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»Denken heißt reisen« (Deleuze/Guattari)
Dass jede Karte eine Reise im Denken ist, die zurückgelegte Wegstrecke und das Territorium, Lesbares und Sichtbares durch ein Einfangen des Unendlichen im kleinsten Detail miteinander verbindet, könnte der Ausgangspunkt und der Kern aller »Aufrufe« zur Kartographie sein, und zwar vom Pikturalen im 16. Jahrhundert bis zum heutigen Virtuellen. Denn mit dem »Sturz des Ikarus« von Bruegel (1558) entsteht ein neuer Blick, der sich in immer wissenschaftlicheren Atlanten und Karten entfaltet. Von oben betrachtet er das Treiben auf der Erde, bis ins Unendliche versinkt er in einem maritimen Lichthorizont, und ganz aus der Nähe kann man das winzige Bein des Ikarus erkennen. Ein solcher pluraler Blick auf das Entfernte und das Nahe lässt nach und nach »das ikarische Auge« und das kartographische Auge eins werden, in einem Raum ohne Mittelpunkt, der eine Dialektik zwischen »Ort« (site) und »Nicht-Ort« (non-site) anbietet, um die Begriffe von Robert Smithson aufzugreifen.
Als echte Alternative zum albertinischen Modell deszur Welt geöffneten Fensters erzeugt die Karte somit ein deskriptives visuelles Dispositiv und konstruiert einen offenen Raum mit mehreren Eingängen, ein »Plateau«, auf dem der Blick nomadisch wird. Somit lässt sich dieses Verhältnis von Ort und Nicht- Ort in ein originäres geo-philosophisches Paradox übersetzen. Zum einen ist die Karte das Territorium, wie es der Kaiser bei Jorge Luis Borges mit seinem politischen Wahn einer Karte im Maßstab des Territorium wollte. Aber in einem anderen Sinne ist die Karte nicht das Territorium, sondern vielmehr ein Ersatz für das Territorium. Und deshalb gibt es bei Lewis Carroll eine andere, noch spielerischere Utopie, die leere Karte. Zwischen Sein und Nichtsein, Territorium und Fläche, ist die Karte das Modell eines »Dazwischenseins«, das den Blick durch eine allgemein verbreitete Panoptik deterritorialisiert, die Wegstrecken, Grenzen und Machtspiele überblicken kann wie in allen kriegerischen Strategien der Gegenwart. Daher müssen die Genealogie dieses Blickes, seine Modalitäten und seine Strategien ans Licht gebracht werden, um verstehen zu können, wie dieser Wegstrecken-Blick heute zu einem Modell des Virtuellen geworden ist. Als ob die Kultur der Flüsse, Strömungen und Instabilitäten einen neuen Typ von Bild – flüssig, hauchdünn und leicht – beinhalten würde, den ich Fluss-Bild [1] genannt habe und der das modernistische Bild ablöst, dieses Kristall-Bild, das der architektonischen und künstlerischen Kultur des Glases mit all ihren buchstäblichen und komplexen Transparenzen eigen ist.
Im Gegensatz zu Michel Foucaults Position, was die radikale Trennung von Sichtbarem und Lesbarem betrifft, ist die Karte von vornherein lesbar-sichtbar und funktioniert wie ein nicht-mimetisches Bild, wie ein Index-Bild (Charles S. Pierce), das den Ursprung einer Pragmatik der Aussage bildet. Ein Toponym wie Paris oder Berlin hat einen festen Ort und verweist auf ein referentielles und kontextuelles Territorium, Land, Teil eines Landes oder eine Erdkarte. Diese Kunst, die Welt ›in Abwesenheit von‹ zu beschreiben, die Vermeer in seiner berühmten »Die Malkunst« (1666) aufgriff, wo die riesige Karte der Niederlande das Gemälde in einem kritischen und selbst-reflexivenDispositiv verdoppelt und verstärkt, übersetzt tatsächlich eine Sehmaschine aus der Zeit der Entdeckung der »Neuen Welt« und eines Universums, das nunmehr keinen Mittelpunkt mehr hatte und unendlich geworden war. Deshalb de-symbolisiert die Weltkarte des 16. und 17. Jahrhunderts die Welt, die Jerusalem als Mittelpunkt hatte und vom Christus der mittelalterlichen Karten dominiert wurde. Von nun an ist die Karte ein schlichtes Artefakt, und man versteht die Leidenschaft der ersten Kartographenkünstler wie Leonardo da Vinci oder Dürer. Denn die Karte bemächtigt sich des Realen, beherrscht es und lässt ein Unbewusstes des Sehens mit seinen Faltungen und Entfaltungen auf einer schwerelosen Ebene erkennen. Sie greift nach den Grenzen des Unbegrenzten.
