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ThemenKunst und KinematografieWüsten des Politischen
Strudel und Wüsten des Politischen
Michelangelo Antonioni, Robert Smithson und Michael Snow
Tom Holert

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»Es gibt kein Zentrum der Signifikanz mehr, das in Beziehung zu expandierenden Kreisen oder einer expandierenden Spirale steht, sondern einen Punkt der Subjektivierung, der den Ausgangspunkt der Linie bildet.« (Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus)

Jahre der Wüste

Die Jahre um 1970 erlebten eine Konjunktur der Wüste. Nicht nur, weil die Bilder der öden Mondoberfläche die Existenz einer weiteren Wüste dokumentierten und damit zur großen Ernüchterung der Menschheit beitrugen. Mehr noch, weil begleitend zur Kolonisierung der außerirdischen Wüste die irdischen Wüsten mit Nachdruck ins Imaginäre einer globalen Populärkultur eingetragen wurden. In den späten 1960er Jahren wurde die Wüste zum Bauplatz spektakulärer earth works, die bildende Künstler wie Michael Heizer, Walter de Maria oder Robert Smithson seit 1968 bevorzugt in den Wüsten von Kalifornien, Nevada und Utah ausführten. Um 1970 brechen Rockmusiker wie Jim Morrison oder Gram Parsons in die Wüste auf. Ihr Ausgangspunkt ist Los Angeles, die Stadt,die immer schon von der sie umgebenden Wüste, »von ihrer Leere, ihrer Unwirtlichkeit und ihrer Funktion als Zufluchtsstätte für Freaks, Kult-Anhänger und Mörder« (Barney Hoskyns),[1] heimgesucht wurde. Doch der kulturelle Ort, an dem die Wüstenbilder förmlich explodierten, war – noch einmal – das Kino. In der Tradition der spätantiken Wüstendramen von John Ford oder Howard Hawks sah man Wüsten in amerikanischen Biker- und Roadmovies, in Science Fiction-Filmen und surrealistischen Kultstreifen.[2] Einmal mehr operiert die Wüste als semantisch vieldeutiges Heterotop der Leere, des Todes, der Versuchung, der Offenbarung, aber auch des Ursprungs, der Reinheit, der Läuterung. Eine lange religiöse und literarische Tradition, die im 19. Jahrhundert, etwa bei Nietzsche und Flaubert, als typisches Motiv der Moderne an Bedeutung gewinnt,[3] wird in den 1960er und 70er Jahre fortgeschrieben. Die traditionellen Wüstenkonzepte schillern im semantischen Spektrum von »Verlassenheiten« (deserta) und »Menschenleeren« (solitudines), »Stätte der Unfruchtbarkeit« (arena sterilis) und »unermesslicher Weisheit« (vastitas). Mit dem entsprechenden metaphorischen Besteck nähern sich Interpreten etwa den filmischen Variationen dieser Wüstenkonzepte. »Die Suche nach dem Archaischen ist die Suche nach dem Strand unter dem Pflaster«, schreibt Thomas Medicus 1982 in der Filmkritik über die Wüste bei Pier Paolo Pasolini und fährt fort: »Im zeichenlosen Raum der reduzierten Konturen […] wird die reale Wüste zur Metapher des Schicksals, denn hier wie dort ist nur das Notwendige, das Leere und Fülle zugleich enthält, wirklich.«[4] Solche Spekulationen über die existentielle, rhetorische und semiotische Charakteristik (mehr oder weniger) spezifischer Wüstenbilder ließen sich problemlos ausweiten. Aber die Wüste als Gegenstand von Ikonographie und Toposforschung, als »Metapher des Schicksals«, als »langlebige Metapher für Leute, die sich selbst neu erfinden oder am Rande eines fremden, außerirdischen Raums verloren gehen«,[5] soll hier nur insofern interessieren, als sie an den Kreuzungspunkten unterschiedlicher Diskurse in den späten sechziger, frühen 1970er Jahren strukturell-symbolische Funktionen übernimmt. Es ist zuviel über die Wüste geschrieben worden. Wahllos, metaphysisch hat man sie überall entdeckt.In der »landscape perspective« (W.J.T. Mitchell) betrachtet, wird »die Wüste« zum Baustein einer endlosen Komparatistik.[6] Immer neue Aspekte tauchen auf, die durch das Konzept der »Landschaft« strukturiert und kontrolliert werden. Die Wüste – ein kulturhistorischer Themenpark. Andererseits kann nicht genug geschrieben werden über das spezifische Regime der Wüste, die Mischungen, die sie eingeht: mit politischen Programmen und ästhetischen Praktiken; mit Kitsch, Ideologie, Religion und anderen Elementen, die aus dem Diskurs über die Landschaft auch einen Diskurs über Subjektivierung und deren Krise machen können. Denn die Wüste, als kulturell produzierter Raum ebenso wie als Natur-»Ereignis«, ist gleichermaßen ein Gebiet der Selbstfindung und der Erschütterung von Identität. Die Wüste ist bedrohlich, aber man kann auch mit der Wüste drohen. Im Gang in und durch die Wüste (und von ihr ausgehend) lässt sich eine Epistemologie entwickeln, die das Denken von Gesellschaft und Stadt gefährlich überschreitet. Diese kritische Epistemologie der Wüste (die u. a. auf eine Krise des Subjekts zurückführbar ist) kann sich in einer besonderen Art des Wüsten-Snobismus manifestieren (die u. a. das Ergebnis eines Regenerationsprozesses des erschütterten Subjekts darstellt). Oder in einer jener »speziellen Beziehungen zwischen Mensch, Maschine und Wildnis«, auf die der Architekturhistoriker Reyner Banham in seinem Buch über »the Great American Desert« verweist.[7] Um zwei derartige Dispositive soll es im Folgenden gehen: In ihnen verschränken sich Topografie und Technologie, Handlungsmodelle und Zerfallsszenarien, das Politische und das Filmische.

