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Themenicon: navigation pathFoto/Byteicon: navigation pathSofort-Bilder
Sofort-Bilder. Aufzeichnung, Distribution und Konsumtion von Wirklichem unter dem Vorzeichen der Digitalfotografie [1]
Kathrin Peters
 

Der Photoindustrie-Verband e.V. hat allen Grund zur Freude: »Noch nie wurden in Deutschland mehr Kameras verkauft als im Jahr 2004«. In Zahlen sind das 7 Millionen digitale Kameras und 1,4 Millionen analoge, auf dem so genannten Weltmarkt insgesamt rund 120 Millionen; Fotohandys und Single Use Cameras nicht inbegriffen. Diese Expansion ermutigt zu resümierenden Feststellungen: »Die Verbraucher haben die Lust am Photographieren wieder entdeckt und neu intensiviert.» [2]

Das können längst nicht mehr alles Familienväter sein, die hier als Verbraucher bzw. Consumers gezählt werden. Hatte die Studiengruppe um den Soziologen Pierre Bourdieu 1965 die Dokumentation familialer Rituale als ihrerseits rituelle Bestätigung der Institution Familie ausgemacht und darin die soziale Funktion des Fotografierens festgestellt, [3] ist die Gültigkeit dieser Theorie heute schon allein durch den schieren Verkaufsboom in Frage gestellt. Denn der Auflösung traditioneller Familienstrukturen und -bindungen korrespondiert nicht eine Ab- sondern scheinbar eine Zunahme des Einsatzes fotografischer Techniken. Diese Zunahme nicht als einen bloßen Marketingeffekt zubehandeln, sondern als Zeichen einer Veränderung fotografischer Gesten, mithin von Gemeinschaftsbindungen jenseits von Familie, ist der Anlass dieses Aufsatzes. Das klingt zunächst sehr thesenhaft und tatsächlich gilt es, innerhalb eines unübersichtlichen kulturellen Gefüges einige fotografische Praktiken erst herauszuschälen. Mit Blick sowohl auf die Amateurfotografie als auch auf das Feld der Bildenden Kunst und seine Ränder lassen sich als spezifische Praktiken und Ereignisse zum Einen eine Aufwertung des Knipsens bzw. einer Schnappschuss-Ästhetik feststellen, die in einem konstruierten oder faktischen Bezug zu familialen und alltäglichen Erfahrungen steht. Zum Anderen bzw. damit in Verbindung stehend fällt eine Anordnung fotografischer Bilder in Online-Datenbanken auf, bei denen der Künstler- bzw. Fotografenname kein zwingendes Ordnungskriterium ist, weil die Images und User eine sich durch die Website erst konstituierende Community bilden. Die Betonung von Authentizität und gelebter Erfahrung und das (öffentliche) Zugänglichmachen von Bildern scheinen einmal mehr der Vorstellung von Fotografien als Erinnerungsspeicher verschrieben zu

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sein. Die digitalen Aufnahme- und Distributionsverfahren stehen mit diesen Praktiken in Verbindung, ohne dass diese allein durch sie begründet wären – zu heterogen sind die in Umlauf befindlichen Apparate, Praktiken und Symboliken. Während der Großteil der fototheoretischen Überlegungen zur digitalen Fotografie seit den 1980er Jahren unter dem Gesichtspunkt Image Processing gedacht wurde, geht es im Folgenden um elektronische Signalspeicherung, also nicht um die Implikationen computertechnischer Bildmanipulation, sondern um eine Praxis, die sich digitaler Kameras bedient und/oder Fotografien in digitale Distributionsmedien einspeist. In diesem Feld ist die Vorstellung der fotografischen Authentizität konsistent, mehr noch scheint sie durch die Instantanität mit der Fotos unter elektronischen Bedingungen gemacht und zu sehen gegeben werden können, noch an Zugkraft zu gewinnen. Ungeachtet einiger Vorentscheidungen über die Effekte der »digitalen Revolution«, nämlich den eines umfassenden Verlustes des Wirklichkeitsbezugs fotografischer Bilder, [4] bleiben Unmittelbarkeit und Lebensnähe auch für das auf Chip aufgenommeneund/oder im Internet zirkulierende Bild zentrale Kriterien. Es geht also darum, einen Untersuchungsgegenstand überhaupt erst zu konstituieren; einen Gegenstand, der in der populären Kultur zu finden ist und sich abgrenzt von einem Meisterdiskurs der Fotografie, der begonnen hat, sich selbst zu Grabe zu tragen.

Meister

2004 war nicht nur das Jahr, in dem die Fotoindustrie – aufgrund preiswerter und benutzerfreundlicher Digitalkameras – abermals einen Verkaufsboom verzeichnen konnte, sondern auch das Todesjahr von drei so genannten Meisterfotografen, die den ästhetischen und technischen Raffinessen der analogen Fotografie verschrieben waren: Henri Cartier-Bresson, Richard Avedon und Helmut Newton. Für den Publizisten Claus Heinrich Meyer markiert Avedons Tod zugleich den Tod einer fotografischen Ära: »das 21. Jahrhundert wird solche Charaktere, solche Bildungen, solche ›stillen‹ Bilder nicht mehr hervorbringen«. [5] Gemeint sind die ästhetische Bildung Avedons und das Charaktervolle sowohl des Fotografen als auch der von