Deshalb kombinieren diese neuen Sichtbarkeiten, die sich vom perspektivischen Schema mit seinem Fluchtpunkt unterscheiden, mehrere heterogene Elemente. Eine »descriptio«, die Bilder und Zeichen verbindet, eine neue Welt der Abstraktion, das Diagramm als Abstract, das die Vielfältigkeit von Richtungen und Ortsveränderungen ermöglicht, die für einen Weltblick charakteristisch ist, der auf eine kontinuierliche oder fragmentierte Ebene geworfen wird, und zwar mit all seinen Maßstabsvariationen. Eine solche Abstraktion, die das Virtuelle entwickelte, setzt eine Vergeistigung der Welt und eine abstrakte Maschine voraus, die aus Linien und Möglichkeiten besteht, welche es ermöglichen, »eine Karte zu lesen«, wie man so sagt. Das ist eine komplexe Lektüre, denn man muss sich selber projizieren und seine eigene Position vergessen, um diese rhizomatische Kartographie zu erforschen. Denn das Diagramm ist schon an sich eine Karte oder eine Überlagerung von Karten, die es ermöglicht Bewegungen (wie die »chronophotographischen Diagramme« von Etienne-Jules Marey) und virtuelle Volumen zu erforschen. Le Corbusier hat sogar das »Diagramm einer Rauchwolke in Algier« erstellt und somit die fraktale Mathematik vorweggenommen. Das kartographische Cogito ist also das einer Reise in den Zeitraum und das eines pluralen Subjekts: hier und woanders sein, nah und fern sein, mehrere sein; bis man in alle möglichen Utopien einer Space Art eintaucht. Denn das Diagramm erforscht den kontinuierlichen Raum und konstruiert ihn in einer abstrakten Gegenständlichkeit, die durchihre allusive und schematische Struktur ein Denkexperiment in Gang setzt. Deshalb ist die diagrammatische Vernunft, die so viele Künstler – wie Sol LeWitt und Dan Flavin – inspiriert hat, eine zusammengesetzte Vernunft leibnizscher Art, die man bei den neuen Verbindungen zwischen digitalem Kontinuum und Morphogenese wieder findet, die für die Architekturen des Virtuellen charakteristisch sind. Sehen bedeutet zu konstruieren und wissen bedeutet, Topologie und Topologien in Dispositiven, in Gefügen aus Linien, Kräften und vektoriellen Punkten zusammenzufügen – wie in den schematischen Darstellungen von Paul Klee, wo die Pfeile Kräfte sind. Dadurch vereint die Karte die beiden Zeiträume, die von Boulez unterschieden und von Deleuze und Guattari in »Tausend Plateaus« [2] weiterentwickelt wurden. Der gekerbte Raum, der metrisch und pulsiert ist, und der glatte Raum, der unendlich wie das Meer oder die Wüste ist, mit seinen Weltaffekten, seinen Krümmungen und seinen Graphen in den Zwischenräumen.
