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Themenicon: navigation pathFoto/Byteicon: navigation pathArchiv - post/fotografisch
Archiv – post/fotografisch.
Jens Schröter
 

Einleitung: Vom Archiv zur Übertragung.

1839 schrieb Jules Janin in einem der frühesten Kommentare zur Fotografie (damals Daguerreotypie), diese sei »das treue Gedächtnis aller Denkmäler, aller Landstriche des Universums; […] die unablässige, spontane, unersättliche Reproduktion der hunderttausend Meisterwerke, die die Geschichte auf der Oberfläche der Erde errichtet bzw. umgestürzt hat.« [1] In der Tat ist die Fotografie – als ein Medium, das erstmals die automatische Speicherung visueller Daten ermöglichte – von Beginn an mit dem Archivgedanken verknüpft. Der Zusammenhang von Fotografie und ›Archiv‹ ist mithin einer der zentralen Parameter jenes fotografischen Zeitalters, das sich in unserer ›post-fotografischen‹ Gegenwart dem Ende entgegenneigt. ›Archiv‹ sei hier in aller Kürze definiert als Ort und Struktur, die der Sicherung, Aufbewahrung und Ordnung für wichtig befundener Objekte und Dokumente dient. Als solches ist »das Archiv die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie Geschichte überhaupt stattfinden kann.« [2]

Die Frage nach dem Archiv – genauer genommen danach, was ein ›Archiv‹ in einer konkretenhistorischen Konstellation ist – stellt immer auch die Frage nach der Übertragung. Das ist mitnichten sofort einleuchtend, scheinen doch die Medien der Übertragung (zum Beispiel das Telefon) keineswegs jene der Speicherung (zum Beispiel Schallplatte) zu sein. Aber muss nicht jedes gespeicherte Datum selbst übertragen werden können, um Zugriff auf das Archiv zu erlauben? Die Fernleihe an Bibliotheken ist ein Beispiel: Wird nicht das bedruckte Papier oder doch wenigstens – wie heute unter JASON [3] allgemein üblich – ein gescanntes File übertragen, so ist kein Zugriff auf ein räumlich entferntes Archiv möglich. Ja, mehr noch: Wie der Verweis auf JASON deutlich macht, kann gerade der Übergang zu digital(isiert)en Archiven als eine Umordnung der Konfiguration von Archiv und Übertragung verstanden werden. Ein Archiv im Internet ist nichts, wenn seine Daten nicht zu meinem Rechner übertragen werden können. Oder wie es Wolfgang Ernst pointiert formuliert: »[W]ir befinden uns in einem medial induzierten Übergang von der speicher- zur übertragungsorientierten Kultur.« [4] Der folgende Beitrag wird sich insbesondere damit beschäftigen, wie künstlerische Strategien auf diese

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The Pencil of Nature (Talbot, Henry Fox), 1844

Umbrüche von der fotografischen Archivierung zur post-fotografischen Übertragung reagieren. »Die Avantgarde ist in Bewegung, während der Alexandrinismus erstarrt ist. Und genau dies rechtfertigt die Methoden der Avantgarde und macht sie notwendig« [5] , schrieb der Kunstheoretiker Clement Greenberg schon 1939. Versteht man ›Alexandrinismus‹ hier als Metapher für das turmhoch aufgehäufte und funktionalisierte Fotoarchiv, so müssten verschiedene Strategien der von Greenberg so emphatisch beschworenen ›Avantgarde‹ gerade darin liegen, dieses Archiv abzutragen – einer »De-Sedimentierung«, um einen Begriff Derridas aufzugreifen, zu unterziehen – und mithin umzuformen, aufzusprengen, fraglich zu machen. Dies scheint gerade in den letzten Jahren erkannt worden zu sein. Das Archiv spielt eine zunehmende Rolle in künstlerischen Strategien und ihrer theoretischen Reflexion, wie zum Beispiel an zwei umfangreichen Ausstellungsprojekten und -publikationen der letzten Jahre – »Deep Storage« [6] und »Interarchive« [7] – deutlich wird. Dass diese Intensivierung der Diskussion um die Rolle des Archivs schon in die ›post-fotografische‹ Phase fällt,lässt sich möglicherweise selbst als ein Symptom für dessen Umordnung ansehen.

Zuvor soll jedoch der Beginn dieses Bündnisses von Fotografie und Archiv kurz rekapituliert werden. Ich werde zunächst vier exemplarische archivische Gebrauchsweisen der Fotografie, die sich bereits im 19. Jahrhundert entwickelt beziehungsweise herauskristallisiert haben, darstellen, um dann die Veränderungen unter dem Vorzeichen des Digitalen zu erläutern.

Von der Materie abgelöste Form – das »Denkmälerarchiv Fotografie«

William Henry Fox Talbot bemerkte 1844 in »The Pencil of Nature«, dem ersten Fotobuch überhaupt, dass die Kamera »in ein paar Sekunden die schier endlosen Details gotischer Bauwerke abzeichnet«. [8] 1851 wurde auf Beschluss der Commission des Monuments historiques die ›Mission Heliographique‹ organisiert. Namhafte Fotografen der Zeit wie Hippolyte Bayard oder Édouard Baldus wurden beauftragt, in verschiedene Regionen Frankreichs zu reisen, um Aufnahmen von Baudenkmälern zu machen.

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Die angestrebte Archivierung von für wichtig befundenen (architektonischen) Kunstschätzen steigert sich bei einem Zeitgenossen des späten 19. Jahrhunderts schließlich zu einem »megalomane[n] Traum«. [9] Albrecht Meydenbauer, Leiter der Preussischen Königlichen Messbildanstalt, versuchte ab 1881 ein gigantisches Denkmälerarchiv zu errichten. Es sollte Fotografien versammeln, auf deren Basis photogrammetrisch – das heißt durch Ausnutzung der mathematischen Gesetze der Zentralperspektive – auch »nach 100 Jahren ein Bauwerk in Grund- und Aufriss mit allen Einzelheiten […] nachgebaut werden [könnte], nachdem es selbst vom Erdboden verschwunden ist«. [10] Dieser Triumph der fotografisch archivierten Form über die hinfällige Materie fand noch vor Meydenbauer seine programmatische Formulierung in einem bis heute vielzitierten Text von Sir Oliver Wendell Holmes: »The Stereoscope and the Stereograph« von 1859. Dort heißt es: »Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt. In der Tat ist die Materie in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von großem Nutzen, ausgenommen sie dient als Vorlage, nach [der] die Form gebildet wird. Man gebe uns ein paar Negative einesGegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.« [11] In der Tat: Zwischen 1858 und 1878 dokumentierte Charles Marville die durch Haussmann angestoßene, völlige Umgestaltung von Paris, das heißt des Abrisses großer Teile des alten Paris. In dieser Dokumentation diente die Fotografie als Mittel der Konservierung des Verschwindenden (eine zeitgenössische künstlerische Praxis, die hierzu Bezüge aufweist, ist die Arbeit von Bernd und Hilla Becher). Bei Holmes können die fotografisch (genauer stereo-fotografisch [12] ) abgelösten Formen scheinbar das Objekt selbst ersetzen: »Die Zeit wird kommen, da ein Mann, der irgendein natürliches oder künstliches Objekt sehen will, zur Reichs-, National- oder Stadtbücherei für stereoskopische Bilder geht und seine ›Haut‹ oder Form verlangt, wie er in einer Bibliothek nach einem bestimmten Buch fragt.« [13] Folglich spricht aus Holmes’ Begeisterung für die Form, die sogar das materielle Original verzichtbar macht, dann doch ein implizites Vertrauen in die Materie. Denn er unterstellt offenbar, dass die ›Banknoten‹ der