Desert People – »Zabriski Point« von Michelangelo Antonioni

Der italienische Regisseur, der ähnlich beharrlich wie Pasolini, wenn auch auf ganz unterschiedene Weise, Wüsten und wüstengleiche Landschaften als kinematographisch-psychologische Zeichenkomplexe entwickelte, war Michelangelo Antonioni. Filme wie »L’Avventura« (1960), »Il Deserto Rosso« (1964), »Professione: Reporter« (1975) sind stark variierende Einsätze der Wüste als Traumbild, Paralleluniversum, Projektionsfläche, Urlandschaft, postapokalyptische Welt und Wirklichkeitsbeschreibung. »Zabriskie Point« (1970) markiert einen Höhepunkt dieser Wüstenästhetik. Zugleich macht Antonioni die Wüstezum Schauplatz von reziproken Prozessen der Subjektivierung und der Politisierung. Kein Spielfilm hat stärker die kathartischen Effekte thematisiert, die in der Wüste auf die amerikanische Jugend der sechziger Jahre warten – und keiner hat dafür mehr Kritik erfahren. Die Wüste mobilisiert: mit Auto, Flugzeug und Kamera brechen die Akteure, Antonioni und seine Darsteller, ins Death Valley auf. Ihr motorisiertes Umherschweifen mündet (zunächst) in der kollektiven Ausschweifung. Die berühmt-berüchtigte »Love Scene« in »Zabriskie Point« zeigt die beiden Protagonisten (gespielt, oder besser: verkörpert von Daria Halprin und Mark Frechette) beim Sex in den Sanddünen am Zabriskie Point, dem titelgebenden Aussichtspunkt im Death Valley. Der Sex ist halluzinatorisch, eine utopische Dimension deutet sich an. Und das Paar bleibt nicht mit sich allein. Die Wüste wird libidinös bevölkert: Zu den Klängen einer ausladenden Gitarrenimprovisation von Jerry Garcia wälzen sich weitere Nackte irreal durch den Sand. Antonioni hat sie bei einer freien Theatergruppe in San Francisco rekrutiert. Ausgerechnet die Wüste, dieser vermeintlich menschenfeindlichste aller Orte, wird zur Bühne von befreiter Liebe und ungebundener Körperlichkeit. Wie Antonioni diese Befreiung inszeniert (nämlich als ätherischen Werbeclip für das Weltanschauungsprodukt »Free Love«), kann man allerdings zu dem Urteil gelangen, dass es sich hierbei um »the ultimate in the pretentious bluff« handelt, um »ideology at its worst«, wie Slavoj Zizek findet.[8] In der Tat scheint Antonioni zu bluffen, wenn er vorgibt, die Beweggründe und Perspektiven der amerikanischen Gegenkultur verstanden zu habe. Seine detaillierten Kenntnisse des entfremdeten italienischen Bürgertums, das an einem »kranken Eros« (Antonioni) leidet, kommen hier in einem Umkehrschluss zur Anwendung.[9] Schon während der Dreharbeiten wurden Antonionis sozialrevolutionäre Ideen über die Hippie-Jugend und ihre destruktiven, polymorph-perversen, antireformistischen Motivationen publik gemacht. Monate, bevor Metro-Goldwyn-Mayer »Zabriskie Point« am 9. Februar 1970 in die Kinos brachte, wurden die Erwartungen an den Film und Antonionis »bizarre vision of our youth« (Look, 23. November 1969)[10] in der Vorberichterstattung geschürt.[11] In einem Interview mit Charles Thomas Samuels von 1969 vergleicht derdamals 57-jährige Antonioni die Hippies mit den Magie-gläubigen Bauern aus Calabrese, denen er 1949 die Dokumentation »Superstizione« gewidmet hatte: »Ich glaube, diese Ähnlichkeiten hängen mit dem Begehren der Hippies zusammen, die gegenwärtige Gesellschaft nicht zu reformieren, sondern zu zerstören, und damit in die Vorzeit zurückzustoßen, zu einem ursprünglicheren, reineren, weniger mechanischen Leben […].«[12] So gehen die Phantasien ›Zivilisationsflucht‹ und ›Zivilisationsvernichtung‹ Hand in Hand. Die psychedelischen Slow-Motion-Explosionen der modernistischen Wüsten-Villa (zu »Come in Number 51, Your Time Is Up« von The Pink Floyd) am Ende des Films werden an die Aufführung der kollektiven Ekstase der »Love Scene« im Death Valley zurückgebunden. Die Stichworte lauten: tabula rasa, Neuanfang, Urgesellschaft, Neoprimitivismus.

Wüste als Labor

Einmal mehr wird die Wüste als Ort der Sprengungen und Verschwendungen konzipiert. Im Kriegsjahr 1942 flog General Patton über die Wüsten von Kalifornien, Nevada und Arizona, um Territorien zu suchen, die für Munitionstests geeignet sind. Patton »betrachtete die Wüste als ›leer‹, und er füllte diese Leere mit einem Wüstentrainingszentrum, das 16.200 Quadratmeilen groß war.«[13] Ebenfalls in der Wüste des Südwestens wurden die Atombombentests der vierziger Jahre durchgeführt. Ereignisse und Aktionen in der »leeren« Wüste, heißt das auch, bleiben ohne Konsequenzen. Mensch und Material werden auf den Krieg vorbereitet; die Wüste dient als Arena des Probehandelns. Im Prinzip übernehmen Antonioni und die anderen Regisseure der Wüste dieses geostrategische Verständnis. Nur sehen sie in der Wüste kein Übungsgelände für militärische Waffensysteme, sondern ein Testfeld (mehr oder weniger explosiver) Lebensentwürfe. Die Wüste als Labor: Experimentiert wird mit existentiellen, ästhetischen und sozialen Modellen. Wobei die Wüste eine besondere Form der Deterritorialisierung zivilisatorischer Ordnungs- und Raumvorstellungen verspricht. Gilles Deleuze und Félix Guattari unterscheiden zwischen einem »gekerbten«, begrenzten Raum und einem »glatten«, entgrenzten Raum. Der »glatte« Raum, das ist die Wüste, die Steppe oder das Meer. Er wird bewohnt und besetzt durch dieNomaden. »Die Nomaden sind da, auf der Erde, wann immer sich ein glatter Raum bildet, der alles zerfrisst und sich in alle Richtungen auszubreiten versucht. Die Nomaden bewohnen diese Orte, sie bleiben an diesen Orten und lassen sie in dem Sinne wachsen, wie man sagt, dass die Nomaden ebenso die Wüsten schaffen, wie die Wüste sie geschaffen hat. Sie sind ein Deterritorialisierungsvektor.«[14] Den Nomaden in der Definition von Deleuze und Guattari entspricht die indianische Urbevölkerung, für die Zabriskie Point im Death Valley ein mythischer Ort ist. Sie sind keine Touristen oder Stadtflüchtlinge, keine »Sesshaften« oder »Migranten«, sondern Role-Models der Hippiekultur bis in ihre exzessiven Verästelungen hinein: Suchte nicht Charles Manson 1968 im Death Valley obsessiv nach einem geheimnisvollen Wüstenvolk? Stundenlang harrte Manson vor Erdlöchern aus und wartete auf ein Lebenszeichen dieses Volks, das der Hopi-Mythologie zufolge in einer unterirdischen »dritten Welt« lebt.[15]

Antonionis Vision des Politischen

Peripatetische Funktion hat der Augenblick in »Zabriskie Point«, als Daria Halpring auf eine Vertreterin der indianischen Urbevölkerung trifft. Kurz vor Ende des Films begegnet ihr im Haus des Besitzers eines Immobilienunternehmens, das auf den Bau von Appartmentanlagen in der Wüste, dem Territorium der indianischen Nomaden, spezialisiert ist, eine native american – als Hausangestellte. Der Blickwechsel mit der lächelnden Frau in ihrer Zimmermädchen-Uniform markiert den vorläufigen Höhepunkt eines Prozesses der Politisierung. Er gipfelt in Halprins anschließender, quasi-mystischer Vision einer spektakulären Sprengung des modernistischen Wüstenanwesens. Man könnte sagen: Die seherisch begabte Protagonistin (und die gegenkulturelle Zielgruppe des Films) empfand dieses Gebäude als Zumutung. Der Affront besteht in der kapitalistischen Reterritorialisierung des »glatten« Raums der Wüste. Die fiktive Desintegration des Anwesens war die ebenso radikal-poetische wie logische Konsequenz dieser Empfindung. Nichts verhindert die Identifikation mit der Wüste und ihrer nomadischen Bevölkerung mehr als ein derartigesMonument einer restriktiven Ökonomie und einer kolonialen Verdrängung. Nach Deleuze und Guattari ergeben sich laufend »Vermischungen« der unterschiedlichen Existenzformen der »Nomaden«, der »Migranten« und der »Sesshaften«. Sie bezeichnen diese »Vermischungen« als Prozesse des »Sesshaftwerdens« oder als »Schübe an lokaler Nomadisierung«.[16] »Zabriskie Point« strebt eine solche »Nomadisierung« seiner Hauptfiguren an. Am augenfälligsten ist hier die Metamorphose von Daria, der Mittelklasse-Tochter, die von Antonioni als neoprimitives Naturkind im erdfarbenen Lederkleid gestaltet wird. Ihre sukzessive Entfernung von den eigenen Ursprüngen führt nicht nur zur mitfühlenden Identifikation mit der indianischen Hausangestellten; sie identifiziert sich auch zunehmend mit dem Sand und den Felsen, also mit der Geologie der Wüste selbst. Dieser Entfremdung in Richtung Natur korrespondieren die Bewegungen im geographischen Raum. Aus der Stadt Los Angeles, aus den Versammlungen der politisierten studentischen Gegenkultur und der schwarzen BürgerrechtlerInnen, aus den Planungsbüros der Immobilienspekulanten, den Geborgenheiten einer mittelständischen Jugend und den prekären Umständen einer proletarischen Existenz fliehen die Protagonisten in die Wüste. Dort finden sie die Orgie, die Zerstörung, aber auch die Vision einer neuen Kollektivität. Antonioni assoziiert mit »seinen« Hippies das Projekt einer anarchistischen Aufkündigung territorialer Festlegungen und politisch-ideologischer Verträge. Eingrenzungen werden aufgehoben, Räume jenseits von modernen Besitzansprüchen und kulturellen Prägungen entstehen. Es lockt das Bild einer ursprünglicheren Form des Zusammenlebens. »Zabriskie Point« versucht, die Idee dieses anderen Sozialen mit Anschauung zu füllen. Tritt gar jenes »künftige Volk« in Erscheinung, das mit der bevölkerten Einsamkeit der Wüste verknüpft ist?[17] Deleuze hält die Frage nach dem »Volk, das fehlt« (und immer schon unterdrückt ist), die Frage nach diesem »Gegenteil« des »Staates«, für die Grundfrage des modernen »politischen« Films.[18]