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ihm bekanntermaßen vor weißem Hintergrund und mit Großformat porträtierten Menschen. Von wem wird die Welt nun bevölkert, von Typen, von Role Players? [Siehe hierzu auch das Podiumsgespräch mit Isabell Heimerdinger: Mediale Realität und authentischer Ausdruck] Auch Gustav Seibt stellt in seiner Besprechung der Werkschau Cartier-Bressons im Berliner Martin-Gropiusbau das Ende eines Zeitalters, gar der Geschichte fest: »[Die Massenkultur] konnte sich nicht mehr im edlen Schwarzweißbild des seherischen Künstlers finden, sondern eher im verwackelten Schnappschuss einer anonymen Kamera. Die Welt dieses konsumistischen Pop ist egalitär, quietschfarbig, grobkörnig; Cartier-Bressons Welt ist schatten- und gestenreich, sie hat etwas Monumentales, Menschheitliches, Geschichtliches.« [6]

Seibts traditionalistische Gegenüberstellungen – Zeit der Geschichte versus Massenkultur, Schattenreichtum versus konsumistischem Pop, schwarzweiß versus quietschbunt, seherischer Künstler versus Anonymität der Kamera – mögen in Anbetracht von Picture Messaging und Imaging zwar eine assoziative Überzeugungskraft haben, sie bleiben aber dennochirritierend. Denn es gibt gute Gründe zu behaupten, dass die Ära der Fotografie immer schon die der Massenkultur, der Mechanisierung und des Konsums – der Moderne eben – gewesen ist. Die Verleugnung der mediengeschichtlichen Verankerung der Fotografie schreibt eine spezifisch kunstfotografische Haltung fort, die seit dem späten 19. Jahrhundert nicht aufgehört hat, die Fotografie als Kunst profilieren: Die Kunsthistorikerin Abigail Solomon-Godeau, die wie andere anglo-amerikanische KritikerInnen gegen diesen Diskurs interveniert hat, beschreibt die Kriterien für Kunsthaftigkeit von Fotografie so: »For the art photographer, the issues and intentions remained those traditionally associated with the aestheticizing use and forms of the medium: the primacy of formal organiziation and values, the autonomy of the photographic image, the subjectivization of vision, the fetishizing of print quality, and the unquestioned assumption of photographic authorship.« [7]

Der private Schnappschuss steht diesem ästhetischen Programm in der Tat diametral gegenüber. Anders als in Cartier-Bressons »entscheidendem Augenblick« [8] verdichtet der Snapshot nicht

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bedeutungsvolle Konstellationen zu einem einzelnen Bild, ›stillen‹ Bild, sondern ist dem Augenblick ohne jedes Entscheidende verpflichtet. Nicht über die Geschichte und die in ihr wirksamen Ereignisse, große Männer und Chronologien hat der Schnappschuss etwas zu sagen, sondern allein über die nächste Umgebung, über Freunde und Verwandte, über Feste und Ausflüge.

Fotografie und Geschichte kurzzuschließen ist dennoch nicht ohne Plausibilität (auch wenn die Proklamation eines Endes selbst noch historiografisch verfährt). Nicht nur Siegfried Kracauer hatte 1927 eine Parallelität von »historischer Realität und Kamerarealität« konstatiert, [9] die für ihn im Moment der Distanznahme, der Entfremdung begründet liegt, auch Roland Barthes hat angemerkt: »ein Paradox: dasselbe Jahrhundert hat die GESCHICHTE und die PHOTOGRAPHIE erfunden«. [10] Paradox ist diese Koinzidenz für Barthes deswegen, weil die Geschichtswissenschaft ein konstruiertes Gedächtnis sei, wohingegen das fotografische Bild – in Barthes Lektüreweise – eben kein Erinnerungsspeicher ist, sondern eine Option auf die Gewissheit über »das, wasgewesen ist«. Das ist ein subtiler, aber Ausschlag gebender Unterschied, denn von hier aus lassen sich Fotografien nicht nur als mehr oder weniger semantisch verdichtete Dokumente von Geschichte denken, sondern als schlagartige Wiederkehr vergangener Zeit, die sich im Betrachter ereignet, und zwar unabhängig von der ästhetischen Qualität der einzelnen Bilder oder der an sich schon zweifelhaften Kategorie einer fotografischen Handschrift. Barthes hat sich klar zur privaten Fotografie bekannt. Ob seine »romantische« Vorstellung einer Privatfotografie, die von Liebe und Tod handelt, [11] angesichts ihrer im Folgenden behandelten Erscheinungsformen noch angemessen ist, sei dahingestellt. Das schon deswegen, weil der Moment des Betrachtens zugunsten eines maßlosen Produzierens in den Hintergrund tritt.

»we are in love with your picture« (Lomo)

Ganz auf der Seite des Quietschigen, Grobkörnigen, bar jedes Seherischen oder Inszenatorischen, von Tiefe keine Spur, stehen die Lomographen. In dieser seit Anfang der 1990er Jahre bestehenden Foto-Community ist egalitäres Knipsen gerade das Erstrebenswerte. Die

