Hinweis: Wenn Sie diesen Text sehen, benutzen Sie einen Browser, der nicht die gängigen Web-Standards unterstützt. Deshalb wird das Design von Medien Kunst Netz nicht korrekt dargestellt. Die Inhalte selbst sind dennoch abrufbar. Für größtmöglichen Komfort und volle Funktionalität verwenden Sie bitte die empfohlenen Browser.
Deutsch English

Nam June Paik
»Medienplanung für das nachindustrielle Zeitalter – Bis zum 21. Jahrhundert sind es nur noch 26 Jahre«

Jetzt befinden wir uns an einem anderen Zeitpunkt der Geschichte. Die Zusammenführung der weißen und schwarzen Kinder in der Schule mithilfe von Bustransporten ist schief gelaufen, und die Bemühungen um Integration sind fragwürdig geworden. Die Macht der Fernsehausstrahlung trägt zur Integration und Verständigung bei und tut dies im übrigen, ohne von der verschmutzten und chaotischen Erde behelligt zu werden. Ich frage mich, was passieren würde, wenn über eine Zweiweg-Kabelfernsehen-Verbindung zwei Vorschultagesstätten in einem Viertel von Schwarzen und einem von Weißen sich gegenseitig sprechen und sehen könnten, und wenn die Kinder aus den zwei verschiedenen Kulturen anfangen würden, über Kabelfernsehen miteinander zu spielen, ohne anstrengende Bustransporte und ihre negativen Auswirkungen.
Ist dieser Eskapismus Heuchelei oder ein erstes Heilmittel, das auf lange Sicht eine Kur für das Rassenproblem wäre? Auf jeden Fall ist die Technologie da und wartet nur auf ihren Einsatz, der sehr viel weniger kostet als aufwendige Bustranporte für Kinder.
Bildtelefon, Tele-Faksimile, Zweiweg-Interaktionsfernsehen (für Einkäufe, Bibliographieren, Meinungsforschung, Gesundheitsberatung, Bio-Kommunikation, Datenübermittlung zwischen Büros) wird den Fernsehapparat zum »Expanded-media«-Telefonsystem für 1001 neue Anwendungen machen, nicht nur für die täglichen Bedürfnisse, sondern auch für eine bessere Lebensqualität.
Dieses Mini- und Midi-Fernsehen (um Professor René Bergers Ausdruck zu benutzen) wird sich einreihen in die vielen anderen papierlosen Informationsformen wie Audiokassetten, Telex, Datenübermittlung, kontinentale Satelliten, Mikrofiches, private Mikrowellen und schließlich Glasfaserkabel für Laserfrequenzen. Alle zusammen werden sie die neue nukleare Energie für Information und den Aufbau der Gesellschaft bilden. Ich möchte sie versuchsweise das »Breitband-Kommunikationsnetz« nennen. Rückschläge der städtischen Kabel-Gesellschaften haben den Einstieg in diese neue nukleare Energie beträchtlich verzögert. Kürzlich hieß es in einem Artikel der New York Times: »Ob das Kabelfernsehen ein selbständiges Medium werden wird, anstatt die Fernsehrezeption zu unterstützen, war nie die Frage; die Frage war immer: wann? Optimisten halten immer noch an der Voraussage fest, daß es in den 80er Jahren geschehen wird; Pessimisten geben ihm eine längere Anlaufszeit, einige meinen: nicht vor dem 21. Jahrhundert.« (10. März 1974).
Auch wenn wir den pessimistischsten Standpunkt einnehmen, sind es bis zum 21. Jahrhundert nur noch 26 Jahre. Die Tatsache, daß der Notstand der VHF-Frequenz-Sender und des öffentlichen Fersehens für Bildung und Wissenschaft die direkte Folge der Fehlplanung von vor 26 Jahren ist, demonstriert ohne jeden Zweifel, daß die Planung für die BROADBAND COMMUNICATION REVOLUTION beginnen muß, und zwar JETZT. (...)

