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Themenicon: navigation pathBild und Tonicon: navigation pathDas klingende Bild
Das klingende Bild - über das Verhältnis von Kunst und Musik. Ein kunsthistorischer Rückblick
Barbara John
 

Seit Beginn der Moderne hat das Wechselspiel zwischen Kunst und Musik wesentliche Impulse zur weiteren Entwicklung neuer Kunstformen gesetzt. [1] Im Folgenden soll die Vorgeschichte dieser modernen Synergie untersucht werden. Der hier im Vergleich zu den anderen Beiträgen von Medienkunstnetz weitaus größere historische Rahmen ist gerechtfertigt durch die Natur der Sache, denn seit Anbeginn der menschlichen Kultur wurden artifizielle Bilder und Töne erzeugt. Zu Recht wird in vielen Texten zum Thema auf die Urgeschichte oder zumindest die Antike zurückverwiesen. Vieles bleibt dabei allerdings spekulativ und oft wird die Geschichte aus einer heutigen Sicht neu gedeutet, wenn nicht sogar geschrieben. Im Folgenden sollen hingegen die überlieferten theoretischen Aussagen von Künstlern als Leitfaden dienen, um in einem kurzen Rückblick auf die westliche Kultur zu zeigen, wie sich dieses Verhältnis, das unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen begann, aus kunsthistorischer Sicht im Laufe der Jahrhunderte gewandelt und zu einem gleichberechtigten Zusammenwirken der Künste geführt hat. Der Weg wird dabei von der Antike unddem Mittelalter in großen Schritten durch die Epochen bis zum Übergang von den klassischen künstlerischen Techniken zu den Anfängen der Medienkunst führen.

Kunst und Musik – ein ungleicher Start

Im christlichen Abendland zählte die Musik zu den sieben freien Künsten, den sogenannten artes liberales, die bildenden Künste hingegen wertete man nur als eine handwerkliche Tätigkeit. [2] Die hohe Stellung der Musik basierte auf der Philosophie des Pythagoras, der die Tonlehre mit mathematischen Gesetzmäßigkeiten erklärte, die man im Mittelalter kosmologisch ausdeutete. Zusammen mit der Arithmethik, Geometrie und Astrologie bildete die Musik innerhalb der artes liberales das auf mathematischer Grundlage basierende quadrivium, dem eine besondere Funktion als Scharnierstelle zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zukam.

Doch schon Platon erkannte einen besonderen Zusammenhang zwischen Auge und Ton. Die Synästhesie (griechisch: Mitempfindung) zählt seit der antiken Philosophie zu den Themen der Erkenntnistheorie. Vor allem seit dem Barock stellte sie

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zudem ein Experimentierfeld dar für Erfinder von Maschinen und theoretische Spekulanten, wie beispielsweise Pater Castel. Im Folgenden sollen jedoch weniger Einzelaspekte, sondern die Synästhesie in ihrem kulturellen Gesamtkontext betrachtet werden.

Mittelalterliche Kirchenkunst und Musik

Die abendländischen Wurzeln eines unmittelbaren Zusammenspiels von Kunst und Musik liegen in der christlichen Liturgie. [3] Der Aufbau des Kirchengebäudes als Ort der Messfeier betont die besondere Bedeutung der Musik durch die Choranlage, die sich in unmittelbarer Nähe zum Altar befindet. Die musikalische Gestaltung ist unabdingbarer Bestandteil der Messfeier, die künstlerische Ausstattung des Altars unverzichtbare Voraussetzung für den zeremoniellen Ablauf. Die Schaufrömmigkeit des Mittelalters verlangte nach einer alle menschlichen Sinne ansprechenden Inszenierung, gleichsam einem religiösen Gesamtkunstwerk: den kultischen Ablauf mit der Erhebung der Hostie als Höhepunkt begleiten Gesang, Weihrauch und Kerzenglanz – mit dem Altarbild als Bildkulisse. Die Vielfalt künstlerischer Beiträge reichtvon der Dekoration der Musikinstrumente über Miniaturmalerei in den Gesangbüchern bis zur Tafelmalerei.

Die liturgische Ordnung bestimmt das inhaltliche Programm von Kunst und Musik. Die Festlegung der christlichen Festtage im liturgischen Kalender bedingt nicht allein die Auswahl der liturgischen Gesänge, sie hat auch Auswirkung auf das ikonographische Programm des Altarbildes. Dies betrifft beispielsweise die sich im Mittelalter stark ausbreitende Marien- und Heiligenverehrung. In der Tafelmalerei führt dies zu einer Erweiterung der Marienikonographie, in der Liturgie zu einer wachsenden Anzahl von Gesängen zu Ehren der Gottesmutter, die man an den entsprechenden Festtagen aufführt. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Heiligenverehrung ist das Altargemälde des Kölner Meisters Stephan Lochner für den Altar der Hl. Drei Könige.