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Das imaginäre Museum (Malraux, André), 1950

›großen Bank der Natur‹ (wie er bezeichnend formuliert, s. u.), also die Fotografien auf Fotopapier, selbst alle Zeiten überdauern – wie auch Meydenbauer, dessen Archiv »für alle Zukunft« [14] angelegt sein sollte. Für heutige Archivare ist diese Annahme leider keineswegs so selbstverständlich. [15]

Das Archiv der Kunst – das imaginäre Museum

Die Reproduktion von ›Kunstwerken‹ wurde von Anbeginn an als mögliches Betätigungsfeld der Fotografie gesehen. So hatten einige der frühesten Versuche zur Entwicklung der Fotografie durch Nicephore Niépce schon der Reproduktion von bereits existierenden Bildern gedient (vgl. Susanne Holschbach: »bFoto/Byte. Kontinuitäten und Differenzen zwischen fotografischer und postfotografischer Medialität«, den Abschnitt Technische Reproduzierbarkeit). Auch in »The Pencil of Nature« von Talbot waren schon zwei Fotografien von einer Büste enthalten. Die Folgen dieser Entwicklung können kaum hoch genug eingestuft werden: Wie bereits Walter Benjamin betont hat, ist die im 19. Jahrhundert und auch 20. Jahrhundert immer wieder diskutierteFrage, ob die Fotografie (und später der Film) eine Kunst sei, zweitrangig gegenüber derjenigen danach, »ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe«. [16] Eine zweite, damit eng verbundene Frage ist, wie das entsprechende fotografische Archiv das Wissen von der Kunst(geschichte) restrukturiert.

Einige Konsequenzen dieser Transformation hat der ehemalige französische Kulturminister André Malraux in seinem 1951 erschienenen Buch »Les Voix du Silence« im indirekten Anschluss an Heinrich Wölfflin, Daniel Henry Kahnweiler und Walter Benjamin wirkmächtig formuliert. Seine Bezeichnung des durch fotografische Reproduktionen eröffneten Feldes als ›imaginäres Museum‹ wurde weithin bekannt. Malrauxs Museum ist imaginär, weil es nicht an einen Ort gebunden ist: Die fotografische Reproduktion zwingt nicht nur »zu einer Auseinandersetzung mit allen Ausdrucksmöglichkeiten der Welt […]« [17] – wie das Museum, sondern überschreitet jenes noch, weil es auch Kunstwerke enthalten kann, die an (unverrückbare) Architektur gebunden sind – wie zum Beispiel Fresken. Zudem mussten Kunstkenner zuvor herumreisen, um die Werke

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zu vergleichen – ein Vergleich zwischen Bild und Erinnerungsbild, der laut Malraux eine »gewisse Zone der Unbestimmtheit« herbeiführte. Demgegenüber stünden heutzutage dem Studierenden eine Fülle farbiger Reproduktionen nach den meisten Hauptwerken zur Verfügung. [18]

Die fotografische Reproduktion (und die damit einhergehende Diaprojektion) erlaubt also, Werke aus verschiedensten Zeiten nebeneinander auf einem Tableau zu präsentieren. Sie klammert anfänglich die Farbe aus – und lenkt so die Konzentration noch einmal auf das disegno. Außerdem vereinheitlicht sie die reproduzierten Objekte in der Größe – das Foto der Cheops-Pyramiden erscheint neben einem Foto einer Buchminiatur auf einer Buchseite –, reiht Fragmente beziehungsweise Detailausschnitte nebeneinander und diese wieder neben ganze Bilder und bringt so – je nach Kontext – »eine gewisse Verwandtschaft […] voneinander sonst noch so weit entfernte[r] Darstellungsobjekte zustande«. [19] So entsteht – sehr vereinfacht gesagt – die Kunstgeschichte als eine »Kunst der Fiktion« [20] , das heißt als ein Archiv intervisueller Relationen. Auch die doppelteDiaprojektion hat so im 19. Jahrhundert, trotz gewisser Anlaufschwierigkeiten, die kunstgeschichtliche Lehre einschneidend verändert. [21] Es entstand die von Wölfflin spätestens seit 1915 so genannte Stilgeschichte – insofern qua Diaprojektion die visuellen Differenzen zwischen Bildern evident werden konnten. [22] Die Kunstgeschichte ist so zu einer »Geschichte des Photographierbaren« [23] geworden. Wie weit diese Formulierung einmal reichen würde, war Malraux bei dieser Zuspitzung seiner Überlegungen wohl noch nicht bewusst: Zahlreiche Kunstformen – wie die Performance, die Land Art, das Happening, die Prozesskunst etc. [24] –, die sich in ihrem Rekurs auf das Flüchtige und Verzeitlichte der Strategie einer systematischen Ephemerisierung bedienen, wären ohne ihre fotografische oder filmische Dokumentation überhaupt nicht als Gegenstand von Kunstgeschichte denkbar.