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Ausrichtung ist partizipatorisch, das heißt Fotografieren soll als eine soziale Aktivität profiliert werden, bei der nicht das Gelungensein eines einzelnen Bildes von Interesse ist, sondern die Teilnahme an einem nicht-elitären, aber gleichwohl im weitesten Sinne künstlerisch verstandenen ›Projekt‹ entscheidend ist. [12] Die Konventionen des ›guten Bildes‹, die noch in den Amateurbereich ausstreuen, werden durch die programmatisch-ironische Vorschrift, nur einen einzigen, simplen Kameratypen zu benutzen, unterlaufen sowie durch die »Ten Golden Rules«, deren Befolgung helfen soll, sich wieder in den Zustand fotografischer Naivität zu versetzen. Lomographie ist Fotografie mit einer »Lomo Kompakt Auto«, einer – so die eigens fabrizierte Firmengeschichte – analogen russischen Spionagekamera, die auf Reisen durch die geöffneten Grenzen nach Osteuropa 1991 einigen Wiener Studenten in die Hände gefallen sein soll. Die Einfachheit der Kamera bei dennoch herausragender Optik und ihre Herkunft aus dem nostalgisch anmutenden ehemaligen Ostblock garantiert an sich schon einen Low-Tech-Charme. Die Möglichkeit einerpreiswerten, unkomplizierten – als demokratisch verstandenen – Bildproduktion begründet die Lomographische Gesellschaft Wien, die einen Import der Kameras besorgt und in einer Mischung von Club und Mission beginnt »spreading the message of LOMOGRAPHY throughout the globe«. [13] Die Botschaft von Lomographie, die auch über sich neu formierende Lomographic Embassies in die Welt geschickt wird, ist durch 10 Regeln bestimmt. In deren Mittelpunkt steht die Aufforderung, das Fotografieren zum Teil des Lebens zu machen und ständig, Tag und Nacht, Bilder zu produzieren. Die Kompositionsregel lautet, alles dem Zufall zu überlassen, bestenfalls gar nicht durch den Sucher zu schauen. Nicht ein Augenblick ist entscheidend oder richtig oder festhaltenswert, sondern jeder.

Die Abkehr, ja das Verbot ästhetischer Erwägungen erinnert an das 1995 von den Filmregisseuren Lars von Trier und Thomas Vinterberg verfasste Dogma 95, indem ebenfalls in 10 Punkten der Gebrauch einer 35 mm-Handkamera, ausschließlich Aufnahmen an Originalschauplätzen und O-Ton vorgeschrieben waren. Mit diesem »Schwur der Reinheit« wurde versucht,

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Lebensnähe und ›Wahrheit‹ durch das Ausstreichen von Kompositionsbemühen sowohl auf der Bildebene als auch im Hinblick auf die Geschlossenheit des gesamten Films zu erzeugen: »Ich schwöre, nicht auf ein ›Werk‹ hinzuarbeiten und fortan den Moment stärker zu gewichten als das Ganze.« [14] Das Illusions und Genrekino war ebenso Hassobjekt wie das sich genau gegen dieses stellende Autorenkino, denn die Etablierung und Zuerkennung eines individuellen Stils führe, so lässt sich das Pamphlet zusammenfassen, in einen kunstwollenden Meisterdiskurs. Dass mindestens Lars von Trier heute mit »Kunst« und »Autorschaft« etikettiert wird, mag in der Logik der Filmbranche und -kritik liegen sowie im nicht zuletzt von ihm selbst zelebrierten Geniemythos; interessant und durchaus mit den Anliegen der Lomographen vergleichbar ist aber die Ablehnung von Individualität und ein Bemühen um Authentizität, was durch puristische Technikvorschriften realisiert werden soll. Low Tech und De-Inszenierung werden zu Garanten von Lebensnähe und -echtheit, von Wahrhaftigkeit und Authentizität, nicht ohne dass diese Mittel selbst wieder zu einem ästhetischen Stil gerinnen.

Konsum

Die Lomographen haben auf das Gerinnen einer Anti-Ästhetik zum Stil weniger puristisch oder sich durch immer neue Konzepte entziehend als vielmehr kommerziell und konsumistisch reagiert. 1998 startet die »most interactiv, vivid, blurred and crazy« lomography.com-Website und 2001 eröffnet in »the new and sparkling« Kunsthalle Wien ein Lomographie-Shop mit einem Angebot von »unique and subtlety insane design products from around the world, in addition to our full line of Lomographic items.« Die Situierung des Shops innerhalb einer Kunstinstitution, dort aber direkt am Ausgang, bezeichnet sehr treffend einen ästhetischen Stilisierungswillen, der sich zugleich einem als elitär verstandenen Kunstanspruch versperren will. Eine ökonomische Ausrichtung des Projekts erscheint dann naheliegender. Der Gebrauch von Multi-Lense-Kameras oder Fish-Eye-Objektiven – die längst mit Patenten versehen und wie die Lomo selbst in eigener Produktion hergestellt werden – entspricht keinem ästhetischen Purismus mehr, sonder eher der Ideologie des Spaßhabens. Das Projekt einer

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weltumfassenden fotografischen Mission als egalitärer Austausch von Lebensweisen, mit einem Anklang von Völkerverständigung, lässt sich scheinbar mühelos in eine globalisierte Unternehmensstruktur überführen. Einem ständigen fotografischen Festhalten der eigenen Alltagswelt ist ein Verbrauch schon eingeschrieben, nicht allein auf der Ebene des Filmmaterials, sondern weil sich die Momentaufnahmen (und mit ihnen die Momente) im Zuge ihrer ständigen Überbietung abnutzen. Mehr noch als in den Events – Massenausstellungen in U-Bahnschächten beispielsweise – zeigt sich dieser Effekt auf der Website lomography.com. Weil dort die Bilder nicht temporär und ortsgebunden dargeboten, sondern in ein stetig anwachsendes Online-Archiv eingefügt werden, das mit jedem ans Internet angeschlossenen Rechner abrufbar ist, verschmelzen von Produktion und Konsumtion. Eine »Arbeit am Bild« als Versuch gestalterisch-künstlerischer Produktivität (ein Thema, das Anette Hüsch in ihrem Beitrag behandelt, siehe Künstlerische Konzeptionen am Übergang von analoger zu digitaler Technologie) wird in eine unvoreingenommene »Liebe zu jedem Bild« gewendet,die ihren Ausdruck im allgemeinen und sofortigen Verfügbarmachen der Fotos findet. Das lomographische Projekt der kontingenten Bildanhäufung wird damit noch auf der Ebene der Distribution realisiert. Die Devise ist »think analog, act digital«, das heißt die Aufnahmetechnik soll gemäß dem lomographischen Selbstverständnis analog sein, die Bilder aber digital distribuiert werden, via WWW oder auch indem sie direkt an Handys verschickt werden. Das Verzweigungssystem auf der Website ist diffizil: Es gibt »Public Folders«, »LomoHomes« (Webpages von Nutzern, davon 10.000) und schließlich ein übergeordnetes »LomographicWorld Archive«, in dem sich 27.000 Bilder online per Schlagwort bzw. »fun-diving« suchen lassen. Der »WorldBrowser« bietet »the ever expanding snapshot portrait of our planet« in nahezu 50.000 »city shots« und passende »city tips« dazu an, was die an verschiedenen Stellen betonte Lebensform des spielerischen Reisens hervorhebt. Die Anhäufung von Schnappschüssen in den verschiedenen Rubriken der Website sind nach Städtenamen, Schlagwörtern oder den meist spaßigen Benutzernamen der Community-Members abrufbar. Eine Weltkarte