Im Gegensatz zu den lateinischen Gesängen, die das normale Volk nicht verstand, und den theologischen Inhalten der Altargemälde, die für den Laien erklärungsbedürftig waren, entwickelte sich mit Aufkommen der Mystik eine weitaus anschaulichere Art

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der Vermittlung religiöser Botschaften. Als fruchtbares Betätigungsfeld von Malern, Bildhauern und Musikern entstanden ab dem 12. Jahrhundert die geistlichen Spiele, inbesondere die österlichen Passionsspiele. Sie regten neue musikalische wie bildliche Kompositionen an. Die Aufführung verlangte nach einer musikalischen Begleitung, gleichzeitig wurden neue rituelle Figuren entworfen, wie zum Beispiel der Passionsesel für das vorösterliche Spiel oder eine Marienskulptur zum Hochfahren im Kirchenschiff am Festtag Maria Himmelfahrt. Beide, Musik und Kunst, dienten zur Inszenierung eines Volksspektakels mit religiösem Inhalt.

Buch-, Wand- und Tafelmalerei gelten als wichtige bildliche Zeugnisse für die Geschichte der Volks- und Instrumentalmusik. Doch diese Darstellungen sollten nicht allein illustrieren, sondern auch belehren. Aus dem biblischen Themenkreis sind vor allem David mit der Harfe, der Tanz der Salome oder die musizierende Engelschar bekannt. [4] In weltlichen Darstellungen begegnet man dem singenden Troubadour, dem Tanzreigen oder der Personifikation der Musik.

Renaissance – ein Wettstreit der Künste Seit dem späten Mittelalter setzte eine sozialeVeränderung ein,Maler, Bildhauer und Architekten arrivierten zu Künstlern. Mit Beginn der Renaissance entbrannte ein Wettstreit der Künste untereinander. Die bislang gegenüber den anderen artes liberales wie der Musik untergeordnete Position der bildenden Künste wurde von universell ausgerichteten Künstlern wie Leon Battista Alberti (1404–1472) und Leonardo da Vinci (1452–1519) in Frage gestellt. Ein entscheidender Grund bestand in der Entdeckung der Zentralperspektive. Sie führte zu einer engen Verknüpfung von Kunst und Mathematik, unterlag doch die künstlerische Komposition fortan einer mathematischen Gesetzmäßigkeit. Alberti und Leonardo haben sich intensiv mit der Perspektive auseinandergesetzt und in ihren theoretischen Schriften eine Aufwertung der bildenden Künste insbesondere gegenüber der Musik gefordert.

Alberti beschäftigte sich vornehmlich mit dem Wettstreit der Künste untereinander. Seiner Meinung nach kommt der Malerei die höchste Stellung zu. Als humanistisch Gelehrter forderte er vom Maler nicht allein Kunstfertigkeit, sondern auch die Unterrichtung in allen Freien Künsten, vor allem in der Geometrie.

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In seinem theoretischen Traktat über die Malerei »De Pictura« von 1435/36 heißt es: »Über ein solches Ansehen also verfügt die Malerei, dass ihre Vertreter angesichts der Bewunderung, die man ihren Werken entgegenbringt, fast schon auf den Gedanken verfallen, sie seien Gott im höchsten Maße ähnlich. Ist es ferner nicht so, dass die Malerei als Lehrerin aller übrigen Künste zu gelten hat – oder doch zumindest als deren hervorragende Zier?« [5] Und weiter schreibt Alberti: »Also: diese Kunst verschafft Lust, wenn man sie nur pflegt; sie verschafft Ansehen, Reichtum und ewigen Ruhm, wenn man sie nur so pflegt, dass sie einen hohen Stand erreicht. Angesichts dessen – da die Malkunst sich als beste und ehrwürdigste Zier aller Dinge erweist, freier Menschen würdig, Gelehrten und Ungelehrten gleichermaßen lieb – fordere ich die lernbegierige Jugend mit umso größerem Nachdruck auf, sie möge ihr Bemühen, soweit nur immer angängig, der Malkunst zuwenden.« [6] Alberti, der besonders als Architekt zu großem Ruhm gelangte, übertrug die musikalischen Zahlenproportionen auf die architektonische Konstruktion. Berühmte Beispiele sind seine Entwürfe für die beiden Kirchen S. Francesco inRimini (1453) und S. Andrea in Mantua (1470). [7]

Leonardo hob die Diskussion auf eine höhere Ebene. Er bezweifelte die Überlegenheit der artes liberales gegenüber den bildenden Künsten. Sein exemplarischer Vergleich von Kunst und Musik diente dazu, eine gleichberechtigte Stellung der Kunst einzufordern. Als Universalgelehrter war er auf allen Gebieten bewandert. Überliefert ist, daß Leonardo selbst Musikinstrumente entwarf, zum Beispiel eine silberne Lyra in Form eines Pferdekopfes für den Fürsten Lodovico Sforza in Mailand. Er soll ferner ein hervorragender Musiker gewesen sein. Für sein berühmtes Porträt der Mona Lisa ließ er während der Porträtsitzung Gesang und Musik aufführen, um der Porträtierten einen heiteren Gesichtseindruck abzugewinnen. [8] In seinem berühmt gewordenen Traktat »Il Paragone« äußert sich Leonardo ausführlich zu der Beziehung zwischen Malerei und Musik: »Wenn du sagst, die nicht–mechanischen Wissenschaften sind die geistigen, dann sage ich dir, daß die Malerei geistig ist und daß sie, wie die Musik und die Geometrie die Verhältnisse zwischen den kontinuierlichen Quantitäten und die Arithmetik die Verhältnisse