Wahrnehmungsdispositiv Wüste

Nun laufen aber die filmischen Repräsentationen der Wüste und der Verwüstungen Gefahr, das Territorium zu rekonstituieren, Darstellbarkeit zu sichern, die Ordnung des Blicks wiederherzustellen. Exemplarisch bildet die befestigte Panoramaterrasse am Zabriskie Point zusammen mit dem Cinemascope-Anblick der Wüste und den literarisch-touristischen Diskursen ein quasi-filmisches Wahrnehmungsdispositiv.[19] Lange hält die Kamera auf eine große hölzerne Schrifttafel, die die prähistorische Geschichte des Death Valley und seine geologische Zusammensetzung erklärt. Eine Gebrauchsweisung für das Naturwunder, das sich als Effekt der Geologie entpuppt. »Hier im Death Valley fehlt nicht einmal die kinematographische Raffung«, schreibt Jean Baudrillard in seinem »Amerika«-Buch. »Die ganze Intelligenz der Erde und ihrer Elemente ist hier in ein Schauspiel ohnegleichen, in eine geologische Superproduktion gefasst. Nicht nur das Kino hat uns eine kinematographische Schau der Wüste geliefert, sondern der Natur selbst ist lange vor dem Menschen ihr schönster Spezialeffekt gelungen.«[20] Antonioni versucht nun, seine Filmfiguren in Bewegung zu halten, die Orte und Blickpunkte zu wechseln, die Ästhetik der Wüste auszureizen, aber auch zu irritieren (was ihm seltener gelingt). Die Personen steigen in die Luft, fahren schnurgerade einsame Wüsten-Highways entlang. Ihre motorisierten Fluchtlinien werden immer wieder unterbrochen: durch Benzinmangel, Sex, Polizisten. Aber soviele unterschiedliche Gangarten und Transportformen auch gewählt werden: Der Weg in und durch die Wüste ist unwiederbringlich gepflastert mit den Klischees der Gegenkultur, den Modellen der Immobilienspekulanten und den Anlagen des Tourismus. Die Wüste als »natürliche« Situation des Nomaden wird zur natürlichen »Architektur« der städtischen Wüstenreisenden. Die Wüste als vermeintlicher »Raum der Authentizität« (Neal Ascherson)[21] erweist sich als Zeichenraum, als ideologischer Raum und als mediascape, als medialisierte Landschaft, als »vierte Natur«.[22]

Aerial View

Nichtsdestoweniger wurde die Wüste in den 1960er Jahren weiterhin als kulturfreier, »zeichenloser Raum der reduzierten Konturen« (Medicus) rekonzipiert. Den (post-)minimalistischen Interventionen von earth artists wie Dennis Oppenheim, Michael Heizer oder Walter de Maria lagen nicht zuletzt modernistische Vorstellungenvon Leere und Reinheit, vom wide white space zugrunde.[23] Die spektakulären, im Sinne von Jean Baudrillards Wüstenbegriff »kinematographischen« Interventionen von Künstlern wie Heizer und de Maria beruhen darauf, Ursprungsmythen, Befreiungsversprechen des Minimalismus und modernistische Vorstellungen von der Wüste als einer immer schon perfekten Riesenskulptur einander anzunähern. Der dominierende Blick auf die Wüste als grandioser Natur (und auf die earth works der Wüstenkünstler) ist der Blick von oben, der »aerial view«. Am Boden ist die/der Einzelne verloren, dezentriert, desorientiert; aus der Luft erschließt sich ein unermessliches Feld der strategischen und ästhetischen Einschreibungsmöglichkeiten. Zugleich kann das Fliegen die Aufhebung jedes »visuellen Modells« bewirken, eine kontinuierliche Variation der Richtungen und Anhaltspunkte ermöglichen. Deleuze und Guattari erwähnen unter anderem die Kunstfliegerei, als sie sich an der Definition einer »nomadischen Kunst« versuchen: Durch das Fliegen ändere der Boden unaufhörlich seine Richtung.[24] Und war nicht Antoine de Saint-Exupéry, einer der großen Wüsten- Poeten des 20. Jahrhunderts, vor allem Pilot? Die Perspektive des Flugzeugs, des Hubschraubers oder des Satelliten ist überdies eine zutiefst männliche – das unterstreicht auch »Zabriskie Point«: Während die Frau am Boden in einem alten Auto durch die Wüste fährt, erhebt sich der Mann im gestohlenen Privatflugzeug über das Gelände. Die Filmzuschauer fliegen mit, erhalten die Möglichkeit, die Landschaft als geographischkartographisches Relief zu erleben. Am Boden müssen hingegen immer wieder Landkarten bemüht werden, um die fehlende Aufsicht zu kompensieren und Orientierung zu ermöglichen.