Archiv und Kunstkanon

Die fundamentale Verwiesenheit der Kunstgeschichte auf das fotografische Archiv (Dias, Lehrbücher etc.) stellt unabweislich die Frage danach,

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After Walker Evans (Levine, Sherrie), 1981

welche Dispositive die Inklusion in dieses kunstkonstitutive Archiv gestatten oder verwehren. Und diese Frage wird insbesondere von jener Kunst gestellt, die noch nicht Teil des Archivs ist und mithin die sedimentierte Ordnung desselben aufwirbeln will und muss: der Avantgarde. Als ein diesen Prozess selbst reflektierendes Beispiel sei die Künstlerin Sherrie Levine genannt, die Anfang der 1980er Jahre besondere Aufmerksamkeit auf sich zog und bald als wichtigste Vertreterin der ›Appropriation Art‹ eingestuft wurde. 1981 trat Levine mit ihrer Serie »After Walker Evans« hervor. Die Künstlerin hatte Fotografien von Walker Evans abfotografiert und in der Galerie Metro Pictures präsentiert. [25] Es handelte sich um Fotografien, die Evans 1936 im Auftrag des Magazins Fortune in Kooperation mit dem Schriftsteller James Agee in den Südstaaten gemacht hatte und die 1939 als »Let Us Now Praise Famous Men« veröffentlicht worden waren. [26] Levines Verdoppelung dieser Fotografien verschiebt die archivischen Koordinaten, in die die Bilder Evans’ bislang eingerückt waren. Obwohl Evans’ Fotografien ursprünglich dokumentarische Funktionen hatten, wurden sie in der Folge zur Kunstnobilitiert und in das kunstgeschichtliche Archiv verschoben – so deklarierte Clement Greenberg schon 1946 die Arbeit von Evans zum Besten, »was die moderne Kunstphotographie zu leisten imstande ist«. [27] Durch Levines Entkoppelung des Bildes vom Autornamen – oder besser: die Verschiebung des Autornamens in den Titel des Bildes – wird die für die museale Formatierung des Archivs (neben etwa der Ordnung nach so genannten ›Epochen‹) konstitutive Sortierung nach Maßgabe von Autorennamen destabilisiert. Für einen kurzen Moment wird die in das Bild sedimentierte kunsthistorische Positionierung im Archiv aufgehoben. Doch das Archiv der Kunstgeschichte hat diese Abweichung mittlerweile neutralisiert: jetzt ruft das Bild reflexartig nicht nur den Namen ›Walker Evans‹, sondern auch den von ›Sherrie Levine‹ auf. Die künstlerischen Desedimentierungen des Archivs finden am Archiv der Kunst vielleicht selbst ihre Grenze. Die Verschiebungen dieses Archivs werden dann eher durch techno-diskursive Umbrüche ausgelöst – wie eben den Übergang zur so genannten Post-Fotografie, wie ich im Weiteren ausführen werde (s. u.).

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Bertillonage (Bertillon, Alphonse), 1890

Das Archiv der Polizei – die Verbrecherkartei

Noch problematischer gestaltet sich das Archiv und die ihm eingeschriebene Herrschaftsordnung, wenn es nicht um Dinge, sondern um Menschen geht. Das 19. Jahrhundert versammelte im Zuge des Kolonialismus ein riesiges Bildreservoir mit Porträts der ›Anderen‹, die nicht unter den Begriff des weißen, westlichen, bürgerlichen Subjekts fallen. [28] Aber nicht nur fremde Ethnien wurden der archivischen Klassifizierung unterworfen, sondern auch die sozial Anderen. Die Bürokratien der Überwachung und Kontrolle entdeckten schon früh die Potenziale der fotografischen Aufzeichnung. Schon bald nach der Erfindung der Fotografie kam die Idee des Passbildes auf; verhaftete Personen wurden porträtiert und zur Identifizierung bei Wiederholungstaten in so genannten Verbrecheralben gesammelt. [29] In seinem grundlegenden und einflussreichen Aufsatz »Der Körper und das Archiv [The Body and the Archive]« vertritt Allan Sekula, Theoretiker und konzeptueller Fotokünstler, die These, dass die Institution des Fotoarchivs als solche eine ihrer frühestenAusformungen in der engen Verbindung von professionalisierter Polizeiarbeit und der im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaft der Kriminologie gefunden hat. [30] Das mit der systematischen fotografischen Aufzeichnung von als kriminell eingestuften Personen einhergehende archivalische Versprechen, nämlich jedem Verbrecherkörper eine relative, quantifizierbare Position in einem größeren Ensemble zuweisen zu können, stand jedoch die schiere Menge der Bilder im Wege. Um dieses fundamentale Problem des Archivs unter Kontrolle zu bekommen, gab es – so Sekula – im 19. Jahrhundert zwei Strategien, die mit den Namen Alphonse Bertillon und Francis Galton verbunden sind. Alphonse Bertillon entwickelte nicht nur die seitdem geltenden Standards für polizeiliche Porträtfotografie, sondern auch ein komplexes, mit Karteikarten operierendes Klassifikationssystem, das es möglich machen sollte, einen bestimmten Einzelfall aus der riesigen Menge der im Archiv enthaltenen Bilder herauszusuchen. Der Anthropologe und Eugeniker Francis Galton dagegen verdichtete zahlreiche Fotografien durch Überblendung zu einem ›idealischen‹ Kompositbild, das

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die individuellen Züge zum Verschwinden und die den überblendeten Porträts gemeinsamen Merkmale zur Erscheinung bringen sollte. So sollte das ›Typische‹ des Verbrechers, aber auch verschiedener ›Rassen‹ sichtbar gemacht werden. Bei Bertillon geht es also um die eindeutige Identifizierung einer Person, bei Galton hingegen um die Typisierung, die ermöglichen soll, Verbrecher nach physiognomischen Merkmalen am besten schon im Vorfeld zu erkennen. Sekula summiert: »Bertillon versuchte, das Foto in das Archiv einzubinden. Galton versuchte das Archiv in das Foto einzubinden.« Diese beiden Pole prägen – so die These Sekulas – den Umgang mit dem Archiv, welches auch jenseits des im engeren Sinne polizeilichen Zweckes bald »zur dominanten institutionellen Grundlage fotografischen Bedeutens« [31] wurde.