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zwischen den diskontinuierlichen Quantitäten betrachtet, sie also alle kontinuierlichen Qualitäten der Verhältnisse zwischen Schatten und Licht und mit der Perspektive die der Entfernungen betrachtet.« [9] Und weiter: »Die Musik kann nicht anders genannt werden als die Schwester der Malerei, denn sie ist dem Gehör zugeordnet, einem Sinn, der nach dem Sehvermögen kommt, und erzeugt Harmonie durch die Verbindungen ihrer wohlproportionierten und gleichzeitig auftretenden Teile, die aber gezwungen sind, in einem einzigen oder mehreren Zeitmaßen zu entstehen und zu vergehen. Diese Zeitmaße umgeben die Wohlgefügtheit der Glieder, aus denen sich die Harmonie zusammensetzt, nicht anders als die Linien der Glieder umschreiben, aus denen sich die menschliche Schönheit zusammensetzt. Die Malerei überragt und beherrscht die Musik, weil sie nicht sofort nach ihrer Erschaffung wieder vergeht wie die unglückselige Musik, sondern, im Gegenteil, am Leben bleibt, und so zeigt sich als lebendig, was in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine Oberfläche. Oh wunderbare Wissenschaft, du erhältst die hinfällige Schönheit der Sterblichen am Leben, die dadurchdauerhafter wird als die Werke der Natur, denn diese unterliegen dem unablässigen Wechsel der Zeit und werden notgedrungen alt. Diese Wissenschaft (Malerei) verhält sich zum göttlichen Wesen wie ihre Werke zu den Werken dieses Wesens und deshalb wird sie angebetet.« [10]

Die besondere Bedeutung der Mathematik als gemeinsamer Grundlage von Musik und bildender Kunst wurde vor allem in der Intarsienkunst thematisiert. Die Holzverkleidungen von Chorgestühlen und Gelehrtenkammern zeigen ab dem späten 15. Jahrhundert trompe-l’oeil artige Stillebenkompositionen aus mathematischen Instrumenten, Musikinstrumenten, Büchern und Architekturansichten.

Künstlerviten, wie diejenige des Giorgio Vasari aus dem 16. Jahrhundert, berichten wiederholt von der musikalischen Begabung einzelner Künstler. Einer von ihnen ist der venezianische Maler Giorgione (1478- 1511), ein passionierter Lautenspieler, dessen göttlicher Gesang und dessen Musikspiel so geschätzt wurde, daß er zu hochrangigen Anlässen von Adligen als Musiker eingeladen wurde. [11]

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Ländliches Konzert (Giorgione)Gruppenportrait mit Musikern (Caravaggio)

Auch in seiner Malerei thematisierte er die Musik. In einem Gemälde Giorgiones, dem »Ländliches Konzert« (um 1510, Louvre, Paris) taucht als zentrales Motiv die Musik auf. Die pastorale Szene zeigt auf einer Wiese ruhend einen Lautenspieler, einem Hirten zugewendet, sowie eine unbekleidete, Flöte spielende Nackte. Am linken Bildrand hält eine zweite Nackte einen Krug über einem Steintrog. Giorgione, der selbst ein passionierter Musiker war, thematisiert hier die pastorale Landschaft als Ort musikalischer Inspiration, wo dem städtischen Musiker durch die göttlichen Musen und den Hirten künstlerische Eingebung gespendet wird. [12] Ein weiteres Beispiel für die Profanisierung des Themas Musik führt nach Rom ins späte 16. Jahrhundert.

Barock – Profanisierung und Illusionismus

Im Verlauf des 16. Jahrhunderts gewann das Thema Musik im Rahmen einer zunehmenden Profanisierung, aber auch einer spürbaren Verfeinerung sinnlicher Lebensgenüsse an Beliebtheit. In der Malerei tauchtdas Thema vorzugsweise als Allegorie des flüchtigen, vergänglichen Seins auf. Es entwickelte sich schnell zu einem Lieblingssujet der damals entstehenden Genremalerei.

