger auf die Offenlegung der Wirkungsweisen des filmischen Illusionismus abzielt, als den Erlebnischarakters absoluter Gegenwärtigkeit des Bildgeschehens beschwört und die Besucher selbst im Glorienschein einer Filmszene erstrahlen läßt, so dass sie denselben elektrisierenden Effekt verspüren, den der Protagonist in Aitkens »Electric Earth« (1999) als das ultimative Einswerden mit seiner Umgebung beim Tanzen schildert: »A lot of times I dance so fast that I become what surrounds me, that’s like food, that’s like I absorb the images, absorb the information, that’s like I eat it. That’s the only now I get.« [19]

Eija-Liisa Ahtila

Einen Sogeffekt ganz anderer Qualität erzielt die finnische Künstlerin Eija-Liisa Ahtila durch die wahnhaften Szenen ihrer Videoinstallationen, deren Requisiten im Raum, den Besuchern suggerieren, selbst zu Mitspielern in einer bühnenhaften Inszenierung zu werden – siehe »Anne, Aki and God« (1998). Während sie die Videobilder unglückseliger Akteure beobachten und deren z.T. bekenntnisartigen Geschichten verfolgen, transformieren sie zu Komplizen der intimen, melancholischen und psychologisch höchst dramatischen Situationen. Die häuslichen Utensilien verstärken einerseits den dokumentarischen Charakter der Szenen, während sie andererseits dazu beitragen, die vermeintliche Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Anteilnahme und Befremden in der Wahrnehmung der Betrachter zu durchbrechen und dadurch die Rollenverteilung zwischen Akteur und Zuschauer verwischen. Dieser Balanceverlust, den Ahtila in ihren Videoinstallationen durch die psychologische Aufwertung des Raumes erzeugt, bewirkt, dass die Betrachter sich wie reale Gesprächspartner in einem therapeutischenExperiment erleben. Die schimärenhaften Gestalten ihrer Video- Charaktere, die in unterschiedlichen Rollenverteilungen die Abgründe und Randzonen der menschlichen Seele verkörpern und zugleich den realen Betrachtern ihre ambivalente Rolle zwischen Fiktion und Wirklichkeit widerspiegeln, korrespondieren mit den Hauptdarstellern der Hitchcock-Überarbeitungen von Douglas Gordon. In ihrer emotionalen und psychischen Verlorenheit repräsentieren sie genau die Ortlosigkeit, die durch die totale Illusion, an einem anderen Ort zu sein, als Attraktion des Publikums in cinematischen Räumen eingesetzt wird. Analog etwa zur Künstlichkeit der Filmsets, die fiktive Räume jenseits von Realität und Fiktion sind und eine eigene Form der Theatralität beanspruchen3, weisen die künstlerischen Kennzeichnungen der Black Box alle Züge der Heterotopie auf, die Foucault in seiner Charakterisierung der »anderen Räume« erörtert hat. Jenseits geografischer Ortsfixierungen markieren sie die Grenzzonen des Gesellschaftlichen, die die Abweichungen und Krisen beherbergen, die zwar synchron zu den profanen Bereichen existieren, sich aber dennoch außerhalb herkömmlicher Zeit- und Raumdimensionen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten organisieren. [20] Diesem Konzept der Heterotopie vergleichbar, verkörpern die cinematischen Räume eine andere Welt, die mit dem Schwindel, der Illusion, dem Zustand der Orientierungslosigkeit korrespondiert, dem die Darsteller in Hitchocks »Vertigo« oder in Sidney Lumets »Dog Day Afternoon« ebenso wie deren Verfremdungsformen der »Re-makes« von Douglas Gordon oder Pierre Huyghe unterliegen.