Zusammenfassung

Die Depression der 30er Jahre wurde bekämpft durch mutige öffentliche Aufträge und Investitionen wie die TVA (Tennessee Valley Authority), WPA (Works Progress Administration) und den Bau von Autobahnen. Besonders der Ausbau von innerstaatlichen Autobahnen wurde zum Rückgrat für das Wirtschaftswachstum der letzten 40 Jahre. Neue wirtschaftliche Verschiebungen, verursacht durch den doppelten Schock der Energieverteuerung, Umweltzerstörung und der historischen Notwendigkeit des Übergangs zur nachindustriellen Gesellschaft, verlangen gleichermaßen radikale Hilfsmittel. Diese soziale Investition müßte auch wirtschaftlichen Wert haben. Die Hilfsmittel sollten die wirtschaftliche Infrastruktur modernisieren, den Wettbewerb der Wirtschaft internationaler machen und zu langanhaltendem, nachindustriellem Wohlstand beitragen.
Eine der so nötig gebrauchten Stimulanzen wird ein riesiger neuer Industriekomplex sein, der an ein Netz starker Sendebereiche angeschlossen ist. Zahllose neue Videoprogramme werden benötigt, um die leeren Kanäle des Kabelfernsehens damit zu füllen; die Verpackung von Videoschallplatten und -cassetten wird kommende Generationen langfristig beschäftigen. Da Videoprogramme der Automation wenig Raum geben, wird der Beschäftigungseffekt für unbegrenzte Zeit andauern, besonders für ausgebildete Arbeiter.
Aus demselben Grund wird die Zahl der langweiligen Jobs am Förderband, Symbol der vergangenen Automatisierungsjahre, gering sein, und viele Leute werden sich immer wieder an ihrer Arbeit erfreuen. Der jetzige Import von Videorecordern aus dem Ausland wird die Zahlenbilanz nicht mehr sehr lange beeinträchtigen, denn Amerika ist dazu prädestiniert, ein riesiger Exporteur von Videoprogrammen zu werden, wie für Film und Musik im vergangenen halben Jahrhundert. Seine ungeheure Bedeutung ist nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern auch sozialer und politischer. Als in den 30er Jahren in Seoul aufgewachsener Koreaner war für mich Shirley Temples Name der erste, den ich gehört und behalten habe – früher als koreanische oder asiatische Namen, auch früher als den meines Vaters. Wiederauflage (in Video) und Übersetzung von zehntausenden von alten Hollywoodfilmen für die ganze Welt wird schon allein eine neue Industrie auf die Beine stellen.
Der Bau neuer ELEKTRONISCHER SUPER-AUTOBAHNEN wird ein noch größeres Unternehmen werden. Angenommen, wir verbinden New York und Los Angeles mit einem elektronischen Telekommunikationsnetz starker Sendebereiche sowie mit kontinentalen Satelliten, Wellenlängengeneratoren, Bündeln von Koaxialkabeln und später mit Laserstrahlen mittels Glasfaser. Die Ausgaben wären so hoch wie die für die Mondlandung, aber der positive Nebeneffekt für die Produktion wäre größer.
Konferenzen zwischen verschiedenen Orten über Bildtelefon in Farbe werden wirtschaftlich machbar sein. Während ihr Unterhalt keine Energie verbraucht (ausgenommen am Anfang das Kupfer), wird es den Flugverkehr drastisch reduzieren sowie den chaotischen Flughafenbusverkehr durch die Städte, und zwar für immer! Effiziente Kommunikation verringert soziale Verschwendung und Mißwirtschaft an allen Ecken und Enden. Daraus erwächst uns ein unerhört großer Gewinn an Energie und für die Umwelt. Sie wird aufhören, nur ein Ersatz oder Schmiermittel für uns zu sein, das alles in Gang hält. Vielmehr wird sie unser Sprungbrett für unerwartete neue menschliche Unternehmungen. Vor hundert Jahren wunderte sich Thoreau: »Auch wenn es der Telefongesellschaft gelingen würde, die Leute in Maine mit den Leuten in Tennessee zu verbinden, was hätten sie sich schon zu sagen?« Der Rest ist Geschichte.
Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss sagte: »Kultur ist ein Netz von Kommunikation.« »Der amerikanische Anthropologe Bateson und der Psychoanalytiker Ruesch gehen sogar noch weiter: »Werte sind ... einfach bevorzugte Kommunikationskanäle ... sobald es um die Interpretation eines Botschaft geht, kann nicht klar unterschieden werden zwischen Kommunikationstheorie, Wertetheorie und anthropologischen Aussagen über Kultur. Wir operieren alle mit einem Medium, das aus der Kombination dieser Züge besteht. Daher nennen wir es die ›grundlegende soziale Struktur‹.«


Quelle: Im Frühjahr 1974 engagierte Howard Klein, Leiter des Künstlerprogramms der Rockefeller Foundation Nam June Paik als Berater. In diesem Text schlug Paik den »Elektronischen Datenautobahn« der Rockefeller-Stiftung vor und erhielt dafür $ 12.000. Der Aufsatz wurde zuerst 1976 auf deutsch im Katalog Nam June Paik. Werke 1946–1976. Musik – Fluxus – Video, Kölnischer Kunstverein (Hrsg.), veröffentlicht. Der englische Text erschien erst 1994 als Electronic Super Highway. Travels with Nam June Paik, New York: Holly Solomon Gallery und Hyundai Gallery, Fort Lauderdale: Fort Lauderdale Museum of Art. Der größte Teil des Textes analysiert detailliert die Situation des Fernsehens und der Kommunikationssysteme in den USA, der auszugsweise Nachdruck an dieser Stelle konzentriert sich daher vor allem auf den Ausblick am Schluß, der sich mit Paiks Vision befaßt – zwanzig Jahre, bevor Bill Clinton diesen Begriff politikfähig machte.
Überarbeitung der ersten deutschen Fassung: Rudolf Frieling.