Walker Evans’ »Dialog mit den empirischen Methoden der Kriminalpolizei«

Am Ende von »The Body and the Archive« stellt Sekula die Frage in »welchem Maß […] die selbstbezügliche Praxis der Moderne sich dem Archiv angepaßt« [32] habe. Er deutet einige diesbezüglicheMöglichkeiten an, von denen ihm als komplizierteste und intellektuell anspruchsvollste Reaktion auf das Archivmodell die Arbeit von Walker Evans gilt. Als Beispiel nennt Sekula die Strategie der »poetische[n] Struktur der Sequenz«, die Evans in seinem Buch »American Photographs« (1938) angewendet habe. [33] Am Rande erwähnt Sekula auch Evans UBahn- Fotos aus den späten 1930er und 1940er Jahren, die er als »Zeugnisse eines komplexen Dialogs mit den empirischen Methoden der Kriminalpolizei« [34] bezeichnet. Damit bezieht er sich wahrscheinlich auf Porträts von Menschen in der New Yorker Subway, die Evans zwischen 1938 und 1941 mit versteckter Kamera aufnahm und die erst 1966 unter dem Titel »Many are Called« erschienen. [35] Durch diese Betonung des automatischen Charakters des fotografischen Bildes wird auf die Überwachungstechniken der Polizei und anderer Staatsapparate (wie zum Beispiel des Militärs) verwiesen, bei denen es nicht um ein irgendwie durch einen Auteur ›ästhetisch‹ gestaltetes Bild, sondern um die gegebenenfalls automatische Abtastung einer Gegebenheit durch möglichst vollständige Aufnahme geht – wiewohl Evans durch die Zuschneidung und

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Subway Portraits (Evans, Walker)Menschen des 20. Jahrhunderts (Sander, August)

Selektion der Bilder interveniert hat. [36] Evans scheint ein Archiv an potenziell ›verdächtigen‹ Personen anzulegen. So gibt es eine Zusammenstellung von »Subway Portraits« (1938–41), die die für Arbeiten mit dem Archiv charakteristische Struktur des Rasters aufweist und dabei durchaus an Fahndungsplakate erinnert. Jedoch sind die Aufnahmen abgelöst von allen zusätzlichen Informationen, die es erlauben würden, den Personen einen Namen, eine Geschichte, eine Position im sozialen Terrain zuzuweisen. Zwar mag man – wie in etwa zeitgleichen archivalischen Projekten (zum Beispiel August Sanders »Menschen des zwanzigsten «) – versuchen, vom Aussehen der Personen auf ihre soziale Positionierung zu schließen – aber augenfällig ist eher, wie wenig dies gelingt (anders als bei Sander, wo die Betitelung der Bilder wichtige Hinweise liefert). So demonstriert Evans mit diesem »vast visual archive« [37] , dass Fotografien nur in spezifischen Kontexten als Element des Polizeiarchivs operativ sind. Schneidet man sie – materiell und metaphorisch – in einem zu hohen Maße aus dem Kontext heraus, verlieren sie ihre identifikatorische Funktion.

Das Archiv des Privaten – das Familienalbum

Eine an Wichtigkeit kaum zu überschätzende Form des Fotoarchivs ist das der privaten Fotografie – der größte Teil aller, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemachten Fotografien gehört diesem Bereich an. Seit der Ausbreitung der Kodak K-1 nach 1889 war die Verfertigung von Fotografien auch für technisch unbewanderte Normalbürger möglich, zunächst nur in den höheren sozialen Schichten, im Laufe des 20. Jahrhunderts schließlich für jedermann (und -frau): Wir alle fotografieren, wir alle kennen aber auch die endlos-schrecklichen Dia-Abende mit Urlaubs-, dann Hochzeits- und schließlich Kinderfotos. Es gibt detaillierte Analysen zu den Arten und Weisen, wie die Höhepunkte des familiären Lebens fixiert, die Geschichte der Familie in kommentierten Fotoalben immer wieder narrativ (re)konstruiert, wie Erinnerungssysteme an Verstorbene oder einfach nur durch die kapitalistische Mobilität fast immer Abwesende erzeugt werden (das berühmte Foto im Portemonnaie, also fast im Sinne Holmes’ eine Banknote) etc. [38] Diese Praktiken des Fotoarchivs

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Atlas (Richter, Gerhard)Zeitungsfotos (Ruff, Thomas), 1981

erlauben eine »narrative Stabilisierung durch Selbstvergewisserung«. [39] Durch isoliertes oder gemeinsames Bei-sich-führen oder Betrachten (ausgewählter) Fotos beziehungsweise von Fotosequenzen in ritualisierten Praktiken können bestimmte historische Genealogien und damit implizierte Zuschreibungen der eigenen gesellschaftlichen Position performativ stets von neuem hergestellt werden (siehe den Beitrag von Kathrin Peters. Sofortbilder].

Gerhard Richters »Atlas«

Eine wichtige künstlerische Strategie, die vom familiären, privaten Fotoarchiv ausgeht, um die »herrschenden sozialen Verwendungsweisen der Fotografie und ihre möglichen künstlerischen Funktionsweisen« [40] kritisch zu reflektieren, kann man in Gerhard Richters »Atlas« finden. [41] Familienfotos treffen hier auf Zeitungsfotos (die auch Thomas Ruff in einer Arbeit untersucht hat) oder auf Bilder der Werbung. Richter untersucht also gerade die Interferenz verschiedener Fotoarchive. Zwar sammelten Künstler schon immer Bilder und andereMaterialien, die ihnen als Vorlage und Anregung dienen konnten, doch bei Richter (der sie auch als Vorlage nutzt) wird dieses heterogene Repertoire schließlich selbst zur künstlerischen Arbeit – 1997 zog die Ausstellung dieses (u. a. schon 1976 in Krefeld, 1989 in München oder 1990 in Köln gezeigten) Repertoires auf der Dokumenta IX erneut viel Aufmerksamkeit auf sich. In dieser monumentalen Sammlung fotografischer Bilder, mit der Richter 1962 nach seiner Flucht aus der DDR begann, analysiert er – so Buchloh – die Fotografie »als eines der Werkzeuge zur gesellschaftlichen Einschreibung von Anomie, Amnesie und Verdrängung« [42] . Die Bilder sind auf rund 600 Tafeln, größtenteils nach dem – für die Arbeit am Archiv offenbar konstitutivem – »Darstellungssystem des rechteckigen Rasters« [43] angeordnet.

Die ersten Tafeln (Tafel 1-4, Albumfotos 1962–66, siehe Atlas. Tafel 2) enthalten Familienfotos, die auf Richters gerade zurückgelassene Vergangenheit in der DDR verweisen. Dieser Rekurs dient Richter als Ausgangspunkt für die Reflexion über die Beziehung zwischen Fotografie und historischem Gedächtnis (Buchloh unterscheidet diesbezüglich Richters Ansatz

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eines anomischen Archivs übrigens scharf vom ›melancholischen Archiv‹ im Werk von Bernd und Hilla Becher [44] ). Nach seiner Flucht fand sich der Künstler in einer Kultur wieder, die durch einen beschleunigten und erweiterten Produktionsapparat zur Weckung künstlicher Bedürfnisse und damit durch eine Masse vor allem von Werbefotografien drohte (und durchaus beabsichtigte), die traumatischen Spuren des Zweiten Weltkriegs und der – von Richter ja ganz konkret erlebten – deutschen Teilung zu verdrängen.