»Spiral Jetty« von Robert Smithson

Ähnlich anthologisch wie »Zabriskie Point«, der einen ganzen Katalog der Bewegungs- und Orientierungsweisen in der Wüste präsentiert, ist der Film »Spiral Jetty« von Robert Smithson organisiert. Der New Yorker Künstler moduliert hier das Verhältnis von De- und Reterritorialisierung auf neuartige Weise. Seine Konstruktion von »Wüste« unterscheidet sich wesentlich von minimalistischen Szenarien des Nullpunkts, der Leere und des Erhabenen. Trotzdempartizipiert Smithson an dem Projekt einer »nomadischen Kunst« der Dezentrierung und der bodenlosen »Kunstfliegerei«. Der einstündige Film wurde im Frühjahr/Sommer 1970 gedreht. Mit »Spiral Jetty« sollte Smithsons gleichnamige Erdskulptur in der Salzwüste von Utah nicht nur dokumentiert, sondern vor allem kommentiert und re-kontextualisiert werden. Der Film erhält so den Status eines eigenständigen Werks in einem größeren Gewebe von ästhetischen Akten.[25] Im April 1970 hatte Smithson seine spiralförmige Mole aus über 6000 Tonnen Erdreich und Felsen am nordöstlichen Teil des Great Salt Lake bauen lassen, der Film wird erstmals im November 1970 in der Dwan Gallery in New York aufgeführt. Er zeigt, wie Bulldozer und Kipplader die Mole aufschütten, und sich dabei immer weiter in das rötlich gefärbte Wasser vorarbeiten; er zeigt unterschiedliches kartographisches Material (der aktuellen Geographie, aber auch prähistorischer Kontinentalverschiebungen), die Anfahrt mit dem Auto auf einer einsamen Wüstenpiste, Filmbilder aus der »Hall of Late Dinosaurs« im American Museum of Natural History in New York, einen Stapel mit Büchern, die für die Konzeption des Projekts wichtig waren;[26] man sieht einen Mann (Smithson selbst), der über die vollendete Spiralmole läuft, verfolgt von der Kamera; irgendwann erhebt sich der Kamerablick, Hubschraubergeräusche setzen ein, in kreisenden Bewegungen steigt die Kamera in die Höhe, während Smithson weiter laufend, stolpernd, hüpfend die ca. 470 Meter der Aufhäufung absolviert; die Abendsonne bricht an, die Kamera blinzelt ihr zu, sämtliche Lichtverhältnisse werden durchgespielt; das Bild der Sonnenexplosionen, mit dem der Film angefangen hat, wird durch die Gegenlichtaufnahmen der Sonne am Ende wieder aufgenommen; die letzte Einstellung zeigt ein Foto des Schneideraums, in dem der Film geschnitten wurde; an der Wand hängt ein Foto der Erdskulptur »Spiral Jetty«, auf das die Kamera zoomt. Der Film wird aus dem Off durch die Geräusche von Fahrzeugen und Hubschraubern sowie die Stimme von Smithson ergänzt. Letztere liest Texte aus naturwissenschaftlichen, kartographischen, literarischen Werken. Diese zusätzliche diskursive Schicht fügt sich zur Ebene des visuellen Filmmaterials, das seinerseits aus unterschiedlichen Quellen stammt und unterschiedlichen Status besitzt. So werdenverschiedene diskursive Felder collagenhaft kontrastiert und verknüpft – zu einem jener »Haufen Sprache«, die für Smithson die krude Materialität des Diskursiven bezeugen.[27]

»Zabriskie Point« und »Spiral Jetty«

»Zabriskie Point« und »Spiral Jetty«? Auf der einen Seite der Versuch eines Vertreters des europäischen Nachkriegsmodernismus, die Widersprüche der US-Jugend in einer Parabel über die Flucht vor den urbanen Politisierungen in die inneren und äußeren Wüsten der individuellen Anarchie zu fassen; eine der letzten Großproduktionen des alten Hollywood-Studiosystems, die ökonomisch katastrophal endete (MGM sollte sich von dem finanziellen Debakel, zu dem sich »Zabriskie Point« auswuchs, nicht mehr erholen). Auf der anderen Seite der filmische Essay eines New Yorker Künstlers aus dem Umkreis der Minimalisten, entstanden unter den Bedingungen des Galeriensystems; einem Film, der sich wie ein Para- oder Metatext zur Skulptur »Spiral Jetty« verhält und in dem die symbolischen und semantischen Potentiale einer künstlerischen Intervention auf offenem Wüstengelände auseinanderlegt, montiert und nach Smithsons präzise ausgearbeiteten Storyboard- Vorgaben komponiert werden. »Zabriskie Point« und »Spiral Jetty«? Eine andere Kunst, ein anderes Kino – sicher … Zudem zwei äußerst unterschiedliche Konzeptionen von »Wüste«: hier die weiße Sandwüste des Death Valley, dort die weit weniger »kinematographische« Salzwüste des Great Salt Lake. Aber die beiden Filme formieren sich trotzdem zu einem interessanten Ergänzungsverhältnis (das sich nicht nur der historischen Koinzidenz verdankt[28]). Beide partizipieren an einer Re-Diskursivierung der Wüste als cinematischer und künstlerischer Option um 1970; ihre sehr unterschiedlichen Herangehensweisen könnten Aufschlüsse darüber geben, wie die Wüste sich einerseits immer mehr vom Motiv zum Dispositiv veränderte, andererseits aber auch zum Ort und zur Funktion eines gesellschaftlichen und ästhetischen Projekts erwählt wurde. Die Wüste (désert, desert) in ihrer Funktion als Ort, in den man desertiert, ist auch ein Ort des Politischen, und sei es in der Verweigerung jener Artikulation des Politischen, die am Anfang von »Zabriskie Point« in der Diskussion zwischenStudentInnen und Black-Panther-VertreterInnen gezeigt wird. Der Politisierungsdruck in den USA um 1970 war hoch, Vietnam, Bürgerrechtsbewegung, das sich abzeichnende Ende des Summer of Love, Kent State … Diese Verschärfung und Verdüsterung der Lage betraf in zunehmendem Maße auch die Kunstwelt. Diskussionen um die gesellschaftliche Funktion der Kunst und ihrer Legitimation angesichts von Krieg, Rassismus und sozialen Bewegungen erreichten schließlich sogar die Bastionen eines selbstreferentiellen und a-politischen Modernismus.

Smithsons politische Position

Im September 1970 veröffentlichte die Zeitschrift Artforum die Ergebnisse einer Umfrage. Unter dem Titel »The Artist and Politics: A Symposium« erkundigte man sich nach den Arten der politischen Aktion, die von KünstlerInnen angesichts der »deepening political crisis in America« unternommen werden sollten.[29] In alphabetischer Reihenfolge wurden Beiträge von Carl Andre, Jo Baer, Walter Darby Bannard, Billy Al Bengston, Rosemarie Castoro, Rafael Ferrer, Donald Judd, Irving Petlin, Ed Ruscha, Richard Serra, Robert Smithson und Lawrence Weiner abgedruckt.[30] Smithson spießt in seiner Antwort ironisch einzelne Formulierungen der Anfrage auf, verweist auf den religiösritualistischen Charakter von politischem Engagement und revolutionärer Gewalt und entwirft apokalyptische Szenarien des Verfalls, der Anomie, der Entropie, der teuflischen Unausweichlichkeit also, mit der Politik, Gewalt und die Zerstörung der Erde zusammenwirken. Der desillusionierte Ton entspricht einer vermeintlich konservativen Position. Dan Graham spricht später von Smithsons Strategie der »Inversion«, der rhetorischen Umkehrung eines vorherrschenden humanistischen Liberalismus: »Bob war ein Politiker, und er hatte einen Instinkt für das Politische. Wenn er während der optimistischen sechziger Jahre eine rechte Position einnahm, geschah dies als Korrektiv eines adovcatus diaboli.« [31] Smithsons politische Agenda war ambivalent: Er begab sich in eine langwierige Auseinandersetzung mit der Ökologiebewegung, die der earth art sehr reserviert gegenüber stand, suchte aber auch den Konflikt mit der Bergwerksindustrie und deren Begriff von Landschaft und Natur.[32] Smithsons »criticality«[33]besteht nicht nur aus einer Strategie des Antizyklischen; er ist eher – auf sehr prononcierte Art – ein Anti-Politiker, der seine Beziehung zum Politischen und zu den aktivistischen Optionen der späten sechziger, frühen siebziger Jahre einer ständigen Prüfung unterzieht. Immer wieder versuchte er, dieses Verhältnis in ein anderes (subjektives, literarischpoetisches, philosophisches) Diskurs-Register zu übertragen. Politisches Handeln gerät dabei in den Sog der zentralen Smithson-Metapher des Strudels (whirlpool). Seinem Beitrag zur Artforum-Umfrage hatte Smithson mit dem Titel »Art and the Political Whirlpool or the Politics of Disgust« überschrieben (den die Redaktion bei der Publikation allerdings fortließ): »Die Aktionen schwirren so rasend schnell um einen herum, dass sie stillzustehen scheinen. Von einer tieferen Ebene der ›immer tieferen politischen Krise‹ aus laufen die besten und die schlechtesten Aktionen zusammen und umkreisen einen mit der Trägheit eines Strudels. Ohne je auf Grund zu stoßen, fällt man endlos in eine Art politischer Zentrifugalkraft hinein, die das Blut von Greueltaten auf diejenigen verspritzt, die für den Frieden arbeiten. Das Grauen wird so mächtig, so beklemmend, dass man von einem Gefühl des Ekels überwältigt wird.«[34] Ein von Bataille und Sartre inspirierter »Existenzialismus« verwirft hier Politik als Zumutung, als traumatisierende Gewalt, von der jede gutgemeinte Tat aufgezehrt und transformiert wird (was nicht zuletzt ein Problem des Konzepts der guten Absicht ist). Zugleich verfolgt Smithson aber gerade das Prinzip der entropischen Prozesse von Entgrenzung und Zerfall. Seine Kritik der Konzeptionen politischen Engagements richtet sich dagegen, künstlerische Zeit und ästhetische Aktivität einer ihr fremden Disziplin zu unterwerfen. Zugleich ist seine Position nicht eine der bloßen Transgression, der Überschreitung von Sinn und Rationalität in der jouissance. Vielmehr leitet sein Denken eine Dialektik von Kontingenz und Konsolidierung.[35] Handlungsfähigkeit und Subjektivität werden auf die Probe gestellt, an ihre Grenzen gebracht, aber nie verworfen.