Ein frühes Beispiel bietet der italienische Maler Caravaggio (1571–1610). Für seinen römischen Mäzen Kardinal Francesco Maria del Monte, bei dem er zeitweilig logierte, schuf er ein halbfiguriges Gruppenportrait mit Musikern mit Musikern. Um den in der Mitte Laute spielenden Jüngling gesellen sich drei weitere junge Männer, unter ihnen Caravaggio selbst. Dieser blickt rechts hinter dem Lautenspieler zum Betrachter, in der Hand hält er ein Horn. Im Hintergrund links erkennt man einen geflügelten Eros mit einer Weinrebe. Ganz versunken studiert ein vierter Jüngling Notenblätter. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass es sich um Musikerporträts aus dem Umfeld des Kardinals del Monte handelt, lässt die Kostümierung in antiken Gewändern auch auf eine allegorische Darstellung schließen, ähnlich wie in dem Bild Giorgiones. Die Bedeutung umschließt neben dem homoerotischen Charakter der Darstellung den

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allegorischen Verweis auf Liebe und Musik. [13]

Die Weiterentwicklung profaner Bildthemen führt im folgenden Jahrhundert zur Entstehung des Musikstillebens. Die alleinige Darstellung von Musikinstrumenten tritt sowohl als Einzelbild auf als auch in einem allegorischen Zyklus der menschlichen Sinnesorgane. Die Anordnung solcher Zyklen in den Kunst- und Wunderkammern der Barockzeit, Vorläufern unserer heutigen Museen, ist durch alte Inventare überliefert. In solchen Räumen arrangierte man einen Mikrokosmos aus Gemälden und Plastiken, ausgestopften Tieren, Herbarien, Mineralien, optischen Instrumenten und vielem mehr. Im Musikstilleben werden nicht allein die unterschiedlichsten Instrumententypen ihrer Zeit dargestellt, der Vanitasgedanke macht sie zu Instrumenten der Vergänglichkeit sinnlichen Genusses, ja zur Allegorie der Kurzlebigkeit des Menschen schlechthin.

Auf unzähligen Genrebildern der Barockzeit tauchen Musikinstrumente im Zusammenhang mit der Darstellung eines lockeren Lebenswandels auf. Das musikalische Spiel in der Wirtsstube, beim Schäferstündchen oder im gesellschaftlichen Salongerät zum Symbol einer moralisch bedenklichen Lebensführung.

Im barocken Kirchenraum gehen Architektur, Malerei und Plastik ein letztes Mal eine Symbiose unter religiösem Vorzeichen ein, die auf ein Ineinandergreifen aller Gattungen zielte, aber auch die Gefahr einer Veräußerlichung theologischer Inhalte in sich barg. Als eine Reaktion auf die Gegenreformation wurde der katholische Kirchenraum zur Steigerung der religiösen Erbauung neu gestaltet: hohe, überkuppelte Kirchenschiffe, eine farbenfrohe, mit Gold akzentuierte malerische und plastische Ausstattung, eine Orgel. Auf das protestantische Bilderverbot reagierte die katholische Kirche mit einer neuen, sinnlichen Bildstrategie, die sich nicht mit der Inszenierung eines Einzelbildes begnügte, sondern den gesamten Kirchenraum mit einbezog. Das Zusammenwirken aller Gestaltungselemente basierte auf dem barocken Lebensgefühl betonter Sinnhaftigkeit, Gefühlsüberschwünge, aber auch Gedanken der Vergänglichkeit. Der Kirchenraum wurde als Abglanz des Himmels aufgefasst, die Raumgrenzen zwischen Diesseits und Jenseits versuchte man durch das

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Zusammenspiel von Architektur, Plastik und illusionistischer Wandmalerei aufzulösen. Das Kirchenschiff sollte sich nach oben hin erweitern, zum Orgelklang sollte sich der Blick des Gläubigen zu dem geöffneten Himmel der Heiligen wenden. Das 17. und 18. Jahrhundert ist bekannt als Blütezeit des Orgelbaus. Es entstanden regelrechte Orgellandschaften, die geprägt waren von unterschiedlichen architektonischen und liturgischen Voraussetzungen. Denn erst in der liturgischen Feier griffen musikalische Orchestrierung und künstlerische Raumausstattung ineinander. Von ihr mag auch ein Vordenker der Moderne – Richard Wagner – nicht unbeeinflusst gewesen sein.

Frühe Moderne – Wagners Gesamtkunstwerk

Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangte die Musik gegenüber den bildenden Künsten eine herausragende Stellung. Die Musik konnte mit ihren Ausdrucksmitteln erfolgreich ein breites Publikum erreichen, das nach Aufklärung, Revolution und einem sich quer durch Europa ziehenden Krieg auf eine neue Sprache horchte – insbesondere diejenige Beethovens. Der PhilosophArthur Schopenhauer bemerkte dazu: »Die Musik ist die wahre allgemeine Sprache, die man überall versteht…Jedoch redet sie nicht von Dingen, sondern von lauter Wohl und Wehe, als welche die alleinigen Realitäten für den Willen sind.« [14] Es wundert unter diesen Bedingungen nicht, dass es ein Musiker war, der die Zusammenführung der Künste, natürlich unter dem Primat der Musik, anstrebte: Richard Wagner (1813-1883). Er entwarf in der Schrift »Das Kunstwerk der Zukunft« ein Zusammenspiel der Künste als Gesamtkunstwerk: »Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er [d.h. unser Geist] nicht als die willkürliche mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.« [15]

Als Vorreiter dieser Bewegung erkannte Wagner den Komponisten Beethoven, Held der »absoluten

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Festspielhaus Bayreuth (Wagner, Richard), 1873Beethoven (Klinger, Max), 1902

Musik«. Die Symphonien Beethovens beschreibt er als »die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat. So hat die Musik aus sich vollbracht, was keine der anderen geschiedenen Künste vermöchte.« [16]

Diesen ›künstlerischen Schlüssel‹ glaubte Wagner selbst empfangen zu haben. In Bayreuth strebte er mit dem Bau eines Festspielhauses, das einzig zur Aufführung seiner eigenen Dramen diente, nach dem ersehnten Gesamtkunstwerk. Die Musikinszenierung mit einem Orchester im Bühnengraben, das die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf das Zusammenspiel von Musik und Bühnenbild fokussierte, gilt als Vorläufer kinematographischer Aufführungen.