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markiert die Gegenden, aus denen die Fotos stammen (Afrika und Vorderasien sind signifikanter Weise nicht Teil der Weltgemeinschaft) und zeigt den gegenwärtigen Status des fotografischen Weltporträts an [siehe hierzu auch den Beitrag von Jens Schröter, insbesondere den Abschnitt über die Geschichte fotografischer Weltbildarchive: Von der Materie abgelöste Form].

High Tech, Low Tech

Das Motiv des Reisens und des Sich-Mitteilens über entfernt von einander liegende Weltgegenden hinweg findet sich in diversen Internet-Projekten und auch Netzkunst- Arbeiten. In den zwischen 1995 und 1997 realisierten Travellogs »Arctic Circle«, »Tropic of Cancer« und »A description of the Equator and Some Other Lands« stellten z.B. die Künstler Felix Stephan Huber und Philip Pocock (in Kooperation mit anderen Künstlern) täglich Fotos, Videos, Sounds und Texte von ihren Reisen in von Europa aus gesehen entlegenen und zumindest vor ein paar Jahren noch spärlich mit Internetanschlüssen ausgestatteten Gebieten ins WWW. Anders als Huber/Pocock, die vomZurückgeworfensein auf sich selbst schreiben (»Contact, natural or virtual, is purely loneliness, or at least a reminder that we end in ourselves.«), verknüpft die heute unübersehbare Menge von Photoblogs [15] , Moblogs [16] und Photosharing Websites [17] das Teilen von Fotos mit der ganzen Welt auf euphorische Weise mit den Begriffen »love« und »friends«. Hier spielt die Vorstellung des WWW als demokratisches, User-to-User-Medium herein, das direkte, unmittelbare Kommunikation gewährleisten könne. [18]

Für diese fotografische Aktivität des Sharing, deren Medium das Internet ist, spielt die Digitalisierung von Bildern eine zentrale Rolle. Ausgehend von medienwissenschaftlichen Setzungen, dass digitale Bilder keine Bilder mehr seien, [19] bleibt die Frage, ob es einen Unterschied macht, analog oder digital aufgenommene Fotos in elektronischen Netzen zirkulieren zu lassen. Das erscheint abgesehen von dem unterschiedlichen Look, den die Verfahren erzeugen, für den hier diskutierten Zusammenhang von Fotografie, Gemeinschaft und Authentizität eher nicht so zu sein. Die Überschärfe digital fotografierter Bilder ist dabei im Gegensatz zu dem unscharfen Look der

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Lomografien eher ein Differenzkriterium innerhalb einer Community, als dass es sich um ein theoriefähiges Merkmal für ›Neuheit‹ oder einen medialen Bruch handelt. Entscheidend scheint vielmehr die Unaufwändigkeit zu sein, mit der Bilder instantan gemacht, verteilt und zugriffsfähig werden. Das geht im Vergleich zur klassischen Fotografie auch mit einer Minimierung oder dem Wegfallen der Laborarbeit einher. High Tech erzeugt gewissermaßen Low Tech, wenn man als Kriterien für letzteres eine einfache Handhabung und eine annähernd vorkehrungslose Verfügbarkeit geltend macht. Aus dieser Perspektive weisen – unangefochten von der Analog/Digital-Unterscheidung – z.B. einfache analoge Kameras wie die Lomo mehr Gemeinsamkeiten mit Fotohandys auf als mit Richard Avedons Großformatkamera, und der Einsatz eines Camcorders ist ungemein universeller möglich als alle drei Minuten eine neue Filmrolle in eine S-8-Kamera einzulegen. Mit dieser Konzeption von Low Tech ist eine umstandslose Bedienung und Integrationsfähigkeit des Apparats in den Alltag bzw. ›das Leben‹ angesprochen sowie die Möglichkeit große Mengen von Bildern aufzunehmen, so dass mit einem Fotohandyder Aufforderung, die Kamera zum Teil des Lebens zu machen, sie immer und überallhin mitzunehmen, schon allein deswegen problemlos gefolgt werden kann, weil man gar keine Kamera mehr braucht. [20] Überhaupt keine Kamera zu brauchen, das wäre die adäquateste Umsetzung des Schnappschuss-Verfahrens, das ja im Kern auf das Festhalten jeden Moments abzielt und zwar nicht, um diesen erinnerbar, sondern um ihn als Ereignis von Gegenwärtigkeit allererst erlebbar zu machen.