Zwischen Erforschung und Wegstrecke konfrontiert der kartographische Blick permanent das Abstrakte und das Reale, den Ort und die Delokalisierung. Das belegen zahlreiche Experimente von Kartographenkünstlern, die ich in Der kartographische Blick [3] analysiert habe und bei denen das Bild tatsächlich »ein Diagramm der Idee« (Duchamp) ist. Gewiss, die Karte bei Vermeer und El Greco (»Ansicht und Plan von Toledo«, 1614) war zunächst eine Allegorie der Malerei, eine Art von optischem Bild, das sich vom Perspektivbild unterschied und das Mikroformen in einer »Kunst als Beschreibung« einfängt, wie Svetlana Alpers gezeigt hat. [4] Ein aufmerksames Auge, das winzige Dinge bemerkt und die Welt auf der Oberfläche einschreibt, sodass ein wahrhaftes Barock der Oberfläche geschaffen wird. Aber mit der Moderne des 20. Jahrhunderts verliert die Karte durch ihre vielfältigen Verwendungen ihre allegorische Kraft. Das tautologische Auge von Jasper Johns (»Map«, 1961) verwandelte die Karte der Vereinigten Staaten in ein Gemälde, und zwar dank seiner Ausdehnung, seiner vielschichtigen Oberfläche und seiner nicht-formalistischen Flächigkeit. Aber auch das entropische Auge von Robert Smithson, das beiseiner Land Art oder bei seiner Arbeit »Map of Broken Glass« (1969) ständig das Sehen mit dem Nicht-Sehen konfrontiert. Denn die Karte »ist eine Serie von Erhebungen und Einbrüchen, eine Schicht von instabilen Fragmenten« (Robert Smithson). Solche schwindelerregenden Karten sind in der Tat Transformationsschichten und Gestaltungen von »Sedimentationen des Geistes«, die ins Nichts eintauchen wie die Architektur der 30er Jahre in New York mit ihren ausufernden Formen. Die Welt ist gekrümmt wie all die ins Unendliche gehenden Spiralen, die Smithson so begeistert haben (Vgl. »Spiral Jetty«, 1970). Es gab somit eine Erweiterung des kartographischen Bereichs der Kunst. Denn durch eine subtile Alchimie verwandelt sie den Raum in Zeit, in eine nicht chronologische »Konstellation der Zeit«. Eine Zeit des benjaminschen Eingedenkens, bei dem die Vergangenheit ein Dokument für eine Verschiebung von Schichten und Abdrücken ist. Die Tierhäute mit Weltkarten von Parmiggiani oder Pistoletto [5] , die kunstvoll geknüpften Afghanistan-Karten von Alighiero Boetti mit vielen Flüssen und Formen von allen fiktiven Pantheons (vgl. auch den Werkzyklus »Atlas« von Gerhard Richter, 1962-96). Der kartographische Blick fällt auf alle Neutralitäten, auf alle Transpositionen und Utopien und sogar auf alle Heterotopien à la Michel Foucault. Das Kartorama der zeitgenössischen Kunst ist heute endlos, da die Karte die Schnittstelle der Welt ist, wie zum Beispiel bei »No Stop City« (1968) von Archizoom.
Und es ist genau dieses Welt-Machen der Karte, was all ihre Paradoxe und vielfältigen Logiken hervorbringt. Aber so utopisch sie auch sein mag, die Karte kann auch zu einer furchtbaren Machtmaschine werden. Geheim gehaltene Karten von totalitären Regimen, ›gezielte‹ Bombardierungen von Örtlichkeiten, sprich Bevölkerungen, die Karte ist durchaus »ein Portrait«, ein Bild »an Bedeutung und Gestalt«, wie es bereits Antoine Arnauld und Pierre Nicoles »Logik von Port Royal« (1648) hieß. In diesem Sinne hat sie alle Netzwerke und eine heute in Prozesse und Trajekte (Wegstrecken) umgewandelte Welt antizipiert: die unsere. 3. Ein ästhetisches und politisches Modell des Virtuellen Mit den neuen Technologien bekommt der Blick als Trajekt und Fluss seine volle hermeneutische und politische Reichweite.Denn der Übergang von einer Kultur der Stabilitäten und Objekte (mit ihrem Fordismus und ihren industriellen Standards) zu einer Kultur der Instabilitäten und der Flüsse (mit ihrem Cyberspace und ihrer blitzschnellen Kommunikation) führt zu einem neuen »Wahn des Sehens« in weltweitem Maßstab. Die Trajekte verweisen auf das, was Paul Virilio »eine große Optik« nennt, die alle Grenzen in Echtzeit überquert. Der kartographische Blick ist nunmehr untrennbar von einer neuen, verdichteten Form der Geschichtlichkeit, die eine doppelte Zeitlichkeit hat. Eine maschinelle und maschinenartige Zeit und eine ephemere Zeit, die Zeit einer ewigen Gegenwart ohne Zukunft oder Zielsetzung. Auch diese Form tendiert dahin, die Zeit der Erinnerung (die immer mehr zu Gedächtnisfeiern missbraucht wird) und diese andere Zeit zu zerstören, diese Zeit der Spiegel und Reflexe, die zum Kristall-Bild der architektonischen und künstlerischen Moderne gehört. So wie der Kristall mit seinen Kanten und Verschmelzungen von Gegenwart und Vergangenheit die Allegorie der ganzen Glaskultur des 20. Jahrhunderts war (vgl. Bruno Taut, Mies van der Rohe oder Marcel Duchamp seit dem Anfang des Jahrhunderts), ist das Fluss-Bild mit seinen neuen Flüssigkeitsformen und seinen durchscheinenden Transparenzen das Bild einer Gegenwart, die von einer weltweiten, bildschirmartigen Immanenzebene gekennzeichnet ist. Das Kristall- Bild erlaubte es, ein wenig Zeit im reinen Zustand zu erfassen, und zwar dort, wo das Fluss-Bild den Häuten und der zweiten Haut aller Biophilosophien ähnelt, die Hyperrealismus und technologischen Neo-Barock vermischt.