So ist der Aufbau von Richters »Atlas« nur konsequent: Kontrastiert man etwa die ersten mit folgenden Tafeln, so wird deutlich, dass die langsame Durchsetzung der Familien- mit Werbefotos die Spannung zwischen der öffentlichen Identitätskonstruktion durch die Medienkultur und der privaten Identitätskonstruktion durch das Familienfoto aufzeigt. Diese »Archäologie [im Sinne einer De-Sedimentation des Archivs, J. S.] pikturaler und fotografischer Register […], die ihr jeweils eigenes psychisches Reaktionsmuster« [45] hervorrufen, führt im »Atlas« schließlich zu einem Aufsprengen der »inhaltsleeren Flut von Fotografien und deruniversellen Produktion des Zeichentauschwerts« [46] . Die Tafel 18 (Atlas. Tafel 18) zeigt entsetzliche Bilder aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern: Das private Bildarchiv – das Familienalbum – wird von jenem der Geschichte punktiert (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Arbeit »Album de photos de la famille D., 1939- 1964« von Christian Boltanski).

Die Digitalisierung des Archivs

Von der Bildtelegrafie zum berechenbaren Bild

Das fotografische Archiv ist von Anfang an mit Belangen der Übertragung verbunden. Schon Holmes schrieb: Es »muß ein leistungsfähiges Austauschsystem eingerichtet werden, das zur Folge hat, daß so etwas wie ein allgemeiner Umlauf dieser Banknoten oder Wechsel auf feste Materie entsteht, welche die Sonne für die große Bank der Natur gedruckt hat.« [47] Die ›Banknoten‹ sind eben jene fotografisch abgelösten Formen der Objekte, die in der ›großen Bank der Natur‹, dem universellen Archiv, aufbewahrt werden. Der bezeichnende Vergleich der Fotografie mit dem einen und einzigen zirkulativen Medium des

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Kapitalismus, dem Geld, zeigt, dass in dem durch die Fotografie eröffneten Archiv zugleich immer bereits die Zirkulation (des Marktes) mitgedacht ist: »[…] Materie in großen Mengen ist immer immobil und kostspielig; Form ist billig und transportabel. […] Schon reist ein Arbeiter mit Stereo-Bildern von Möbeln durch die Lande, die die Kollektion seiner Firma zeigen und holt auf diese Weise Aufträge ein«. [48] Doch noch muss der ›Arbeiter‹ die stereoskopischen Bilder herumtragen, noch ist die Bildinformation nicht vollständig abgelöst und kann von selbst reisen, was erst mit der Ausbreitung der Bildtelegrafie möglich sein wird. Diese löst nun wirklich die Form von der Materie und erlaubt ihr, auch ohne den Arbeiter, der die Bildträger transportiert, zu reisen. So gesehen ist die Digitalisierung des fotografischen Bildes keineswegs ein Ereignis, das erst in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts auftritt. [49]

Das eigentlich Neue an der Nutzung digitalisierter Fotografien mit Rechenmaschinen, also Computern, ist aber Folgendes: Das Bild liegt bis zum Print als »array of values« [50] , als Zahlenmenge vor, in der die einzelnen Werte die Bildpunkte beschreiben – was es ermöglicht,das Bild mathematischen Operationen zu unterwerfen. Diese Berechenbarkeit des Bildes ist die zentrale Voraussetzung für Image Processing, also genau jenen Verfahren, die am Anfang der militärischen und astronomischen Nutzung von digitalisierten Bildern stehen, etwa um gestörte Bilder zu entrauschen, von Fehlern zu befreien etc. [51] Vor allem aber ist die mathematische Form konstitutiv für das post-fotografische Archiv.

Datenkompression/Original und Kopie

Nur die Datenkompression erlaubt – wenn überhaupt – die Überführung des Bildarchivs in ortlose Netze, weil Bilder als zwei- oder dreidimensionale Matrizen für ihre Archivierung und Übertragung sehr viele Ressourcen benötigen. Es gibt lossless und lossy compression, gegebenenfalls muss also auf Information verzichtet werden. Aus lossy komprimierten Bildern – und dazu zählen zum Beispiel die meisten netzüblichen JPEGs – lässt sich ein gegebenes Original nicht wieder vollständig rekonstruieren. [52] Der angeblich absolut verlustfreie Charakter der digitalen Reproduktion, insofern eine gegebene Menge von Zahlen einfach nur

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1:1 nachbuchstabiert werden müsste, um exakt dasselbe Bild zu ergeben, bricht sich also an der Pragmatik digitaler Bildarchive. So fungieren kleine, niedrig aufgelöste Bilder bei kommerziellen Bildangeboten im Internet oft als eine Art Index (›Thumbnails‹), der auf die höher aufgelösten, nur gegen Bezahlung erhältlichen und durch digitale Wasserzeichen gegen unerlaubte Vervielfältigung geschützten ›Originale‹ verweist. [53] Offenkundig taucht so die gelegentlich für obsolet erklärte Unterscheidung Original/Kopie auch im Reich der digitalen Reproduktion wieder auf – und mit ihr alle Probleme des Eigentums an Bildern beziehungsweise des Urheberrechts (s. u.).

Intermedialität/Umordnung des Archivs

Durch die Digitalisierung existiert verschiedenes Zeichenmaterial (Fotografien, Gemälde, bewegte Bilder, Schrift, Klänge, Messdaten etc.) nebeneinander im gleichen Archiv, das heißt die traditionellen Grenzen zwischen den Medien und damit den ihnen zugeordneten akademischen Disziplinen werden tendenziell aufgelöst (s. u.). Während eine traditionelleFotografie noch ein relativ isolierter Gegenstand ist, muss man ein digitalisiertes Foto als ein Element unter anderen in einem intermedialen Verknüpfungszusammenhang (zum Beispiel auf einer Website) verstehen. [54] Eine zukünftige Archivierung digitaler Information muss mithin mehr als nur die Anpassung an immer neue Datenformate etc. leisten. Vielmehr müssten auch die Kontexte einer spezifischen Information mitarchiviert werden. [55]

Dieser Intermedialität des digitalisierten Archivs entsprechen neue Formen der Adressierung von Bildern, denn »digitale Medien [können] im Unterschied zu den analogen eben nicht nur speichern, sondern auch sortieren und suchen« [56] . Das heißt die Anordnung des Bilderarchivs nach Künstlernamen, Epochen oder anderen Formen der Verschlagwortung könnte neuen Ordnungen – jenseits von Menschenaugen – Platz machen, die zum Beispiel auf einer durch automatische Bildanalysen bestimmten Ähnlichkeit von Bildern beruhen, [57] was heute bereits für Gesichtserkennung und damit Zugangskontrollen von Gebäuden von Relevanz ist. Überdies wären solche Verfahren in Hinsicht auf die

