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Themenicon: navigation pathGenerative Toolsicon: navigation pathSoftware Art
Read_me, run_me, execute_me
Code als ausführbarer Text: Softwarekunst und ihr Fokus auf Programmcodes als performative Texte
Inke Arns
 

»Software is mind control. Come and get some.«

[1]

»Generative Kunst« ist in den letzten zwei Jahren zu einem modischen Begriff geworden, der in so unterschiedlichen Kontexten wie akademischen Diskursen, Medienkunstfestivals, Architekturbüros und Designkonferenzen anzutreffen ist. Oft wird dieser Begriff dabei, wenn nicht als Synonym für »Softwarekunst«, so doch in undeutlicher Abgrenzung zu dieser verwendet. Irgendwie haben »generative Kunst« und »Softwarekunst« miteinander zu tun – bloß was sie genau miteinander zu tun haben bleibt meistens im Dunkeln. Ein wenig Licht in das Verhältnis zwischen »generativer Kunst« und »Softwarekunst« zu bringen ist das Ziel dieses Beitrags.

Generative Kunst ≠ Softwarekunst

Philip Galanter (2003) fasst unter dem Begriff »generative Kunst« »künstlerische Praktiken, in denen der Künstler ein System verwendet, zum Beispiel einen Satz von Regeln natürlicher Sprachen, ein Computerprogramm, eine Maschine oder eine andere prozessuale Erfindung, die, in relativ autonome Bewegung versetzt, zur Schaffung eines abgeschlossenen Kunstwerkes beiträgt.« [2]Generative Kunst bezeichnet folglich Prozesse, die nach bestimmten, zuvor festgelegten Regeln oder Instruktionen autonom (vom Künstler-Programmierer) beziehungsweise »selbstorganisierend« ablaufen. Abhängig vom technologischen Kontext, in dem sich der Prozess entfaltet, ist das Ergebnis »unvorhersehbar«, und somit weniger ein Resultat individueller Intention oder Autorschaft als vielmehr das Ergebnis der jeweils herrschenden Produktionsbedingungen. [3] Es handelt sich bei dieser (und anderen) Definition(en) von »generativer Kunst«, wie Philip Galanter selbst schreibt, um eine »inklusive«, umfassende, also sehr breit angelegte Definition, die Galanter zu dem Schluss bringt, dass »generative Kunst so alt ist wie Kunst an sich« [4]. Das in allen Definition(sversuch)en vielleicht wichtigste Merkmal generativer Kunst – in elektronischer Musik und algorithmischer Komposition, Computergrafik und -animation, Demo-Szene und VJ-Kultur und Industrie-Design und Architektur [5] – ist dabei der Einsatz generativer Prozesse zur Negation von Intentionalität. Generative Kunst ist an generativen Prozessen (und auch an Software oder Code) nur insofern interessiert, als sie – verstanden als pragmatisches Tool, das selbst nicht hinterfragt

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WebStalker (I/O/D), 1998insert_coin; Verborgene Mechanismen und Machtstrukturen im freisten Medium von allen (Espenschied/Freude), 2001