Zerfallende Welt

Robert Smithson schafft mit den Instrumenten seiner theoretischen und künstlerischen Praxis wüstenähnliche Verhältnisse, in denen die Hinfälligkeitjedes zielgerichteten politischen Handelns evident ist. Smithsons Politik ist eine Politik der Wüste, wenn man unter »Wüste« einen diskursivmaterialen Raum versteht, etwa im Sinne jener »Ansammlung von Orten und Stellen, die unabhängig von einer zeitlichen Ordnung koexistieren«. Gilles Deleuze beschreibt als »beliebige Räume, abgelöste oder entleerte Räume« jene »›entdifferenzierten‹ urbanen Netze, weiträumigen, verlassenen Gebiete, Docks, Lagerplätze und Lagerhallen, Schrotthaufen und Berge von Eisenträgern«, die in den Filmen der Nachkriegsmoderne und vor allem bei Antonioni eine neuartige Umgebung visualisieren, in der sich die »modernen Affekte der Angst, des Desinteresses, aber auch von Frische, extremer Geschwindigkeit und endlosen Wartens entwickeln konnten.«[36] Smithson refiguriert diesen beliebigen Raum, reduziert die existentialistischen Aspekte, aber schöpft aus seinem entropischen Potential. Und er tut dies zu einem historischen Zeitpunkt, als das Präfix »de« zu dominieren beginnt – »de«, wie in dem englisch/französischen desert/désert, wie in Dezentrierung, De-Differenzierung, Depersonalisierung, dehumanization, dematerialization, Dekonstruktion. Die Wüste löst auf, trennt, entfernt. Besonders der Begriff der »Desintegration« gewinnt für die Beziehung von Wüste und Wahrnehmung an Bedeutung. In »A Sedimentation of the Mind: Earth Art«, einem Essay von 1968, leitet Smithson, der nie auf ein erlesenes Motto oder Zitat verzichten konnte, einen Abschnitt zum Begriff der Wüste mit zwei kurzen Zitaten ein.[37] Das erste lautet: »The world disintegrates around me« und ist einem Statement entnommen, das Yvonne Rainer im März 1968 dem Programmheft ihres Stücks »The Mind is a Muscle« beifügte. Der Satz steht im Kontext einer kurzen Selbstvergewisserung, in der Rainer die Position ihrer künstlerischen Arbeit reflektiert – im Verhältnis zu einer »Welt in der Krise«, in der das Fernsehen zeigt, wie ein Vietnamese erschossen wird, und eine militärische Organisation des Feminismus zu erwarten sei.[38] Das zweite Zitat lautet: »By Palm Desert springs often run dry.« Smithson hat es der Rückseite der Hülle von »Song Cycle« entnommen, dem ersten Soloalbum von Van Dyke Parks, einem ehemaligen Hollywood-Kinderschauspieler und jungen Songwriter-Genie aus Los Angeles, das bereits mit Brian Wilson vonden Beach Boys kooperiert hatte.[39] Es handelt sich um eine Textzeile aus dem Song »Palm Desert«, der das alte Hollywood mit den industriellen »banks of toxicity« in Beziehung setzt, einen Zerfall und ein Verblassen der frühen Filmära und deren Ersetzung durch Luxus-Wüstenoasen wie Palm Desert andeutet: »Meanwhile in the wild west of Hollywood age is losing hold.« Die »desintegrierende/zerfallende Welt« der New Yorker Künstlerin Yvonne Rainer ist die Wüste des Politischen, die Smithson zwei Jahre später, in seiner Antwort auf die Artforum-Umfrage, im Bild des lähmenden, abscheuerregenden Strudels fasst. Der Verlust des Alters bzw. Zeitalters und der Hinweis auf die austrocknenden Brunnen bei Van Dyke Parks thematisieren u.a. kalifornische Bodenpolitik und Umweltvergiftung. Zwei Sorten Wüste mithin: die Wüste des Politischen und die politisierte Wüste. Als diskursives Territorium bildet sie eine Art Schnittstellen-Topographie zwischen Moderne und Postmoderne, eine »Projektionsfläche« nicht nur für psychische und kulturelle Zustände, sondern auch für verschiedene Auffassungen von Natur, Landschaft, Humanismus, Subjektivität.