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Auffindbarkeit von Bildinformationen im chaotisch wuchernden Internet wichtig, doch bis jetzt existieren kaum zufriedenstellend operierende automatische Suchmaschinen für Bilder. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Hartmut Winkler auf die Gefahr hingewiesen hat, dass Konzerne (wie Corbis, s. u.) dereinst womöglich nicht allein die Bilder, sondern die eben durch entsprechende digitale Analyseverfahren eruierbaren und ungleich wichtigeren Bildmuster unter ihre Kontrolle bringen. [58]

Permanenz des Archivs als permanente Transformation

Schließlich ändert sich die Permanenz des Archivs. Die Haltbarkeit digitalisierter Fotografien oder genauer: der Datenträger, auf denen sie gespeichert sind, ist im Vergleich zu hochwertigen Schwarz/Weiß-Abzügen gering, obwohl die Daten durch Umkopieren auf neue Datenträger erhalten werden können. Es besteht die Gefahr, dass digital gespeicherte Bilddaten relativ plötzlich nicht mehr verwendet werden können – anders als bei analogen Medien, deren Aufzeichnungen langsam verfallen und lange Zeit noch lesbar bleiben. Überdies ist die Wiederlesbarkeit von Datenträgernangesichts häufig wechselnder Daten- und Software-Formate selbst ein Problem. [59] Insofern ist die Bewahrung in digital(isierte)en Archiven – prinzipiell anders als in analogen Archiven – auf eine permanente Transformation angewiesen. Während Bilder in Fotoarchiven nur in Ausnahmefällen fotografisch reproduziert werden müssen, um überhaupt weiter zu existieren, ist der Prozess der permanenten Neuformatierung auf neue Daten- und Speicherformate bei digitalen Medien der Normalfall. Die Bildinformation kann in strenger Realisation von Holmes’ Vision nur durch die ständige Migration der Form von einer Materie zur anderen überstehen. Eine der Weisen, wie die digital(isiert)e Bildinformation weiterexistiert, ist genau ihre ständige (auch wenn mangelhafte) Reproduktion und Übertragung durch Netze.

Von der Verbrecherkartei zur permanenten Videoüberwachung

Einige der Veränderungen, die die Einführung digitaler Informationsverarbeitungstechniken für die Praktiken der Polizei bedeutet, hat Leander Scholz in einer genauen Lektüre einschlägiger Texte Horst

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Neighborhood Watch (Hall, Doug)

Herolds, des ehemaligen Leiters des BKAs, herausgearbeitet: »[D]ie sogenannte ›Rasterfahndung‹ unterscheidet sich von vorhergehenden Fahndungsmethoden wesentlich dadurch, dass sie in Fällen Anwendung findet, in denen nicht nach einem schon identifizierten Täter gesucht werden kann, sondern bei denen ein unbekannter Täter durch Aussieben mittels Merkmalsgruppen von personenbezogenen Daten erst herausgefunden werden muss.« [60] Schon wieder scheint das »Dispositiv des ›Rasters‹« [61] eine zentrale Rolle zu spielen – doch offenbar in einer verschobenen Weise: »[D]ie mit der digitalen Datenverarbeitung gegebene Zäsur [scheint] […] darin zu bestehen, dass die gesamte zukünftige Bevölkerung eines Staates einem einzigen Dispositiv des Zugriffs anheim gestellt wird.« [62] Diesen Zugriff sieht Herold gerade durch die Möglichkeit gegeben, Daten durch »beliebige Verknüpfung […] in allen gewünschten Zusammenhängen und Kombinationen« [63] darstellen und analysieren zu können. Hier zeigen sich die Zusammenhänge zu den oben beschriebenen Verschiebungen des Archivs deutlich. Nicht nur werden Verbindungen zwischensehr unterschiedlichen Materialien – intermedial – möglich, sondern diese Verknüpfungen erlauben auch, Muster dort zu finden, wo für Menschen keine zu finden sind – ähnlich wie in Verfahren maschineller Bilderkennung. Das bedeutet aber: Das einzelne Bild wird weniger durch seine Produktion mit dem Ziel einer Lokalisierung in einer archivischen Matrix (wie bei den Täterfotos Bertillons) bestimmt, sondern ist ein arretierter Ausschnitt aus einem intermedialen Datenfluss, der heute vor allem durch Videoüberwachung erzeugt wird.

Die Ausbreitung solcher Videoüberwachungssysteme an allen öffentlichen Plätzen, in Einkaufszentren, in Regierungsvierteln etc. begann im Großbritannien der späten 1980er und frühen 1990er Jahre und wird inzwischen in ganz Europa immer üblicher – eine Entwicklung, auf die insbesondere der Künstler Heith Bunting Bezug genommen hat (siehe auch die in »Fotografie nach der Fotografie« präsentierte Arbeit von Dough Hall: »Neighborhood.Watch« [1995]). Videokameras zeichnen erst einmal so viel wie möglich auf. Erst wenn etwas geschehen ist, werden die Bänder durchforstet, Bilder

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History Painting: Shopping Mall (Wagg, Jamie)Composite-Fotografie (Galton, Francis)