wird – der Erzeugung eines »unvorhersehbaren« Ergebnisses dient. Und genau aus diesem Grund eignet sich der Begriff »generative Kunst« nicht zur Beschreibung von »Softwarekunst«. »Softwarekunst« beschreibt dagegen eine künstlerische Aktivität, die im Medium Software eine Reflexion von Software (und ihrer kulturellen Bedeutung) ermöglicht. Sie betrachtet Software dabei nicht als pragmatisches Hilfsmittel, das hinter den durch sie erzeugten Ergebnissen zurücktritt, sondern richtet ihr Hauptaugenmerk auf den Code selbst, auch wenn dieser nicht immer explizit offen gelegt oder in den Vordergrund gestellt wird. Softwarekunst macht die – so formuliert es Florian Cramer – ästhetischen und politischen Subtexte scheinbar neutraler technischer Befehlsabfolgen sichtbar. Sie kann dabei auf den unterschiedlichsten Ebenen von Software angesiedelt sein: auf der des Quellcode, auf der Ebene der abstrakten Algorithmen oder der des von dem jeweiligen Code erzeugten Ergebnisses. [6] Dies zeigt sich in der großen Bandbreite unterschiedlich ausgerichteter Projekte, die von den sogenannten »Codeworks«, die ›nur‹ aus ASCII-Code bestehen (das heißt ›nicht ausführbar‹ sind), über experimentelleWeb-Browser – »Webstalker« (1997) – bis hin zu ausführbaren Programmen reicht. So wie Software in der »generativen Kunst« nur ein Material von vielen ist, so kann »Softwarekunst« umgekehrt Elemente von generativer Kunst beinhalten, muss jedoch nicht zwingend generativ im technischen Sinne sein (Stichwort »Codeworks«). Die beiden Begriffe können daher auf keinen Fall synonymisch verwendet werden. Vielmehr funktionieren die Begriffe in unterschiedlichen Registern, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

Dragan Espenschied/Alvar Freude

Unter dem Motto »Zwei Personen kontrollieren 250 Personen« installierten Dragan Dragan Espenschied und Alvar Freude im Rahmen ihrer Diplomarbeit »insert_coin« [7] 2000/2001 an der Merz-Akademie in Stuttgart unbemerkt einen Web-Proxyserver, der mittels eines Perl- Skripts den gesamten Web-Datenverkehr von Studierenden und Lehrenden im Computer- Netzwerk der Akademie manipulierte. Ziel war es, so Espenschied/Freude, die »Kompetenz und Kritikfähigkeit der Anwender bezüglich des Alltags-

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walser.php (textz.com)

Mediums Internet zu überprüfen« [8]. Der manipulierte Proxy-Server leitete eingegebene URLs auf andere Seiten um, modifizierte HTML-Formatierungscode, veränderte mittels einer simplen Suche-und-Ersetze-Funktion sowohl aktuelle Meldungen auf Nachrichten-Sites (zum Beispiel durch Austausch von Politikernamen) als auch den Inhalt privater Emails, die über Web-Interfaces wie Hotmail, gmx oder Yahoo! abgerufen wurden. Vier Wochen lang lief der solchermaßen manipulierte Web-Zugang unbemerkt von den Studierenden und Lehrenden der Merz-Akademie. Als Espenschied und Freude das Experiment bekannt machten, interessierte sich jedoch so gut wie niemand dafür. Obwohl die beiden eine simpel zu befolgende Anleitung veröffentlichten, mit der jeder selbstständig den Filter ausschalten konnte, nahm sich nur ein verschwindend geringer Teil der Betroffenen Zeit, um eine einfache Einstellung vorzunehmen und so wieder an ungefilterte Daten heranzukommen. [9]

textz.com

Bei »walser.php«, »walser.pl« und »makewalser.php« von textz.com/Projekt Gnutenberg, meinem zweitenBeispiel, handelt es sich um »politische« und »literarische« [10] Software, genauer: um eine anticopyright-aktivistische Software, die als Reaktion auf einen der größten Literaturskandale in Deutschland nach 1945 geschrieben wurde. Die Dateibezeichnung »walser.php« ist dabei nicht nur eine ironische Anspielung auf das vom Suhrkamp Verlag zuerst per E-Mail versandte und dann wieder zurückgerufene »walser.pdf«, sondern es handelt sich hierbei um ein PHP-Skript, dass aus dem 10.000 Zeilen umfassenden Quellcode mit Hilfe des entsprechenden PHP Interpreter eine ASCII-Textversion von Walsers «Tod eines Kritikers» generieren kann. [11] Während der in der Programmiersprache PHP geschriebene Quellcode selbst den Roman nicht in sicht- beziehungsweise lesbarer Form enthält und somit als freie Software unter der GNU General Public License frei distribuiert und modifiziert werden kann, darf er jedoch nur mit schriftlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages ausgeführt werden. [12] Während das Experiment von Espenschied/Freude zu Filterung und Zensur von Internet-Inhalten auf die relativ unbegrenzten Kontrollmöglichkeiten in beziehungsweise durch