Moral der Spirale

In Alexandro Jodorowskys »El Topo« (1971) soll der gleichnamige Held (gespielt von Jodorowsky) als Beweis seiner Liebe zu einer Frau vier Meisterschützen töten, die in der Wüste leben. Bevor er mit seiner Begleiterin aufbricht, zeichnet El Topo mit einem Stock eine Spirale in den Sand und sagt: »Die Wüste ist ein Kreis. Wenn wir die vier Meister finden wollen, müssen wir in einer Spirale reisen.« Die Spirale wird somit als Figur einer kognitiven Geographie der Wüste empfohlen. Sie kann aber auch als das höchst polyvalente Modell des Verhältnisses von »Fluchtlinie« und »Subjektivierung« in der Philosophie von Deleuze und Guattari dienen: Die »Subjektivierung« konstituiert prinzipiell abschließbare, lineare Prozesse. Sie werden vom Tod oder vom Ende einer Leidenschaft begrenzt (und stoßen dann eine neue Subjektivierung an). Indes entwindet sich die »Fluchtlinie« der Segmentierung, der Einteilung, auch der Einkreisung – in mäandernden Schlangenlinien eines nomadischen Werdens. Deleuze und Guattari visualisieren diesen Wettlauf zwischen reterritorialisierender Subjektivierung unddeterritorialisierender Fluchtlinie mit Spiral-Diagrammen;[40] die Spirale und ihre Linien veranschaulichen die Potentiale der Sprengung und der Wiederherstellung von Sinn und Territorialität. »Ich wagte mich auf einen riskanten Weg; meine Schritte gingen im Zickzack wie ein spiralförmiger Blitz«, beschreibt Smithson seine Auto-Dezentrierung als Passagier und Benutzer, als Flaneur und Fliehender auf der »Spiral Jetty«.[41] Die »erratischen Schritte« werden für den Film, der seinerseits »eine Spirale aus Kadern« ist, von einem »Helikopter (vom griechischen helix oder helikos, »Spirale«)«[42] aus ins Bild gesetzt. Das rötliche Wasser des Salzsees erinnert an Blut, dessen chemische Zusammensetzung den prähistorischen Gewässern analog ist. So steigen wir die »spiral steps« (der DNS-Helix?) zu unseren Ursprüngen hinab, »zurück zu einem gallertartigen [pulpy] Protoplasma«.[43] Smithsons Entgrenzungsdiskurs erfasst mit viraler Energie alle Konzepte und Medien, die er in seiner Arbeit aufgreift und mobilisiert. Spirale und Strudel sind die negativen Pathosfiguren dieser Zerfallsästhetik. Wirbel und Spiralen spielen in Smithsons Werk eine Schlüsselrolle, sie sind ganz buchstäblich der Code, der zwischen Zirkularität und nomadischer Vektoralität vermittelt. Ebenso wie verwandte mäandernde, labyrinthische und pyramidiale Strukturen. Von spiralförmigen Fossilien bis zu den Nebelspiralen der Astronomie bleibt kaum eine Spielart unberücksichtigt. Smithson verweist auf jenen alten indianischen Mythos, demzufolge sich unterhalb des Great Salt Lake ein Strudel befindet, der eine unterirdische Verbindung zum Pazifik herstellt und damit die Merkwürdigkeit eines riesigen Salzsees im Landesinneren erklärt. Während das Bild einer Karte des Nordwestens von Utah zu sehen ist, einem Gebiet, das einst vom Lake Bonneville bedeckt war, verliest Smithson im Film »Spiral Jetty« aus dem Off einen Abschnitt aus einem Handbuch über die Geologie von Utah. Der Text berichtet, dass sich die Überzeugung von der Existenz eines gefährlichen Strudels erst in den 1870er-Jahren verflüchtigt habe.[44] Der Metaphernkomplex Spirale/whirlpool greift weit aus, erfasst unterschiedliche Wissensbereiche und historische Zeiten. »Indem er die Spiralform benutzt, um den mythischen Strudel der ersten Siedler nachzuahmen, inkorporiert Smithson die Existenz des Mythos in denRaum des Werks«, schreibt Rosalind Krauss. [45] Smithson konzipiert die Spirale als eine paradoxe Figuration der Defiguration. Sie wird zum Sinnbild einer Geometrie der Entropie. Und je nach Kontext kann es in ihren destruktiven oder befreienden Potentialen erkannt werden. Fast möchte man von einer Moral der Spirale sprechen. Einer Moral, die zwischen produktiven und destruktiven Verwirbelungen unterscheidet.

Sandkiste

In welcher Hinsicht ist nun die Wüste als offene Spirale oder geschlossener Kreis zu betrachten? »Die Wüste«, schreibt Smithson, »ist weniger ›Natur‹ als ein Konzept, ein Ort, der Grenzen verschlingt. Wenn der Künstler in die Wüste geht, bereichert er seine Abwesenheit und brennt das Wasser (die Farbe) von seinem Gehirn. Der Morast der Stadt verdunstet aus dem Geist des Künstlers, während er seine Kunst installiert. […] Ein Bewusstsein der Wüste operiert zwischen Entbehrung und Übersättigung.«[46] Die Wüste wird zum konzeptuellen Raum der Regeneration und Entgrenzung. Die Territorialität der Stadt macht einer Subjektivität der reichen Abwesenheit Platz. Diese Subjektivität ist nicht ohne Bild und Kostüm. Auf einem Foto, das Nancy Holt 1968 gemacht hat, fotografiert Robert Smithson in der kalifornischen Wüste am Mono Lake seinen Künstlerkollegen und Freund Michael Heizer. Die beiden drehten hier einen Super-8-Film und hatten sich mit ortsspezifischer Garderobe ausgestattet – mit Blue Jeans (Hose und Jacke), Stiefeln und weißen Hüten, als kinogerechte earth art-Cowboys, als Pioniere auf dem Weg zu einer neuen frontier (oder ins Gelobte Land, nach Kalifornien). Im gleichen Jahr 1968 relativiert Smithson, die »cinematische ›Erscheinung‹« habe irgendwann in den späten 1950er Jahren vollkommen überhand genommen. Er greift eine Bemerkung von Vladmir Nabokov über die »selbstzerstörerische Postkartenwelt« auf: Was man gemeinhin »Natur« nenne, sei mittlerweile in eine unendliche Zahl von »Filmstandbildern« transformiert worden.[47] Fotografie macht Natur obsolet.[48] Ein Jahr zuvor, in »A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey«, seinem Bericht von einem Ausflug in eine gänzlich unspektakuläre, »hässliche«, vergessene, zersiedelte, »postindustrielle« Gegend außerhalb von New York (eine »Utopie ohne Boden«), ist Smithsonschon einmal alles zum kinematischen Bild geworden. Die ausgezehrte Industrielandschaft mit Abwasserrohren und ausrangiertem Gerät (Antonionis »Il Deserto rosso« ist nicht fern), umschloss ihren Besucher wie ein Film. »Als ich über die Brücke ging, war es, als ginge ich auf einer riesigen Fotografie aus Holz und Stahl, und der Fluss unter mir war ein riesiger Kinofilm, in dem nichts zu sehen war, nur eine kontinuierliche Leere.«[49] Die suburbane Brachlandschaft wird nicht nur zur Kulisse, sondern selbst kinematisch, medial, ohne dass Smithson Kategorien wie »Traum« oder »Phantasie« bemühen würde. Die Distanz zwischen filmischer Visualisierung und Visualisiertem ist aufgehoben. Das letzte dieser filmischen »Monumente«, die Smithson auf seiner Tour aufsucht, ist eine Sandkiste auf einem Spielplatz. Er nennt sie »Modell-Wüste«: »Unter dem toten Nachmittagslicht von Passaic wurde die Wüste zu einer Landkarte des unendlichen Zerfalls (disintegration) und Vergessens. […] Jedes Sandkorn war eine tote Metapher der Zeitlosigkeit, und durch die Entzifferung solcher Metaphern käme man auf die andere Seite des falschen Spiegels der Ewigkeit.«[50] Die armselige Sandkiste (»ein offenes Grab«/»an open grave«) repräsentiert eine abwesende dystopische Wüste, die aller transzendentalen oder idealistischen Aspekte beraubt ist.

Smithson und Deleuze

Die letzte Einstellung des Films »Spiral Jetty« zeigt den Schneideraum mit den Sicht- und Schneidegeräten, den herabhängenden Filmstreifen und einem groß abgezogenen Foto der Mole im Hintergrund. Smithson schreibt, der rohe, unbeschnittene Filmstoff werde von den Cuttern Bob Fiore und Barbara Jarvis untersucht, als wären sie »Paläontologen« und »Neandertaler« zugleich. »Dieses archäozoische Medium versetzt einen in die ältesten uns bekannten geologischen Zeitalter.«[51] »Das visuelle Bild wird archäologisch, stratigraphisch und tektonisch«, schreibt Gilles Deleuze in »Das Zeit-Bild«.[52] Doch so sehr diese Formulierung an das gerade Gehörte anzuschließen scheint, sollten die theoretischen Projekte von Smithson und von Deleuze nicht verwechselt werden. Gerade weil sie einander sehr nahe stehen. Wenn Deleuze sagt, die »abgetrennten«oder »leeren« Räume des modernen Kinos weisen eine geologische Schichtung auf, seien sedimentierte Bilder, dann streitet er zugleich ab, man wäre damit auf eine »Prähistorie« zurückverwiesen. Vielmehr geht es ihm um »verlassene Schichten unserer Zeit.«[53] Für Smithson sind Film und Fotografie eher diskursiv-materiale Transportmedien in ein Zeitalter futuristischer Höhlenmenschen. Mit ihnen lässt sich im besten Fall die Zeitlosigkeit, die Unendlichkeit und die Leere rekonstruieren (oder erst herstellen), die an den längst zum Bild gewordenen Stätten der Wildnis unerreichbar scheinen. Aber Smithson ist Realist genug, um zu wissen, dass die einzelne Filmarbeit dies nicht leisten kann. Weshalb ein Film wie »Spiral Jetty« auch funktioniert wie eine Übersetzung, eine Karte, eine Konstruktionszeichnung. Er arbeitet einer Fiktionalisierung zu, die anderswo stattfindet. Auch als Filmemacher ist Smithson immer wieder auf seine eigene wuchernde, desintegrierende, elliptische, auch wirre und manchmal verwirrende Theoriefiktion vom Kino der Höhlenmenschen oder der desert people zurückgeworfen. Dass Außenbezüge eingesetzt werden, um die Selbstgenügsamkeit dieser Fiktion abzusichern, dass aber zugleich die Grenzen des Films die Grenzen der Dezentrierung anzeigen, unterscheidet seine Reflexion über Entgrenzung und Desintegration wesentlich vom Entgrenzungsdiskurs anderer Kinematographen der Wüste.