Heute sind alle Hybridisierungen möglich. Der kartographische Blick ist nunmehr in den großen ästhetischen Paradigmen des Virtuellen wirksam, die immer mehr die aus dem Gleichgewicht geratenen Systeme und die Unendlichkeit des Kontinuums erforschen, was dank der neuen Mathematik der Formen möglich geworden ist. An diesem gemeinsamen Experimentalort der Architektur und der Kunst, kann man drei große Paradigmen ausmachen, die die virtuellen Zeiträume, welche das Reale transformieren, begrifflich fassen und produzieren.
Indem sie erforschen, was Greg Lynn »Animate Forms«genannt hat, privilegieren diese Topologien das Kontinuum, die Kurven und die Faltungen, also alle Arten der Krümmung (Inflexion), von denen bereits Gaudi und die ganze Art Nouveau besessen waren. »Möbius House« von Stephen Perella, »Embryological House« von Greg Lynn [6] , die »Carte interactive du projet et de la performativité«, um ausgehend von Strömungen und Flüssen eine Brücke zu bauen, sowie Mark Burrys »Paramorphisme« und »Perplication« von instabilen Topologien, »Maison-flux« von Paul Minific oder flüssige »Trans Architecture« im Cyberspace oder im Realen (Marcos Novak, NOX (Maurice Nio and Lars Spuybroek)) – überall setzt sich die Krümmung gegenüber der geraden Linie durch und das Organische findet sein Abstraktionsvermögen wieder, das die ganze formalistische und minimalistische Kultur ihm abgesprochen hatte.
Eine ganze barocke Kultur hat das Artifizielle und das stilisierte Ornament benutzt, um vielfältige, gekrümmte oder infinitesimale Wahrnehmungen wiederzugeben, die aus dem Hell-Dunkel bestanden, das für eine Welt charakteristisch war, die sich in einer offenen Bewegung hin zum Unendlichen befand. Dieser gekrümmte Raum, der durch die Dynamik und die Projektionen einen unwiderstehlichen Reiz ausübte, wird sozusagen in einer neo-barocken Digitalität wieder erfunden, die nur noch von Knoten, Spiralen, Faltungen und eingerollten oder ausgerollten Kombinatoriken spricht, bei denen das Objekt »objektil« und das Subjekt »subjektil« ist, wie Deleuze in »Die Falte« [7] gezeigt hat. Anders gesagt, diese ultra-schnelle relationale Interaktion hat der Vision der Moderne, wie sie von Heidegger theoretisch erfasst wurde, ein Ende gemacht: cartesianisches Subjekt, stabiles Objekt, Wahrheit und Technik als »Berechenbarkeit« des Seienden. Die Möglichkeit, Modellversuche anzustellen, die den neuen digitalen Werkzeugen zur Programmierung und Interaktion eigen ist, versetzt den Menschen in die Dinge und nicht vor die Dinge. Die Weltkarte ist unsere interaktive ›Hülle‹ in einer Welt ohne schützende Hülle.