gefunden und retrospektiv mit Bedeutung versehen: So geschehen etwa mit den Bildern, die Lady Di beim Verlassen ihres Hotels kurz vor Ihrem tödlichen Unfall im Herbst 1997 zeigen. Winfried Pauleit spricht daher von Bildern im futur antérieur, die erst nachträglich gegebenenfalls zu polizeilichen werden. [64] Das Paradigma der Videoüberwachung scheint mithin das Fotoarchiv tendenziell zu ersetzen – ganz in dem Sinne der zunehmenden Dominanz der Übertragung gegenüber der Speicherung, wie in der Einleitung konstatiert wurde. In künstlerischen Praktiken gab es eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Verschiebung. So hat Jamie Wagg ein zu trauriger Berühmtheit gelangtes Bild aus einer Videoüberwachungs-Sequenz für seine Arbeit »History Painting: Shopping Mall« verwendet. [65] Die digitale Bearbeitung, die Wagg dem Bild aus dem Videostream zukommen lässt, verweist auf polizeiliche Bildanalyseverfahren. [66] Wie im Abschnitt »Das Archiv der Polizei – die Verbrecherkartei« ausgeführt wurde, stellte laut Allan Sekula die schiere »Menge der Bilder« für die Staatsapparate das »fundamentale Problem des Archivs« [67] da. Heutzutage erlaubt die zunehmendeVerbesserung der Bildanalyse einen neuartigen Umgang mit den Bildern, der in gewisser Weise eine Synthese aus Bertillons Verfahren, die Bilder in ein Ordnungssystem einzuordnen, und Galtons Ziel, aus dem Spezifischen das Typische herauszukristallisieren, darstellt. Denn nur durch einen Prozess des mathematischen ›Herauskristallisierens‹ kann nämlich allererst die Einordnung in ein Ordnungssystem gelingen, wobei die Erkennung des spezifischen Einzelnen zwar immer noch im Mittelpunkt steht – aber anhand seines Typischen. Während Galton also zum Beispiel zwanzig Verbrecher in einer Kompositfotografie übereinander legte, um den typischen Verbrecher zu finden, so ist jetzt die Aufgabe einschlägiger Bildanalysesoftware an einem einzelnen Verbrecher dessen Typisches zu finden, also den allgemeinen Durchschnitt wiederum vom Einzelnen zu subtrahieren. So gesehen ist es außerordentlich bezeichnend, dass eine der frühesten künstlerischen Einsätze der digitalen Bildbearbeitung bei Nancy Burson direkt an Galtons Kompositfotografie anschließt. Schon zu Beginn der 1980er Jahre produzierte sie ihre Bilder, in welchem zum Beispiel Portraits sehr unterschiedlicher

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Big Brother (Stalin, Mussolini, Mao, Hitler, Khomeini) (Burson, Nancy), 1983

›Diktatoren‹ (Stalin, Mussolini, Mao, Hitler, Khomeini) zu einem Kompositbild des »Big Brother« verschmolzen sind – sie zieht, mit Sekula gesagt, das Archiv in Einzelbildern zusammen.

Ver-Öffentlichung des Privaten

Der tendenziellen Ausweitung des polizeilichen Archivs durch Rasterfahndung und Videoüberwachung auf potenziell Jeden entspricht, dass die zuvor relativ klar gezogenen Grenzen zwischen privat und öffentlich aufgeweicht werden. [68] Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in den domestischen Verwendungen der Fotografie. Digitale Fotoapparate oder sogar digitales Video haben zunächst bruchlos an die Verwendung fotound videografischer Techniken bei der Aufzeichnung familiärer Höhepunkte, dem Heranwachsen der Kinder, des Urlaubs etc. angeschlossen. Auf dieser Ebene ist zunächst keine Veränderung der Pragmatik durch den Übergang zu digitalen Medien zu beobachten. [69] Bemerkenswerter ist, wie sich der Umgang mit den Bildern verändert hat. Zwar können die Bilder immer noch ausgedruckt und in Fotoalben zu kleinen Narrativen derpersönlichen Selbstvergewisserung angeordnet werden; dasselbe erlauben aber auch Homepages im World Wide Web. Die privaten Narrative werden so – jedenfalls im Prinzip – öffentlich gemacht. [70] Außerdem können die Bilder relativ leicht per E-Mail versandt werden (siehe hierzu den Beitrag von Kathrin Peters. Sofortbilder). Eine der auffälligsten Formen, in denen der Übergang der privaten Bilderproduktion in die Öffentlichkeit deutlich wird, ist die inflationäre Verbreitung der Amateur-Pornografie. Nun ist es jedermann möglich, exhibitionistisch seine eigenen Sex-Praktiken in die Öffentlichkeit zu tragen – ein einschlägiges Bildarchiv im Web, auf der zahllose derartige Fotografien neben anderen (insgesamt 1.968.947 in 655 Kategorien am 12.12.04) unter Kategorien wie »alt.binaries.pictures.erotica.amateur.facials« aufzufinden sind, ist. Überdies gibt es viele Websites, auf denen Privatleute hyper-exhibitionistisch ihre individuellen Porno-Bildarchive vermarkten (zum Beispiel oder: Die kapitalistische Zirkulation erfasst – in einer Weise, die sich Sir Oliver Wendell Holmes sicher nicht hat vorstellen können – nun auch die privaten Bildarchive. Ähnlich erlaubt es ebay – das

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Globen/Globes (Binschtok, Viktoria), 2002Transmission Interrupted (Brodsky, Michael), 1995Nudes (Ruff, Thomas), 2002

weltweit größte elektronische Auktionshaus für ansonsten begrenzt vermarktbare Waren – die gesamte heimische Wohnung in einen Teil des globalen Marktes zu verwandeln (vgl. hierzu die Arbeit »Globen/Globes« von Viktoria Binschtok und Peter Piller). Die privaten Fotografien werden im Raum des postfotografischen Neoliberalismus tendenziell, was sie lange Zeit emphatisch gerade nicht waren: nämlich Waren. Michael Brodsky hat mit seiner Arbeit »Transmission Interrupted« sowohl auf die Dominanz pornografischer Bilder im Internet, als auch auf die zentrale Rolle der Übertragung reagiert. Auch die jüngeren Arbeiten von Thomas Ruff scheinen auf diese Entwicklungen zu reagieren: Seine Serie »Nudes« (ab 1999) basiert auf Pornobildern aus dem Netz (ob nun von Amateuren oder ›Profis‹).

Eine völlig andere Auseinandersetzung mit dem privaten Fotoarchiv unter digitalen Bedingungen findet sich in der Arbeit von Jörg Sasse. Seine Arbeit bezieht sich weniger auf die gegenwärtigen post-fotografischen Archive des Privaten, sondern ist vielmehr ein Rückblick auf die fotografischen Archive – mit digitalen Mitteln. [71] Er sammelt große Mengen anausgemusterten privaten Fotografien – zum Beispiel durch Aufkauf alter Fotografien auf Flohmärkten etc. Die Bilder werden gescannt, durchgesehen, selektiert – viele werden kurz nachbearbeitet; einige wenige werden dezidiert durchgearbeitet. Sasse versucht die Bildmuster, die die scheinbar so spontane und private Familienfotografie strikt regulieren, nicht herauszupräparieren, sondern eher durch einen dezenten Eingriff aus den digitalisierten Fotografien zu entfernen oder zu verschieben. So wird dem Betrachter bewusst, wie er bis jetzt ›selbstverständlich‹ sah – also nicht sah. [72]

Ein weiteres, bislang leider nicht ausgeführtes Projekt ist Sasses Weltbildarchiv im World Wide Web. Ursprünglich war angedacht, es allen Usern zu erlauben, Verbindungen zwischen zufällig aus dem Archiv Sasses ausgewählten Fotografien herzustellen. Die User hätten angeben können, ob die Bilder ihrer Meinung nach gut oder schlecht zusammenpassen (in fünf Graden). So sollte im Laufe der Zeit eine Art Topografie entstehen, an der sich ein konventionelles fotografisches Bildbewusstsein hätte ablesen lassen (diese Form des Umgangs mit Bildern findet sich jedoch

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Volume I (Fröhlich, Fred)

bereits realisiert in Photoblogs wie flickr.com, vgl. Kathrin Peters: Sofortbilder. Diese ›Versuchsanordnung‹ hätte eine ›demokratische‹ [73] Rekonstruktion der dem privaten Fotoarchiv zugrunde liegenden Bildmuster leisten können oder sollen – jenseits der Rekonstruktion solcher Muster durch teure und exklusive Bildanalysesoftware im Dienste militärischer oder monopolkapitalistischer Zurechtmachungen des kollektiven visuellen Gedächtnisses (die kommerzielle Formatierung des Archivs ist Gegenstand der Arbeit »Volume 1« von Fred Fröhlich.