Schnappschuss

»Der Snapshot. Eine Art Polaroid vom geistigen Zustand, im Augenblick. Natürlich geht es auch darum, was drauf ist, auf dem Bild. Aber ebenso sehr um die ART der Bildherstellung, das Vorgehen bei der Produktion, die Methode, was ganz Formales also. Sich zu erinnern, nicht an früher, sondern an JETZT«, so steht es in Rainald Goetz‘ Abfall für alle. [21] Bevor es als Buch erschien, war »Abfall für alle« zunächst ein Internet-Projekt, in dem der Schriftsteller ein Jahr lang, 1998, täglich Fetzen seines Lebens notierte und online veröffentlichte: Überlegungen, Begegnungen,

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Gespräche, Telefonate, Einkaufszettel usw. Abfall ist in diesem Sinne buchstäblich zu verstehen; nicht als Trash, sondern als das, was in der täglichen Arbeit abfällt, die Reste, die übrig bleiben. Den Momentaufnahmen – als Aufnahme von momentan vorliegendem oder vorgefundenem Material – werden dabei keine Interpretationen oder Begründungen angeheftet, sie werden vielmehr gesampelt und in Serie gebracht, um jedweden Anklang an Innerlichkeit auszustreichen.

Von einem soziologischen Standpunkt aus gesehen ist das Knipsen eine redundante, allein rituelle Tätigkeit, die vollständig stereotype Bilder hervorbringt; von einem konventionell ästhetischen Standpunkt aus, der die Schablone der nie geklärten und auch gar nicht erklärbaren Kategorie des ›guten Bildes‹ anlegt, ist das Knipsen rein defizitär, resultiert aus einer Nicht-Bildung und kann auch nur ›Nicht-Bildungen‹ hervorbringen (Meyer). Was Goetz in Anlehnung an den Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann anklingen lässt, ist etwas anderes: Der Snapshot steht hier für ein Verfahren ein, das Schreiben und das zu Schreibende aus Alltäglichkeiten und einem radikalenGegenwartsbezug heraus erst zu entwickeln. Es geht also um die Performativität des Schreibens selbst, die hier in der Metapher des Snapshots kristallisiert, einem Akt »der das, worüber er zu sprechen scheint, in der variierenden Wiederholung von eingeführten Mustern und Formen allererst herstellt.« [22] Übertragen auf die konkrete Praxis des Knipsens eröffnet sich jenseits ästhetischer oder soziologischer (Dis)Qualifizierungen des Schnappschusses eine andere Perspektive: Weniger dem Bildgegenstand oder überhaupt dem einzelnen Bild gilt das Interesse, sondern dem Akt der permanenten Gegenwartsbezogenheit, der Herstellung von Fotos. Wiederholungen und Redundanzen sind dem performativen Akt dabei immer schon inhärent; Augenblicke werden eben jeden Augenblick neu erlebt. Insofern muss eine Kritik des Stereotypen der Schnappschüsse die Tätigkeit des Knipsens verfehlen, denn es geht in ihr – auch entgegen Bekundungen der Knipser selbst – gar nicht um Originalität, sondern gerade um Wiederholungen, nicht um das Schöpferische, sondern um das Aufnehmen von allem und jedem für alle und jeden.

Goetz und Brinkmann haben beide ihr Schreiben mit

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Celebration. Bilder und Texte zur Nacht (Götz, Reinald), 1999Rom, Blicke (Brinkmann, Rolf Dieter), 1979

eigenen und gefundenen Fotografien kombiniert; z.B. Goetz 1999 in Celebration und Brinkman 1979 in Rom, Blicke. [23] In beiden Fällen wird der Zustand eines temporären An-einem-anderen-Ort sein, einer Reise gewissermaßen – Technoclubnächte bzw. ein Villa-Massimo-Aufenthalt –, in Bild-Text- Montagen verdichtet, um gegenwärtiges Fühlen disponibel zu machen: »Das war ein Schnapp-Schuß aus meiner Umgebung, die aber auch etwas mich für mich sein läßt. Jetzt zum Beispiel wieder die schwarze Kühle, die in das Zimmer herein strömt. Ich meine, daß man sich mit allen Sinnen an derartiges klammern muß, der Rest ist Ramsch.« [24] Entscheidend ist, dass die Bild-Text-Kombinationen das Material nicht dokumentierend präsentieren, sondern in gesampelter Form. Das heißt, die ›Snapshots‹ werden transformiert und zu einem größeren Text zusammengesetzt, in einen solchen eingebaut; es handelt sich um Verfahren der Rezeption und Prozessierung von Momenthaftigkeit, von dem literarisches Arbeiten seinen Ausgang nimmt. Daran schließt sich die Frage an, wie Schnappschüsse, unerhebliches Bildmaterial, solches, das von den ästhetischen Diskursen abfällig betrachtet wird,überhaupt in Reihe gebracht werden kann.

»cameraphone canada car cat« (Flickr)

Unter der großen Anzahl von photo sites sticht besonders Flickr heraus, eine 2004 von der kanadischen Softwarefirma Ludicorp (»We're building a better platform for real time interaction online«) entwickelte photo sharing website, die im März 2005 von Yahoo übernommen wurde. Flickr ist im Prinzip ein 3,5 Millionen Bilder um- und erfassendes elektronisches Lager. Individuell betriebene Photoblogs ergänzt Flickr um eine Reihe hilfreicher Photo Management Tools: Moblogging; [25] die Möglichkeit, einzelne Bildpartien direkt zu annotieren oder die Festlegung bestimmter, geschlossener Nutzergruppen, z.B. die Verwandten vom letzten Familienfest. Die innovativste Funktion ist das Tagging: Tagging stellt die Möglichkeit bereit, Bilder zu verschlagworten bzw. um weitere Schlagworte zu ergänzen. Mittels User-Generated Tags entsteht eine kollektive Taxonomie, – bzw. Folksonomy, ein Neologismus aus »folk« und »taxonomy« –, die immer neue Bildsortierungen herstellt. Diese Funktion ist besonders für auditive und