Wagners Ideen blieben nicht ohne Wirkung für die bildenden Künste. Eines der herausragenden Beispiele für seinen enormen kulturellen Einfluß liefert der Leipziger Max Klinger (1857–1920). Innerhalb von 16Jahren und mit einem Kostenaufwand von über 100.000 Mark schuf er die polychrome Plastik »Beethoven«.

Klassische Moderne – Beginn der Abstraktion

Wagners synästhetische Ideen wurden Ausgangspunkt für eine grundlegende Entwicklung der Moderne: die Abstraktion. Die Gleichzeitigkeit von akustischer und visueller Wahrnehmung, eingelöst in der Inszenierung des Bayreuther Festspielhauses, geriet zu einer neuen Herausforderung für die Wegbereiter abstrakter Malerei. Zu diesen zählte neben Frantisek Kupka (1871–1957), Mikalojus Ciurlionis (1875–1911) und Francis Picabia (1879–1953) auch der russische Maler Wassily Kandinsky (1866–1944). Dieser bemerkte rückblickend auf seine frühe Moskauer Zeit: »Lohengrin schien mir aber eine vollkommene Verwirklichung dieses Moskau zu sein. Die Geigen, die tiefen Baßtöne und ganz besonders die Blasinstrumente verkörperten damals für mich die ganze Kraft der Vorabendstunde. Ich sah alle meine Farben im Geiste, sie standen vor meinen Augen. Wilde, fast tolle Linien zeichneten sich vor mir. Ich traute mich nicht, den

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Impression 3 (Kandinsky, Wassily)

Ausdruck zu gebrauchen, daß Wagner musikalisch ›meine Stunde‹ gemalt hatte. Ganz klar wurde mir aber, daß die Kunst im allgemeinen viel machtvoller ist, als sie mir vorkam, daß andererseits die Malerei eben solche Kräfte, wie die Musik besitzt, entwickeln könne.« [17]

Ein einschneidendes Erlebnis für den synästhetisch veranlagten Kandinsky bildete die Berührung mit der Musik des Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951). Zusammen mit Franz Marc, Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin und Gabriele Münther und anderen Mitgliedern der ›Neuen Künstlervereinigung‹ besuchte er am 2. Januar 1911 ein Konzert Schönbergs in München. Aufgeführt wurde unter anderem ein Streichquartett, das Schönbergs atonale Schaffensperiode einleitete sowie die Klavierstücke opus 11. Kandinsky erfuhr durch dieses Konzert einen wesentlichen Impuls auf dem Weg zur Abstraktion. Unter diesem musikalischen Eindruck entstand das Gemälde »Impression 3« von 1911. [18]

Der Verzicht auf eine perspektivische Darstellung sowie die Loslösung der Farbe von dem gegenständlichen Motiv führten Kandinsky unmittelbar in die Abstraktion. Obwohl er schon seit 1908/9 ersteVersuche in diese Richtung unternahm, bedurfte es eines musikalischen Schlüsselerlebnisses, um den entscheidenden Schritt zu wagen. Ähnlich wie sich Schönberg von den Zwängen musikalischer Kompositionsgesetze befreite, strebte Kandinsky eine Loslösung von dem Diktat der Naturnachahmung an. Der Wegfall der Zentralperspektive in der Malerei fiel somit zeitlich zusammen mit dem Verlust eines bindenden Tonsystems in der Musik. Beide, Maler und Komponist, begegneten sich an einem Wendepunkt. Kandinsky suchte umgehend den persönlichen Kontakt zu Schönberg, der auch malte, und machte ihn zu einem Mitglied des »Blauen Reiters«. In seinem ersten Brief an Schönberg schreibt er: »Sie haben in Ihren Werken das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine große Sehnsucht hatte. Das selbstständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Compositionen ist gerade das, was ich in malerischer Form zu finden versuchte.« [19]

Anders als Kandinsky, der durch die atonale Musik Schönbergs eine entscheidende Inspiration zur flächigen Farbkomposition erfuhr, rückte für den