»La Région Centrale« von Michael Snow

Der kanadische Filmkünstler Michael Snow machte sich mit »La Région Centrale« 1971 an die paradoxe Aufgabe, die menschenfreie Wildnis visuell zu bezeugen, ohne dass ein Mensch anwesend ist. Snow ließ eine speziell konstruierte Kameramaschine, einem Satelliten oder einer Sonde gleich, im unwegsamen Gelände einer kanadischen Gebirgslandschaft installieren. Auf einer speziellen Roboter- Konstruktion mit einem programmierbaren Schwenkarm montiert, zeichnete die Kamera auf sechzig Stunden Film die einförmige, ganz und gar unpittoreske Landschaft auf. Das Material wurde auf drei Stunden zusammen geschnitten, wobei nur dreißig Minuten Menschen »im Bild« sind. Ansonsten ist die Kamera in einer wilden, cinematischen Achterbahnfahrt auf sich selbst gestellt. 1969, also zwei Jahre vor den Dreharbeiten, kündigteSnow an, dass der Film »La Région Centrale« eine »Art von absoluter Aufzeichnung eines Stücks Wildnis« werden wird.[54] Er erwartete von der mechanischen Bewegung der Kamera, dass ihre Ergebnisse einer ersten rigorosen filmischen Dokumentation der Mondoberfläche entsprechen. Zugleich sollte es sich anfühlen wie die Aufzeichnung der »letzten Wildnis auf der Erde«- ein Film, der ins All mitgenommen werden könnte.[55] Nach Abschluss des Films im Jahr 1971, überwogen für Snow die Momente der Ekstase und der Totalität. Es gebe einen Nullpunkt, ein absolutes Zentrum, ein nirwanahaftes Null, das Fehlen der Schwerkraft, eine orgasmische Dimension, das »ekstatische Zentrum einer vollständigen Sphäre.«[56] Solches ent-körperlichte Sehen »jenseits aller subjektiven Finalität« (Raymond Bellour)[57] lässt an die automatischen Aufzeichnungsgeräte und Sehmaschinen denken, die sehen, ohne zu blicken; an ein rein technisches Sehen also, das in diesem Fall aber jeder überwachenden, kontrollierenden, steuernden Funktion fremd bleibt. Es ist, wie Alain Fleischer richtig feststellt, »pointless«, reine Performanz (und damit auch nachgerade naturhaft).[58] Was Smithson und Snow jeweils aus der einen »Wüste« in die andere »Wüste« herüberschaffen (übersetzen), könnte verschiedener nicht sein. Wo Snows (weitgehend) enthumanisierte Kameraschwenks und -fahrten ganz den technischen Bedingungen des Kameraroboters gehorchen, der »menschliche Faktor« auf die Konstruktion der Maschine, ihre Programmierung, die Auswahl des Standorts und Entscheidungen im Schnitt bei der Reduktion von sechzig auf drei Stunden beschränkt bleibt, ist bei Smithson eine vielteiligere Mischung ästhetischer Entscheidungskriterien zu finden. In einem erst postum veröffentlichten Text von 1971 berichtet Smithson von seinen Erfahrungen mit der »Wildnis des Kameralands«, von der »Wildnis, die die Kamera erzeugt«. Smithson kann sich nicht recht begeistern. Kameras besäßen ein Eigenleben, es sei unschwer möglich, sich eine »Unendliche Kamera ohne jedes Ego« vorzustellen.[59] Smithson phantasiert über einen Horrorfilm mit dem Arbeitstitel »Invasion of the Camera Robots«, in dem zyklopische Kameras ihre Schreckensherrschaft in einem Fotofachgeschäft errichten würden. Die große Frage lautet: Wie geht man mit der unvermeidlichen, zugleich produktiven undzerstörerischen Präsenz von Kameras, von Abstraktionsmaschinen um? Wie verhält sich die Kunst/der Künstler zur Kamera? Keine Lösung. Oder doch? Michael Snows »Wavelength« etwa findet Smithsons Beachtung: Diesem Film sei es immerhin gelungen, den Ozean in einer Fotografie einzutrocknen. Interessiert zeigt sich Smithson auch darüber, dass Snow mit einer »deliranten Kamera eigener Erfindung« in die tatsächliche Landschaft hinausgehe.[60] Damit produziert Snow eine Kamera-Wildnis, die Smithson gleichzeitig suspekt und willkommen sein musste. Gegen Ende seines Textes räumt Smithson indirekt ein, dass die wilden Kameras bei der Arbeit an der Entgrenzung und Dezentrierung der Erzählmuster einer Gesellschaft erheblichen Anteil haben könnten. Diese Überlegungen, elliptisch vorgetragen, stellen eine von Gegen-Narrativen infizierte Form des filmischen und fotografischen Diskurses in Aussicht. Eine Aussicht, die auch die radikale Zergliederung des Subjekts der Wahrnehmung mit einschließt.