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visuelle Daten sinnvoll, da diese mit fixen, einmal vergebenen Schlagworten nie hinreichend auffindbar sind und eine Volltextsuche, bei der die semantischen Einheiten direkt adressiert werden, nicht adaptierbar ist. Anders als in einem traditionellen Archiv sind die Klassifikationen hier also nicht konsistent und den Objekten eindeutig zugeordnet, sondern erweiter- und vor allem veränderbar. Wolfgang Ernst hat darauf hingewiesen, dass der Begriff »Archiv« für elektronische Datenbanken nunmehr noch rein metaphorisch funktioniere: »… das 21. Jahrhundert wird das jenseits der Archive sein.« [26] An die Stelle von ›stillen‹ Bildern, die mittels systematischer Kataloge eindeutig in Planablageschränken auffindbar sind, treten im intensiv annocierten »21. Jahrhundert« dynamische bzw. variable Schlagwortlisten für den Zugriff auf digital aufgenommene Bilder, die es außerhalb elektronischer Systeme gar nicht gibt. Das heißt die Bilder müssen nicht notweniger Weise irgendwo als Ding gelagert bzw. bewahrt werden; möglicherweise zirkulieren sie lediglich innerhalb elektronischer Apparate und Netze, wo sie auch verschwinden können. Die Immaterialität der digitalenBilddaten ist allerdings relativ, denn die Daten fußen auf einem erheblichen Arsenal an Hardware, die das Sofort, die ›live experience« erst erzeugen.

Auf Flickr reichen die beliebtesten Tags von »africa, amsterdam, animal« über »family, february, festival« bis zu »winter, work, yellow, zoo«. Sie bezeichnen einen Bildgegenstand, den Ort oder die Jahreszeit der Aufnahme oder, wie im Fall der Farben, einen im weitesten Sinn atmosphärischen Eindruck, eine Stimmung. Auch die Vielzahl von Schlagworten bringt deren Redundanz nicht zum Einbruch. Das gilt auch für die Bilder selbst: Die mit dem Schlagwort »cats« aufrufbaren Fotografien variieren 21.690fach das Motiv Katzen (Stand Mai 2005) und von jedem einzelnen Bild hat man den Eindruck, es nicht zum ersten Mal gesehen zu haben. Die Bildreihe könnte ebenso gut eine ironische Wendung des Projekts vergleichende Ikonografie sein oder ein künstlerisches Multiple über die Stereotypie der Amateurfotografie bzw. die Liebe zu Katzen. All das ist aber von Flickr und seinen Nutzern, so muss man zumindest annehmen, nicht intendiert.

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Ohio (Huber (Uschi) / Janka (Jörg Paul)), 1995

Found Footage

Sich dem fotografischen ›Abfall‹ sortierend zuzuwenden, ist auch das Vorhaben einiger künstlerischer Arbeiten. Sie bringen die Kategorie des künstlerisch wertvollen Bildes erst gar nicht in Anschlag. Die beiden Strategien, die hier vorgestellt werden, zielen eher darauf ab, allein durch die Serialisierung oder Sortierung von nach gängigen Kriterien unbrauchbaren oder rein instrumentellen Fotografien eine künstlerische Setzung hervorzubringen, die die eigene Autorschaft auf die Zusammenstellung des Found Footage verlagert. [Siehe hierzu auch das Podiumsgespräch mit Jörg Sasse und den Abschnitt Ver-Öffentlichung des Privaten im Beitrag von Jens Schröter.]

Das Photomagazin »Ohio« ist seit 1995 mit 13 Ausgaben erschienen und wird von Uschi Huber und Jörg Janka herausgegeben, die beide auch mit eigenen künstlerischen Fotoarbeiten bekannt geworden sind. Die Hefte und seit 1999 auch Videokassetten bzw. DVDs erscheinen ohne Textbeiträge, allein ein Bildnachweis informiert knapp über die Herkunft des veröffentlichten Bildmaterials. Die ersten Ausgaben erschienen noch mit dem Untertitel »Fotografien wienoch nie«. »Wie noch nie« meint, dass Ohio sich gegen Rubrifizierungen stellt, wie sie mit »Still«, »People«, »Food« in der kommerziellen und »Landschaft«, »Porträt«, »Stilleben« in der künstlerischen Fotografie üblich sind, um noch die Sphären des Angewandten und Künstlerischen selbst ineinander laufen zu lassen. »Noch nie« gab es das dann aber doch nicht, denn Ohio ist deutlich von den Found-Footage-Arbeiten des ursprünglichen Mitherausgebers Hans-Peter Feldmann inspiriert. Während die erste Ausgabe noch eine Mischung von Fotografien vollkommen verschiedener Herkunft war, haben die Publikationen zunehmend thematische oder monografische Ausrichtungen: Eine Ausgabe (Nr. 4) ist den Bildern eines Hobbyfotografen gewidment, der »über einige Jahre fast täglich den voranschreitenden Bau einer Eisenbahnbrücke in Hamm bei Düsseldorf» fotografierte. [27] »Ohio #7 besteht aus Bild- und Videosequenzen, deren Quelle ausschließlich Web- und LiveCams im Internet sind: Nächtliche Szenen an afrikanischen Wasserlöchern, Wellengang an neuseeländischen Stränden, Großstädte, Verkehr, Privaträume, Haustiere, Regen, Baustellen im All, Loch Ness und vieles mehr.« Urheberrechtlich geschützt