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Fensterbilder (Delaunay, Robert)

französischen Maler Robert Delaunay (1885–1941) die Simultanität und damit die zeitliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens. Er benutzte die Gesetze des Simultankontrastes zur Erzeugung von Vibrationen im Auge. Die Zeit geriet zu einer neuen Kategorie künstlerischen Schaffens und löste auf gewisse Weise die Bedeutung des zentralperspektivischen Raumes ab. Über den Rhythmus entstand eine besondere Affinität zwischen Kunst und Musik. Die Bildmotive Delaunays gerieten in Bewegung, sie sollten über den optischen Effekt hinaus gar zur Welterkenntnis führen. Sein Freund, der Dichter Guillaume Apollinaire, bezeichnete diese Malweise poetisch als ›Orphismus‹. Ein Stück paragone scheint wieder aufzuflammen, wenn man bei Delaunay liest: »Das Auge ist unser höchstentwickelter Sinn; es steht auf das engste mit unserem Gehirn in Verbindung, dem Bewußtsein. Es vermittelt die Idee der vitalen Bewegung der Welt und diese Bewegung heißt Simultanität.« [20]

Die Malerei geriet bei Delaunay zu einer zeitbasierten Farbkomposition. Die Wahrnehmung erfolgte nicht mehr im Sinne der klassischenPerspektivkomposition eines rechteckigen gerahmten Bildes. In seiner 1912 entstandenen Serie der »Fensterbilder« komponierte Delaunay meterlange Gemälde, die wie ein Ausschnitt die Wahrnehmung des Bildgegenstandes als zeitlicher Ablauf darstellen.

Über seine »Fensterbilder« schrieb Delaunay: »Die Benennung ›Fenster-Bilder‹ als Titel ist noch eine Erinnerung an die konkrete Realität; aber hinsichtlich der Ausdrucksmittel sieht man schon deren neue Formgebung. Das sind Fenster auf eine neue Realität. Diese neue Realität bedeutet nichts anderes als das Buchstabieren neuer Ausdrucksmittel, die, rein physikalisch, als Elemente der Farbe, die neue Form schaffen. Diese Elemente sind unter anderem gegenübergestellte Kontraste, die eine Bildarchitektur aufbauen, eine Anlage, ähnlich einem Orchester, sich entfaltend wie Sätze in Farbe […] Die Serie beschwört nur das sujet, die Komposition und die Orchestrierung der Farben. Das ist der Ursprung, das erste Auftreten der ungegenständlichen Malerei in Frankreich […] Die Farbe ist ihre eigene Funktion; ihre gesamte Bewegung ist in jedem Augenblick präsent, wie in der musikalischen Komposition in der Epoche von Bach

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oder in unserer Zeit guter Jazz.« [21]

Die Überlegungen Delaunays über die Bedeutung der Farbe, verbunden mit dem Wegfall der Perspektive und die neue Bildordnung in Analogie zu musikalischen Kompositionen erinnern sehr an die Gedanken Kandinskys. In der Tat lernten sie sich anlässlich der ersten Ausstellung des »Blauen Reiters« in München im Dezember 1911 kennen, an der auch Delaunay beteiligt war. Erhalten ist ein Briefwechsel zwischen beiden Künstlern vom Herbst 1911 bis zum Frühjahr 1912, als Delaunay seine »Fenster-Serie« begann. [22]

Von der Malerei zum bewegten Bild

Neben dem malerischen Ansatz Delaunays gab es auch eine Bestrebung, Farbrhythmen real als Bewegung zu komponieren. Leopold Survage (1879-1968) entwarf 1913 über siebzig Studien zu seinem Filmprojekt »Rhythme coloré«, einer leider nicht realisierten Farb-Rhythmus-Symphonie. Seine Ziele formulierte Survage 1914 folgendermaßen: » Nachdem sich die Malerei von den konventionellen Gegenständen der Außenwelt befreit hat, erobert sie das Terrain derabstrakten Formen. Nun muß sie ihre letzte und wesentliche Schranke – die Immobilität – überwinden, so daß sie ein ebenso reiches wie subtiles Ausdrucksmittel für unsere Empfindungen werden kann wie die Musik. Alles, was uns zugänglich ist, hat seine Dauer in der Zeit, die sich am stärksten in Rhythmus, Aktivität und Bewegung manifestiert […] Ich will meine Malerei animieren, ich will ihr Bewegung verleihen, ich will in die konkrete Aktion meiner abstrakten Malerei Rhythmus einführen, der meinem inneren Leben entspringt.« [23]

Neben Survage beschäftigten sich auch der schwedische Maler Helmuth Viking Eggeling (1890–1925) und der Dadaist und Filmpionier Hans Richter (1888–1976) mit diesem Thema. Beide lernten sich 1918 in Zürich kennen, gemeinsam arbeiteten sie über mehrere Jahre zusammen auf der Suche nach einer universellen Sprache. Richter beschrieb diese Zeit folgendermaßen: »Für uns beide wurde die Musik zum Modell. Im musikalischen Kontrapunkt fanden wir das Prinzip, das zu unserer Philosophie passte: jede Aktion ruft eine entsprechende Reaktion hervor. So fanden wir in der Kontrapunktfuge das geeignete System, eine