Die Karte projizierte die Welt auf eine Ebene, unddieser Oberflächen-Effekt hat sich immer mehr verallgemeinert, hat die Wände in digitale Häute und die Tiefe in ein elektronisches flatbed verwandelt. Die Architektur der Hyperoberflächen oder Stephen Perella [8] ), die digitale Tätowierung von digitalen Bildern, die dann ausgedruckt werden (Jean Nouvel LI3 , Herzog und de Meuron), biotechnische oder taktile Camouflage (Lynn oder Nox) – überall ist die flüssige und hauchdünne Umhüllung die Wahrheit des Nackten. Und hier treffen sich die Künstler mit den Architekten, in ihren virtuellen Landschaften und Städten, wie bei den Arbeiten von Miguel Chevalier [LI4], die die Zeit nachzeichnen und post-ephemere, fragile Bilder erforschen. Somit wird der Raum zum floating space und das Reale wird immer mehr von einem Virtuellen transformiert, das die Konzeption des scape verallgemeinert. Wie Arjun Appadurai in »Modernity at Large« [9] gezeigt hat, ist gerade eine regelrechte Arbeit der interkulturellen Imagination im Gange, und zwar in ethnoscapes, mediascapes und ideoscapes, wo zwischen Homogenisierung und Heterogenisierung die virtuellen Archive und potenziellen Erzählungen aller Kulturen am Enstehen sind. Also die von Herrschenden mit ihren Kriegsmaschinen, aber auch die von Beherrschten, Diasporas und »postkolonialen « Minderheiten.
Es gibt somit ein Zeit-Werden des Raumes. Und in einer Situation, die von der Revolution der Technologien gekennzeichnet ist, ist es mehr als jemals zuvor angezeigt, zwei Formen zu unterscheiden, die für die ephemere Zeit charakteristisch sind. Eine ephemere melancholische Form, die der schwarzen Galle der Griechen und der Eitelkeiten der Modernen (vgl. die »Melencolia« von Dürer) [10] und des ganzen westlichen Denkens, das nicht auf die von ihm besetzten Objekte verzichten und eine freudsche »Trauerarbeit« vornehmen will. Und eine ephemere Form der Bejahung, die eher an Nietzsche orientiert ist und die ich mehr als anderwo bei meinen Aufenthalten in Japan und China gefunden habe. Die Vergänglichkeit (das japanische mujo) ist die positive Erfassung der Zeit in ihren Vibrationen, Übergängen, Rhythmen und all ihren Brüchen, die das Technologische und das Kosmologische vereinen. Wie einer der ältesten Texte der Menschheit – »Das Buch der Wandlungen« [11] – zeigt, geht es darum, Zielsetzungen und Energien zukombinieren, um »den vorbeikommenden Fluss« (peng yun qi) und die dem günstigen Moment eigene Dynamik zu erfassen. Deshalb bedeutet das Ephemere kein passives Akzeptieren der Gegenwart, sondern ihre Erfassung in der Modulation von Geschöpfen und Dingen, in ihrer Einheit und Differenz.
Um eine Unterscheidung von Hannah Arendt aufzunehmen, die potentia als schöpferische Potenzialität eines gemeinsamen Raumes, der vom »pluralen Einen« durchwirkt ist, unterscheidet sich radikal von der potestas als Logik der Macht. So wie es eine Politik von Flüssen, die zur potestas gehört, geben kann, gibt es auch eine Ästhetik, das heißt eine Ethik der Schöpfungskraft, bei der die Virtualität eine Kraft zur Umgestaltung des Realen und nicht nur ein schlichtes Universum von Simulakren ist. Denn bei dieser nomadischen Wissenschaft, die das kartographische Auge uns enthüllt, gibt es immer nur Trajekte und Formen des Werdens, momentane Stillstände und entzifferbare Energiewege, die es ermöglichen, den Parameter der Veränderung und der Verlagerung in den Blick zu bekommen. Die Ästhetik der Flüsse und Strömungen ist auch eine Wissenschaft des polysensoriellen Fühlens, das den Menschen ständig mit seinen Extremen und Risiken konfrontiert, und zwar sowohl den post-humanen Menschen als auch den infra-humanen Menschen. Vielleicht ist es mehr als je zuvor angezeigt, der Unordnung der existierenden Welt einen kulturellen Widerstand und eine menschliche Bejahung der pluralen Zwischenwelten entgegenzusetzen.
Übersetzung aus dem Französischen von Ronald Voullié
© Medien Kunst Netz 2004