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sind die Zusammenstellungen der Bildstrecken und Videosequenzen, die immer ohne jede Kommentierung erscheinen, was ausdrücklich Programm ist, denn »der Schwerpunkt in Ohio liegt im Vertrauen auf das Bild selbst«. Das klingt nach angewandter Bildwissenschaft: Der Kunstwissenschaftler W.J.T. Mitchell forderte, im Erscheinungsjahr von Ohio Nr. 1, 1995, dass Kunsthistoriker im Sinne der Visuellen Kultur nicht fragen sollten: »›Was bedeuten Bilder?‹, sondern: ›Was wollen Bilder?‹« [28] Mitchells Anthropologisierung des Bildes ist bemüht, die Bilder aus der Umklammerung einer textorientierten, semantischen Interpretation zu lösen, um sie für eine Analyse von Affekten, Wahrnehmungen, Begehren und Gedächtnis zugänglich zu machen. Interpretationen liegen auch »Ohio« nicht: »Bildbegleitende Texte, die dem Bertrachter ursprünglich eine zielgerichtete Interpretation vorgaben, werden in Ohio weggelassen.« Aber wäre nicht eine Zugabe von Wort- oder Textelementen zu den »21 unkommentierte Sequenzen aus dem Videoarchiv der Stiftung Warentest Berlin« (Ohio, Nr. 9) zum Verständnis der Funktionalität oder auch Nicht-Funktionalität der Aufnahmen für die Testverfahren vonGebrauchsgütern durchaus bereichernd gewesen? Oder anders herum, welchen Affekt erzeugen die Bildstrecken außer einem ironisch-wissenden Schmunzeln? Peter Piller weiß um die Bedeutung der Bildunterschriften. Sein umfangreiches Archiv von Tageszeitungsfotos ordnet er sowohl nach selbstformulierten Schlagwörtern, die zum großen Teil vollkommen periphere Bildgegenstände benennen bzw. rudimentäre Beschreibungen abgeben – z.B. »erster Spatenstich«, »in Reihe stehende Menschen«, »Pfeile«, »Menschen vor ihrem Haus«, »Auto berühren«. Oder die vorgefundenen Untertitelungen selbst werden als Ordnungskategorie verwendet – »Stein des Anstoßes«, »die Idylle trügt«. Was schon allein die Beschränkung auf Tageszeitungen als Ausgrabungsstätte und das spezifische Interesse an den Lokalteilen erzeugt, sind um Eigentumsverhältnisse, gesellschaftliche Anerkennung und kommunale Aufräumarbeiten kreisende Bildsammlungen, die strukturell unabschließbar sind. Unabschließbar ist auch die Anzahl der Kategorien, die Piller entwirft, [29] ohne dass sie vollkommen willkürlich wären, denn der Künstler zieht mit ihnen gewissermaßen seine eigene

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Aufmerksamkeit in die jedweder stilistischer Anerkennung entbehrenden Alltagsfotografien ein. Piller kümmert sich um den fotografischen Abfall, der sich oft quasi selbstreferenziell mit Abfall beschäftigt – »Unfallwagen«, »Müll als Skulptur«, »umstürzende Türme« – ohne ihn zur Skurrilität aufzuwerten. Das Internet durchforstet Piller nicht nach den auch unter Künstlern äußerst beliebten Pornobildern, sondern nach »Haus + Hinten« und »Deko + Munition« und präpariert so den Stellenwert von Wohneigentum, Idylle, und der Verteidigung von beidem heraus.

Spiel

Zwei prägende Diskursstränge haben sich über die Geschichte der Fotografie gelegt: der ästhetische und der soziologische. Folgt man dem ästhetischen Diskurs, muss man allen erwähnten Bildsammlungen eine klare Absage erteilen: Sie genügen den Ansprüchen an Originalität, Expressivität, formaler Raffinesse und Geschlossenheit des Gesamtwerks auf keinen Fall. Auch wenn die Nutzer auf Flickr in ihren Kommentierungen genau diese Richtung der ästhetisierenden Qualifizierung einschlagen –»wow, i love this color!«, »i very much like your pictures. you are very talented« – bleibt der poststrukturalistische Befund bestehen, dass sich Fotografien nicht (und Schnappschüsse schon gar nicht) zu Kunstobjekten nobilitieren lassen, ohne ihren instrumentellen, medialen und simulakralen Status zu unterschlagen. Die Found-Footage-Künstler reagieren mit ironisierenden oder forschenden Strategien auf die Nicht-Ästhetik instrumenteller oder privater Bilder. Softwaregenerierte Sortierungen geben autorengebundenen Verdichtungs oder Selektionsprinzipien demgegenüber keinen Raum; das mag ihr Vorteil im Hinblick auf die Suspension von Autorschaft sein, ist aber ihr Nachteil im Hinblick auf die Verdichtung von Aufgenommenem zu kommensurablen Geweben.

Hinsichtlich ihrer sozialen Funktion können die Befunde Pierre Bourdieus und seiner Studiengruppe zur Familienfotografie von 1965 scheinbar bruchlos auf das elektronische Photosharing übertragen werden: »Die geographische Versprengtheit der einzelnen Verwandten verlangt gebieterisch die mehr oder weniger regelmäßige Wiederbelebung der