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Präludium (Richter, Hans), 1919

dynamische und polare Anordnung gegensätzlicher Energien, und in diesem Modell sahen wir ein Bild des Lebens an sich […] Monat für Monat studierten und verglichen wir unsere analytischen Zeichnungen, die wir auf Hunderten von Papierblättern angefertigt hatten, bis wir schließlich dazu kamen, sie als Lebewesen zu betrachten, die wuchsen, vergingen […] Nun schienen wir vor einem neuen Problem zu sehen, dem der Kontinuität […] bis wir – Ende 1919 – beschlossen, etwas zu tun. Auf langen Papierrollen verarbeitete Eggeling ein Thema von Elementen zu der ›Horizontal-vertikal-Messe‹ und ich verarbeitete eine der Rollen zu ›Präludium‹.« [24]

Die Ergebnisse ihrer Formexperimente auf langen Papierrollen führten Richter und Eggeling unmittelbar zum Film. Ihre abstrakten Formstudien wurden Grundlage zu Filmpartituren. Zusammen mit Walter Ruttmann (1887–1941) zählen sie zu den Pionieren des abstrakten Films. [25]

Ein besonderer Ort, wo sich die verschiedenen Künste symbiotisch entwickeln konnten, war das Bauhaus. Die dort lehrenden Meister im Bereich der bildenden Künste hatten vielfach einaußerordentliches Interesse an der Musik, wie beispielsweise Wassily Kandinsky, Oskar Schlemmer (1888–1943) und László Moholy-Nagy (1895–1946). Auch Paul Klee (1879–1840) griff Motive der Musik wiederholt in seinen Zeichnungen und Aquarellen auf. Schon sehr früh entdeckte er eine Beziehung zwischen Kunst und Musik. In seinem Tagebuch formulierte er: »Der hauptsächliche Nachteil des Beschauers oder Nachschaffers liegt darin, dass er zunächst vor ein Ende gestellt wird, und, was die Genesis betrifft, scheinbar den umgekehrten Weg geht […] Das musikalische Werk hat den Vorteil, genau in der Reihenfolge der Conception wieder aufgenommen zu werden, und bei öfterem Hören den Nachteil durch Gleichmässigkeit des Eindrucks zu ermüden. Das bildnerische Werk hat für den Unverständigen den Nachteil der Ratlosigkeit wo zu beginnen, für den Verständigen den Vorteil, die Reihenfolge beim Aufnehmen stark zu variieren.« [26] Klee begriff den Raum als Zeit, angelehnt an Delaunay, den er durch Vermittlung Kandinskys 1912 in Paris kennen lernte. Statt des von Delaunay eingeführten Begriffs der Simultanität benutzte Klee die Polyphonie: »Die

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Farbenlicht-Spiel (Hirschfeld-Mack, Ludwig), 1921

polyphone Malerei ist der Musik dadurch überlegen, als das Zeitliche hier mehr ein Räumliches ist. Der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reicher hervor. Um die Rückwärtsbewegung, die ich mir für die Musik ausdenke, zu veranschaulichen, erinnere ich an das Spiegelbild in den Seitenfenstern in der fahrenden Trambahn.« [27]

Klee nahm die Kategorie Zeit auch für die Malerei in Anspruch. Anders noch als Leonardo sieht er in der Zeit das Verbindende zwischen den Einzelkünsten. Seine um 1921 entstandenen Aquarelle, zu denen auch »Fuge in Rot« zählt, hatten großen Einfluss auf im Bauhaus stattfindende Experimente mit Lichtprojektionen.

Abstrakte Klänge – multimediale Aufführungen

Die Farbkompositionen Klees regten den damals noch als Student am Bauhaus eingeschriebenen Ludwig Hirschfeld-Mack (1893–1965) zu ersten Versuchen mit Lichtprojektionen an. [28] Erste Überlegungen zu den sogenannten »Farbenlicht-Spielen« entstanden 1921/22. Die Aufführung des abstrakten, farbigen Formenspiels, begleitet von Klaviermusik, fand 1923 imBauhaus statt. Mehrere Mitarbeiter waren erforderlich, um die vom Künstler entworfene Partitur zu realisieren. Die aus dem Dunkel des Projektionsraums auftauchenden farbigen Formen erinnern unmittelbar an Klees Aquarellkompositionen, sie sind in Bewegung umgesetzte Malerei. Hirschfeld-Mack äußerte zu seinen Lichtprojektionen: »…streben wir ein fugenartiges, streng gegliedertes Farbenspiel an, jeweils ausgehend von einem bestimmten Farbformthema.« [29]

Nicht mit Farben, sondern mit Wortlauten arbeitete der Hannoveraner Dadaist Kurt Schwitters (1887– 1948). Seine sogenannte »Merzkunst« umfasst sämtliche Bereiche der Kunst, von der Architektur über die Malerei bis zur Dichtung. Das Wort »Merz« bedeutet laut Schwitters »die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wirkung der einzelnen Materialien.« [30] Vielleicht war es ein Zufall, der das erste Merzwerk gerade in Verbindung mit Musik entstehen ließ: für das Porträt eines befreundeten Arztes ließ Schwitters den Betroffenen Klavierspielen. Während der Mann bei Beethovens

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Ursonate (Schwitters, Kurt), 1922Sieg über die Sonne (Krutschonych, Alexej)