Framing des Betrachters

Die jüngeren Entwicklungen im Bereich der elektronischen Bildgenerierung stellen neue Immersions- und Pratizipationstechniken zur Verfügung, die der künstlerischen Nutzung ein weites Feld eröffnen. Die aktuellen Arbeiten von Sam Taylor-Wood sprengen die Raum- und Zeitstrukturen nicht nur durch multiple, parallel ablaufende Projektionen und Erzählstränge, sondern erzielen durch die szenografische Verschränkung verschiedener Kamerablickpunkte, Bildsegmente und Audioimpulse eine »multiple-Blick-und-Hör-Ästhetik«, die eine aktiveWechselbeziehung zwischen Betrachter, den Videoaufnahmen und akustischen Einspielungen voraussetzt. Basierend auf dem Prinzip der Vervielfältigung der Blickpositionen durch den Einsatz verschiedener Kameras, die allesamt wie Apparate der Artikulation aufeinander reagieren, werden jeweils verschiedene Perspektiven einer Szene parallel projiziert, so dass die räumliche Kontinuität, die in Live-Fernsehproduktionen noch bestehen bleibt (obwohl diese auch mit mehreren Kameras arbeiten, die aber die Handlung immer nur von einer Seite aus übertragen) als auch durch die axiale Sehweise, die sowohl im Fernsehen als auch im Kino reproduziert wird, zerbricht. Diese Herausforderung an die normative Syntax des filmischen Mediums unterstützt zugleich die räumliche Präsenz der Handlungsmomente, die sich wiederum verstärkt an die synthetisierende Beteiligung der Zuschauer wendet. Über die Entkoppelung der Bedingungen des Mediums wird die gestaltende Rezeption derart gefordert, dass sich die verbindenden psychologischen und physischen Funktionen der Darsteller in der partizipierenden Rezeption der Betrachter erst vollenden. In dem Maße, wie die Betrachter zu Teilnehmenden der szenischen Inszenierungen werden, sind die von Michael Fried kritisierten Parameter der Rezeptionsästhetik zum eigentlichen Wirkungsprinzip geworden.

Sam Taylor-Wood

In den Arbeiten Sam Taylor-Woods bildet der Anspruch an die Kombinationsleistung der Betrachter das Hauptmotiv. Obwohl die lebensgroßen Projektionen über alle vier Wände des Raumes verteilt sind, formieren sie sich zu einer Geschichte, die im simultanen Nebeneinander der einzelnen Bildsegmente, die weder geschnitten noch montiert sind, lesbar wird. Dieses Prinzip gipfelt in ihrer Arbeit »Third Party« von 1999, in der man von sieben parallel sich ereignenden Szenen einer Party umgeben ist. Die Einzelbilder fügen sich zu einem räumlichen Kontinuum, indem einzelne Personen gelegentlich den fiktiven Raum durchmessen und zwischen den Projektionen fluktuieren – wenn beispielsweise der Arm einer Darstellerin im benachbarten Bildfeld erscheint, um sich Feuer von einem Mann geben zu lassen, der in dem benachbarten Bildfeld bis dahin isoliert erschien. Mit dieser Inszenierungstechnik multipler Projektionsflächen,deren räumliche Anordnung den diegetischen Rahmen ersetzt, wird die »ästhetische Grenze zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum« [21] überschritten. Mit dieser komplexen Bildregie wird die klassische Ordnung des Zuschauerraums, in dem die Betrachterinnen und Betrachter auf ihren Plätzen sitzend in statischer Pose das Geschehen auf der Leinwand beobachten, endgültig in einem allumfassenden Szenarium aufgelöst, indem die performative Involviertheit der Betrachter bereits durch deren Eintreten und Mobilität innerhalb des rundum bespielten Bildraumes angelegt ist. Der Künstlerin gelingt in dieser Staffelung der Dokumentationssegmente die buchstäbliche Verwandlung der Black Box zum Partyraum. Die physische Begegnung mit den lebensgroßen Darstellern in den Videosequenzen, aber auch mit den anderen anwesenden Betrachtern im Raum, lässt die Zuschauer sich ihrer eigenen Rolle als Akteure innerhalb der arenaförmig angelegten Rundumprojektionen bewusst werden. [22]

© Medien Kunst Netz 2004