Alexandria und die Avantgarde

Die Möglichkeiten der Digitalisierung führten bald zu einer intensiven Diskussion, inwiefern das kulturelle – spezieller: das künstlerische – Erbe digital archiviert werden könnte. Genauer fällt diese Frage in zwei Punkte auseinander: Erstens, ob und wenn ja, wie das bisherige Bilderbe in digitale Form gebracht werden kann und zweitens, wie die auf digitalen Medien beruhenden Kunstformen selbst archiviert werden können.

Diese Fragen stellen sich übrigens nicht nurMuseen hinsichtlich des Problems, welche Funktion virtuelle Museen spielen könnten, [74] sondern – da der Unterschied Original/Kopie eben keineswegs verschwunden ist – auch kommerzielle Bildanbieter. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Datennetzen wächst die kommerzielle Rolle der digitalisierten Fotografien gegenüber ihren fotochemischen Vorlagen: »Man geht dabei von der Annahme aus, daß es in naher Zukunft ohnehin nur noch auf die elektronische Reproduktion ankommt, was weiters impliziert, daß Reproduktion mittlerweile der einzige Aspekt eines Bildes ist, den es zu besitzen lohnt. […] Nicht die Fotografie an sich will er kontrollieren, sondern den gesamten Fluß fotografischer Daten.« [75] Das ›er‹ in der Aussage Batchens bezieht sich auf Bill Gates, Mitgründer von Microsoft, dessen Firma Corbis nach dem Aufkauf der elektronischen Reproduktionsrechte am Ansel Adams-Archiv und der Erwerbung des kompletten Bettmann-Archivs zu den größten Anbietern digitalisierter Fotografien im Internet gehört. Dies hat problematische Konsequenzen: Zunächst ist ein gewisser Selektionsprozess im Gange, der sich auf die

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Culture is our Business (Schaber, Ines)

Auswahl der Bilder bezieht, die überhaupt digitalisiert und online verfügbar oder käuflich gemacht werden (denn alle Bilder können in absehbarer Zeit und mit absehbaren Ressourcen ohnehin nicht digitalisiert werden). Da gerade das Bettmann-Archiv einige der bekanntesten Pressefotos enthält, kontrolliert Corbis durch solche Selektionsprozesse die visuelle Geschichte selbst – ein Punkt, mit welchem sich die Arbeit »Culture is our Business« von Ines Schaber dezidiert auseinandersetzt. Und: »Unter der Führung von Gates können Internet-Teilnehmer nun genauso willkürlich durch das Bildarchiv surfen wie viele andere bereits durch Kunstmuseen und dabei glücklich und zufrieden von Rembrandt über die ägyptische Bildhauerei zu japanischen Rüstungen springen, oder von Sonnenuntergängen zu Nobelpreisträgern, wie es ihnen gerade einfällt. Mit der elektronischen Reproduktion braucht niemand mehr Geschichte als lineare Abfolge von Ereignissen aufzufassen.« [76] Batchen unterstreicht hier erneut die schon beschriebene intermediale Heterogenität des digitalen Archivs. In seinem Text »Das Archiv ohne Museen« nimmt Foster auf diese Entwicklung Bezug. Er vertritt die These, dassdie »Informationstechniken […], um ein breites Spektrum von Medien in ein Bild-Text-System zu verwandeln« die Bedingungen für die Entstehung einer »Datenbank digitaler Begriffe, ein[es] Archiv[s] ohne Museen« seien. Dieser Prozess hat laut Foster den akademischen Paradigmenwechsel von der klassischen (am fotografischen Archiv orientierten) Kunstgeschichte zu den Diskursen der visual culture – also jenen neuen ›bildwissenschaftlichen‹ Bemühungen, die die Differenz zwischen ›hoher‹ Kunst und anderen ›niederen‹ Bildtypen einreißen – verursacht. [77] Er stellt in Anschluss an Malraux eine wichtige Frage: »Seit dem Aufkommen der fotografischen Reproduzierbarkeit war das Museum nicht mehr so sehr durch Wände als durch den Stil begrenzt. Was aber sind die Grenzen des Archivs ohne Museen?« [78] Archiv ohne Museen ist Fosters Ausdruck für das entgrenzte digitale ›Anarchiv‹ [79] (im Netz) – was also könnten neue Ordnungsprinzipien sein; oder gibt es schon implizite Ordnungen, die unseren Blicken noch zu sehr entrückt sind? Foster schließt sich Greenbergs Beschwörung der Avantgarde an. Jedoch hat »sich das Schlachtfeld, auf dem sich Alexandria und

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die Avantgarde gegenüberstehen, heute verändert, und dem muß auch eine strategische Ästhetik Rechnung tragen«. [80] Doch was könnte eine solche strategische Ästhetik sein? Dies ist eine Frage, der sich (bestimmte) medienkünstlerische Ansätze in Zukunft werden stellen müssen – und schon stellen: Denn das verbindende Element zwischen vielen der verschiedenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem post-fotografischen Archiv scheint eben dies zu sein – verdrängte, oppositionelle Ordnungen und Logiken in dem scheinbar so dispersen Material zu entdecken oder neue Ordnungen und Logiken zu erfinden, die es erlauben das Heterogene anders zu strukturieren. Dabei geht es nicht um eine nostalgische – und ohnehin unmögliche – Rückkehr zum sicheren Hort des Museums, sondern darum die Diskussion um die Archive der Zukunft in Bewegung zu halten, also um die Arbeit an alternativen Modellen des Archivs. Es geht um die Erfindung von Ordnungen, die sich der kommerziellen oder militärischen Indienstnahme und Zurechtmachung (Nietzsche) des Archivs entziehen.

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