»Mondscheinsonate« in Wallung geriet, kam Schwitters die Intuition, einen Bierfilz auf die Backe des Porträts zu kleben! Um 1919 entstanden seine ersten Merzgedichte, wie zum Beispiel »An Anna Blume«. Auf einer Grammophonplatte erschien 1924 die »Lautsonate Merz 13«, die »Ursonate« entstand über einen längeren Zeitraum in mehreren Fassungen von 1922 bis 1932. In der Zeitschrift G formulierte Schwitters 1924: »Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe.« Damit beansprucht er Buchstaben bzw. Laute als Rohmaterial für seine Dichtung, wie die auf der Straße gefundenen Abfälle für seine Materialcollagen. Schwitters fasst seine Absichten 1919 in »Selbstbestimmungsrecht der Künstler« zusammen: »Die merzdichtung ist abstrakt. Sie verwendet analog der Merzmalerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen. (Das ist furchtbar.) Diese Teile brauchen nicht zum Sinn zu passen, denn es gibt keinen Sinn mehr. (Das ist auch furchtbar.) Es gibt auch keinen Elefanten mehr, es gibt nur noch Teile des Gedichtes. (Das ist schrecklich.) Und Ihr? (Zeichnet Kriegsleihe.) Bestimmt es selbst, wasGedicht, und was Rahmen ist.« [31]

Die Beteiligung bildender Künstler an avantgardistischen Bühnenstücken oder gar der Entwurf eigener Stücke geschah in den 1920er Jahren immer öfter. Bekannt sind Kandinskys Entwürfe für »Bilder einer Ausstellung« von Mussorgsky (1928) oder Oskar Schlemmers »Triadisches Ballett« von 1922/26.

Ein frühes Beispiel für das Zusammenwirken von Komponisten und Künstlern bietet die Oper des russischen Futuristen Alexej Krutschonych. Für das Libretto seiner Oper »Sieg über die Sonne« komponierte Michail Matjuschin die Musik, Kasimir Malewitsch entwarf die Kostüme und Bühnendekoration. Das Stück wurde im Dezember 1913 in St. Petersburg uraufgeführt. Die transrationale Sprache des Stückes aus unverständlichen Wortschöpfungen geriet zum Ausdruck der sogenannten neuen Vernunft, die an die Stelle der alten Werte rückte, symbolisiert durch die Sonne. Die Oper hatte auch weitreichende Bedeutung für die künstlerische Entwicklung in Russland: Malewitsch verwendete hier erstmals Elemente des Suprematismus. Der russische Konstruktivist El Lissitzky (1890–1941)

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greift das Thema 1920/21 wieder auf. Für eine geplante Wiederaufführung der Oper »Sieg über die Sonne« als multimedialem Spektakel entwarf er mechanische Figuren als »Plastische Gestaltung einer elektro-mechanischen Schau«.

Lissitzky erläutert seine Ziele selbst im Vorwort einer Editionsmappe, die eine Auswahl der Bühnenentwürfe enthält: »Vorliegendes ist das Fragment einer Arbeit, entstanden Moskau 1920/21…Wir bauen auf einem Platz, der von allen Seiten zugänglich und offen ist, ein Gerüst auf, das ist die Schaumaschinerie. Dieses Gerüst bietet den Spielkörpern alle Möglichkeiten der Bewegung…Sie gleiten, rollen, schweben auf, in und über dem Gerüst. Alle Teile des Gerüstes und alle Spielkörper werden vermittels elektro-mechanischer Kräfte und Vorrichtungen in Bewegung gebracht, und diese Zentrale befindet sich in Händen eines einzigen. Dies ist der Schaugestalter. Sein Platz ist im Mittelpunkt des Gerüstes an den Schalttafeln aller Energien. Er dirigiert die Bewegungen, den Schall und das Licht. Er schaltet das Radiomegaphon ein, und über den Platz tönt das Getöse der Bahnhöfe, das Rauschen des Niagarafalles,das Gehämmer eines Walzwerkes. Lichtstrahlen folgen den Bewegungen der Spielkörper, durch Prismen und Spiegelungen gebrochen…Die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie wird vom Himmel herabgerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene Energiequelle schafft. Diese Idee der Oper ist eingewoben in eine Simultanität der Geschehnisse. Die Sprache ist alogisch. Einzelne Gedichte sind Lautgedichte.« Die klassischen künstlerischen Techniken, wie Instrumental-Musik und Malerei, werden schon bei Survage,Viking-Eggeling, Richter, Ruttmann, Hirschfeld-Mack schrittweise überwunden und durch neue mediale Formen wie Film, Licht und Klangapparate ersetzt. Es wird eine neue Totalität entworfen, die sich nicht mehr als genialisches Einzelwerk geriert, sondern im politischen Kontext des revolutionären Russland ein gesamtgesellschaftliches Ereignis werden soll. Hier hat sich durch die Technisierung von Mensch und Ton die Vision Wagners vom göttlichen Komponisten endgültig verbraucht zu Gunsten einer Apparate-Welt, die den Künstler vor vollkommen neue Aufgaben stellt.

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