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Verwandtschaftskontakte, und dem genügt die Photographie besser als der bloße Austausch von Briefen.« [30] Wir ergänzen: … und dem genügt das Einstellen der Bilder ins WWW besser als das Verschicken von Briefen. Bourdieus These, dass Fotografien im Grunde nur über den Effekt der gesellschaftlichen Teilhabe, die sie erzeugen, Bedeutung gewinne, findet auf flickr.com, Photoblogs und diversen anderen Photosharing-Websites unmittelbar Bestätigung. Auch Lomography.com ist tief in die Stereotypien der Privatfotografie eingelassen, selbst wenn die Lomografien was Schärfe und Ausschnitte betrifft eine gewisse stilistische Differenz aufscheinen lassen: Zu sehen sind mehr oder weniger verwackelte und fehlbelichtete Schnappschüsse von städtischen Umgebungen, Freunden, Paaren, viel Natur und vor allem – als Garant für eine formale Abstraktionsleistung – viel Wasser; insgesamt erzeugen die Bilder eine kollektive Ferienstimmung, eine an den schönen Dingen des Lebens sich orientierende Weltsicht. Der Schnappschuss dient hier der Überwindung von Alltagsbanalität hin zu »der Idee vom geglückten Tag«. [31] Über die Lomo-Website legt sich eineversöhnliche, freundschaftliche Grundatmosphäre, die man aufgefordert ist zu teilen – »shoot, upload, share«. [32] Aber gerade in dieser stakkatohaften Aufforderungskette, die das Sofort schon im Sprachduktus transportiert, ist eine mediale Differenz zur klassischen Privatfotografie markiert, die es ermöglicht, die Fotoanhäufungen anders denn als reine Redundanzen zu denken.

Mit Sybille Krämers Überlegungen zu Internet-Interaktionen, lässt sich vermuten, dass es mehr als um die Betrachtung und das Erinnerungspotential einzelner Bilder um die Teilhabe an einem Spiel geht. [33] Die geforderte Unmittelbarkeit der fotografischen Bilder steht damit nicht im Kontext einer verdichteten Vermittlung von Alltagswelten, die man anderen Nutzern zur Kenntnis bringen will, sondern eher in dem einer „alltagsweltentlastenden« Spielsituation. [34] Krämer erkennt hier ein von der direkten Kommunikation unterschiedenes Merkmal des elektronischen Netzes, denn die Nutzer kommunizieren entgegen dem in der Internetliteratur verbreiteten Mythos der »direkten Kommunikation« gerade nicht mit anderen Nutzern, sondern mit Texten, oder eben mit

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digitalisierten Bildern, was schon durch die spaßigen Nutzernamen mit der »Außerkraftsetzung von Personalität und Autorschaft« verbunden ist. [35] Was entsteht, ist eine Intermedialität oder auch ›Interikonizität‹, in der nicht die Bedeutung und Signifikanz des einzelnen Textes oder Bildes zentral ist, sondern das, was sich zwischen ihnen ereignet. Das Spiel bestünde demnach darin, weitere Bilder herzustellen (»shoot«), anzuhäufen (»upload«) und mittels Schlagwortsuche zugänglich zu machen sowie in immer neuen Sortierungen erscheinen lassen zu können (»share«). Geteilt werden dann also nicht Erinnerungen oder ›Ansichten‹, sondern ein kollektives, momentanes Spielerlebnis, das »mit großer Passion um die Figuren des Zwecklosen und Überflüssigen« kreist. [36] Aus dieser Perspektive ergibt auch die schier inkommensurable Quantität von Bildern Sinn: Sie sind der Einsatz, die »Figur des Überflüssigen« selbst, die performativ das Spiel in Gang hält.

Life Style

Doch worum wird eigentlich gespielt? Um Life Styles wäre eine vorläufige Antwort. Lomos Botschaft, einenfotografischen Stil des realen Lebens zu praktizieren, kann nämlich ebenso gut verstanden werden als Produktion eines ›real lifestyles‹. Nach Lev Manovichs Medienspezifik des Internets ist es geradezu ein Grundprinzip von neuen, computerbasierten Medien über Variabilität Life Styles anzubieten: »In a postindustrial society, every citizen can construct her own custom lifestyle and ›select‹ her ideology from a large (but not infinite) number of choices. […] Every visitor to a Web site automatically gets her own custom versions of the site created on the fly from a database.« [37] Die variablen Interfaces der Websites, auf denen wie z.B. bei Flickr mit jedem Reload ein anderes Leitmotiv auf der Homepage erscheint, die »hottest tags« täglich upgedated und die neu eingegangenen Kommentare zu den eigenen Bilder angezeigt werden, sind aller Freundschaftsmetaphorik zum Trotz, oder besser: gerade innerhalb einer freundschaftlichen Community, immer auch Konsumentenadressierungen. Insofern wäre hier nicht oder nicht mehr Familialität der Fluchtpunkt der fotografischen Alltagspraxis, sondern das spielerische und spaßbetonte Verhandeln von Tags oder Labeln, durch die temporäre

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Gruppenzugehörigkeiten markiert werden. Unter dem Vorzeichen eines gemeinschaftlichen Online-Spiels vollzieht sich so eine Ästhetisierung nicht der Bilder, sondern des Lebens. Eine Ästhetisierung, die sich nicht außerhalb ökonomischer Interessen vollzieht, womit auch die Grenzen des Sharing gezogen sind: Sowohl Lomography.com als auch Flickr bieten eine Lizensierung der eingestellten Bilder an. [38]

In Anbetracht dieser Verschiebungen von der Figur des fotografischen Bildes als Anlass für Erinnerungstätigkeiten zum Image permanenter Gegenwartsbezogenheit ist es nicht nur eine medienkonjunkturelle Behauptung, ein postfotografisches Zeitalter auszurufen. Das nicht oder zumindest nicht nur aufgrund der digitalen Apparate und Techniken an sich, sondern wegen der kulturellen Praktiken, die sich an sie anknüpfen und sie auf oft unvorsehbare Weise in Dienst nehmen. Die veränderten fotografischen Gesten und Praktiken deuten darauf hin, dass »das Staunen über das ›Es-ist-so-gewesen‹ verschwinde[t]«, wie Barthes schon 1979 schrieb: »Es ist bereits verschwunden. Ich bin, ich weiß nicht warum, einer seiner letzten Zeugen (Zeuge des UNZEITGEMÄSSEN [de l’Inactuel]) …«. [39]

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