Das filmische Subjekt der Wüste

Einen spezifischen Typus des Mediensubjekts elaboriert Smithson über einen Zeitraum von mehreren Jahren. In seinem Essay »A Cinematic Atopia«[61] von 1971 präsentiert Smithson das vorläufige Ergebnis dieser Entwicklungsarbeit, den »ultimativen Kinogänger«: eine schläfrige Figur von radikaler Passivität und Rezeptivität, die keine Unterscheidungen mehr kennt, nur noch ein »endloses Verschwimmen« der Filme. Der Ort dieses Modell-Filmmenschen ist ein Kino, das in einer Höhle oder einer verlassenen Bergwerksmine einzurichten wäre. In diesem Vorführraum soll nur ein einziger Film laufen: ein Film, der den Bau des Kinos selbst zeigt. Smithson legt viel Wert auf die »prähistorische« Ausgestaltung seines Höhlenkinoambientes. Über dessen Design aus rohen Holzbalken und großen Felsbrocken macht er genaue Angaben.[62] In einer Bleistiftzeichnung mit eingeklebtem Zeitschriftenfoto von 1971 wird die Höhlenkino-Idee weiter ausformuliert: Über einen engen Eingang erreicht der »movie goer«, den Smithson in Anlehnung an die Berufsbezeichnung des Speläologen (= Höhlenkundler) zum »spelunker« erklärt, den unterirdischen Vorführraum. Vor der aus dem Felsgeschlagenen »Leinwand« verteilen sich unregelmäßige Gesteinsbrocken als Sitzgelegenheiten. Die Kabine des Filmvorführer ist wie ein Hochsitz konstruiert. Durch schmale Schächte in der Felsdecke erreicht Tageslicht das Kino. Auf einem »Plan« für ein – nie realisiertes – »Museum betreffend Spiral Jetty«, der ebenfalls 1971 gezeichnet wurde, führt eine Wendeltreppe an salzverkrusteten Felsbrocken entlang hinab in einen unterirdischen Projektionsraum. Hier sollte der Film »Spiral Jetty« gezeigt werden. Es ist auf mögliche architektonische Vorbilder für den Plan eines solchen unterirdischen Kinos hingewiesen worden – auf die höhlenähnlichen skulpturalen Architekturen von Tony Smith oder auf Philip Johnsons »underground museum« (Smithson) in Connectitut. Ebenso aber kommen die populärdidaktischen Environments von Natur- und Themenparks als Modelle in Betracht. Oder die prähistorisch-modernistischen Räumlichkeiten aus der Zeichentrickserie »The Flintstones«, die seit September 1960 im US-Fernsehen zu sehen war.[63] 1966 hatte Smithson in einem Artikel bereits von Künstlern berichtet, die eine »infinite number of movies« gesehen hätten. Diese Künstler fahren nicht aus der Stadt heraus und studieren die Landschaft, sondern besuchen die Kinos der 42nd Street. Dort schauten sie sich Filme wie »Horror at Party Beach« (Del Tenney, 1964) oder andere Trashproduktionen aus dem Horror- oder Science- Fiction-Genre an. »Derartige Künstler haben Röntgenaugen, sie durchschauen diese ganze klumpige Masse, die heutzutage als ›tief und profund‹ durchgeht.«[64] Die »Röntgenaugen«[65] ermöglichen den Künstlern alles Aufgesetzte und die leere Sophistication zu durchschauen. Mit ihrem technisch-wissenschaftlich entwickelten Sensorium durchdringen diese modernen Primitiven die kulturellen Prätentionen der High-Brow-Haltung. Science Fiction und Horror immunisieren gegen die Versuchungen der vermeintlichen »Hochkultur«. Der Röntgenaugen-Künstler ist ein Cyborg, der die Seele und den Sinn nicht vermisst und sich stattdessen dem Studium der Geomorphologie der low culture widmet. Für das Verständnis von Smithsons Kulturtheorie ist dieses (Selbst-)Bild eines post-humanen Primitiven mit optischen Prothesen nicht unwichtig. Es bleibt nicht die einzige Persona, die sich der Künstler zulegt, aber diePositionierung außerhalb der kulturellen Wertegebäude und humanistischen Subjektokonzeptionen ist Teil eines Programms der Entdifferenzierung von historisch und sozial »gemachten« Hierarchien. Dabei sind diese Röntgenaugenkünstler durch ihre Vorlieben konditioniert: wer Horror mag, ist eher der emotionale Typ, wer sich zu Science Fiction hingezogen fühlt, erhält das Attribut »perceptive«. Für sein Bild vom Künstler-im-Kino verwirft Smithson Annahmen von Autonomie und Freiheit, also auch die idealistischen Aspekte der Philosophie des Subjekts. Man könnte von einer Prozedur der Aushöhlung sprechen, von der systematischen Herstellung einer zentrumslosen Leere, von einer Bewegung auf den »Nullpunkt«, den degré zero hin, die sich im Zentrum Nachkriegsmoderne vollzieht – bei Roland Barthes, Samuel Beckett, John Cage, Andy Warhol, J.G. Ballard und vielen anderen. Smithson quälen dabei kaum Verlustängste. In zwei Texten aus der Zeit um 1967/68 feiert er etwa das Ende der Charakter-Schauspielerei bei Alfred Hitchcock und Roger Corman. In den Filmen der beiden Regisseure würden sich die Schauspieler wie Androiden in einer Kulisse aus zeitloser Artifizialität bewegen.[66] Und dem entleerten Schauspieler steht komplementär der entleerte Zuschauer gegenüber. In den Kastenräumen bzw. »Dunkelkammern« der neuen minimalistischen Kinoarchitekturen der sechziger Jahre werde die Zeit komprimiert und angehalten; der Zuschauer werde mit einem »entropischen Zustand« versorgt. »Zeit in einem Kino zu verbringen heißt, ein ›Loch‹ in sein Leben zu schneiden.«[67] Diese Entleerung oder Perforierung des Zuschauerlebens in den kinematischen Druckkammern der Zeit kann auch als eine Zombifizierung verstanden werden. Der Mensch im Kino wird herausgelöst aus der Zeit. Er verliert seine humane Temporalität, wird untot. Damit ähnelt er den Robotern und Automaten in den Filmen von Hitchcock und Corman, aber auch den passiven Gestalten modernistischer Entfremdungsästhetik bei Antonioni, die von ihrer artifiziellen, entemotionalisierten Umgebung derealisiert und ausgehöhlt werden. Für den französischen Film- und Kunsttheoretiker Jean Louis Schefer ist der »gewöhnliche Mensch des Kinos« der »dasitzende Mensch, der virtuelle Pol des kinematographischen Apparats und Bildes«. Im Kino sitzend lebt er »ganz und gar das momenthafte Lebeneines inchoativen Menschen«, das heißt, eines Menschen am Anfang, der nicht anders kann, »als mit einer Entwöhnung und einer Art von Ent-Wohnung der Welt zu beginnen.«[68] Das Kino lässt die »Welt in uns verschwinden«, unseren Schwerpunkt verlieren. Es amputiert uns als moralische Wesen.[69] Mit anderen Worten: Wir werden zu elternlosen Replikanten, kontrolliert von einem Automaten, der in uns wirkt oder hinter uns steht, und uns im phantomalen Zustand einschließt. Der totale Kontextverlust im Kino, die Abtrennung von Biografie und Biologie, das Eintreten in die Zeitlosigkeit: Smithsons »ultimate film goer« scheint der inchoative Mensch schlechthin, ein »Gefangener der Trägheit«: »Film um Film würde sich vor ihm abspulen, bis alle Filmhandlungen in einem immensen Reservoir der reinen Wahrnehmung versänken. Er könnte nicht zwischen guten und schlechten Filmen unterscheiden, alles würde verschluckt in endlosen Trübungen und Verläufen der Bilder. […].«[70] Ein solches Vegetieren in der multimedialen Tropfsteinhöhle ist der Abschluss der Rezeption. Ein Trancezustand ohne Erlösungsperspektive, das Gegenteil auch der keimenden anarchischen Aktivität, die die Jugendlichen in »Zabriskie Point« von den passiven bourgeoisen Zombies in den »beliebigen Räumen« früherer Antonioni-Filmen unterscheidet. In letzter Konsequenz bedeutet die Position des inchoativen Menschen die Katastrophe einer totalen, phantasmatischen Auflösung von Innen und Außen. Smithson nimmt ungerührt und unbesorgt zur Kenntnis, wie jene desintegrierenden Kräfte überhand nehmen, die er als die unausweichliche Entropie des Imaginären betrachtet. Das Rechteck der Kinoleinwand bündele und rahme den Flux der Bilder zwar – jedoch nur für kurze Zeit. Dann tritt wieder die »cinematische Atopie« ein, die mit Deleuze und Guattari auch »Chaosmos« genannt werden könnte.[71] Der Kinogänger würde schließlich einschlafen, sein Bewusstsein ausschalten und die Schwerkraft der Wahrnehmung zunehmen. »Wie eine Schildkröte, die über den Wüstensand kriecht, würden seine Augen über die Leinwand kriechen.«[72] Jetzt kann eine Politisierung beginnen, die ohne Territorium, auch ohne die Wüste-als-Landschaft auskommt. Die Leinwand-Wüste ist der glatte, haptische Raum eines anderen Kinos.

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