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Software verweist, bietet »walser.php« eine praktikable Lösung zur Handhabung vor allem kommerzieller Restriktionen an, die die Informationsfreiheit im Internet durch Digitale Rechtekontrollsysteme (DRM) begrenzen wollen. Während »insert_coin« ein dystopisches Szenario in Form von manipulierter Software temporär in die Tat umsetzt, entwickelt textz.com mit »walser.php« genuin utopische »Gegenmaßnahmen in Form von Software« [13]. Diese beiden Projekte sind generativ im besten Sinne des Wortes. Und doch entsprechen weder »insert_coin« noch »walser.php« wirklich den Definitionen von »generative art«, die sich gegenwärtig vor allem im Design-Bereich finden. Der eingangs bereits zitierte Philip Galanter, der sicherlich zu den derzeit profiliertesten Theoretikern »generativer Kunst« gehört, definiert diese nämlich als einen Prozess, der zur Schaffung eines abgeschlossenen Kunstwerkes beiträgt. Auch Celestino Soddu, Direktor des Generative Design Lab an der Polytechnischen Universität Mailand und Organisator der »Generative Art«-Konferenzen, beschreibt seinerseits »generative Kunst« als einprozessuales Werkzeug, das dem Künstler oder Designer erlaubt, »eine sich permanent verändernde und unvorhersagbare Serie von Ereignissen, Bildern, industriellen Objekten, Architekturen, Musikwerken, Umgebungen und Kommunikationen« [14] zu synthetisieren. Der Künstler könne damit »unerwartete Variationen in die Entwicklung eines Projektes« hervorbringen und so eine »zunehmende Komplexität zeitgenössischer Objekte, Räume und Bedeutungen« [15] bewältigen. Auch auf der Website »Codemuse« wird »generative Kunst« als Prozess definiert, mit dessen Parametern man herumexperimentieren müsse, »bis die endgültigen Resultate ästhetisch gefallen und/oder irgendwie überraschend sind […]«. [16] »Generative Kunst« beziehungsweise »generative Gestaltung« interessiert sich vor allem – wie in diesen Zitaten deutlich wird – für die Resultate, die von generativen Prozessen erzeugt werden. Software wird dabei als pragmatisch-generatives Werkzeug beziehungsweise Hilfsmittel zur Erzeugung eines (gestalterischen) Ergebnisses eingesetzt, ohne dabei jedoch selbst hinterfragt zu werden. Die von Software

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n_Gen Design Machine (Move Design)Net Art Generator (Sollfrank, Cornelia), 1999

gesteuerten generativen Prozesse dienen hier primär der Vermeidung von Intentionalität und der Produktion unerwarteter, arbiträrer und unerschöpflicher Formenvielfalt. Sowohl die »n_Gen Design Machine« von Move Design, die zum Read_Me Festival 2003 in Helsinki eingereicht wurde, als auch Cornelia Sollfranks »net.art Generator« [17] , der seit 1999 auf Knopfdruck Netzkunst generiert, verstehen sich dabei als ironische Kommentare zu solcherart (miss-)verstandenem »generativem Design«. [18] »insert_coin« und »walser.php« gehen über eine solche Definition von »generativer Kunst« oder »Gestaltung« insofern hinaus, als sie sich im Vergleich zur stärker ergebnisorientierten generativen Gestaltung (und übrigens auch im Vergleich zu vielen interaktiven Installationen der 1990er Jahre, die die Software in ›black boxes‹ versteckten) eher für die codierten Prozesse interessieren, die bestimmte Resultate beziehungsweise Oberflächen generieren. Ihr Ziel ist nicht Gestaltung und Design, sondern die Befragung von Software und Code als Kultur – und von Kultur als implementiert in Software. Dazu entwickeln sie »experimentelle Software«, die sich als eigenständiges Werk beziehungsweise Prozess – und nicht nur als Hilfsmittel zur Generierung arbiträrer Oberflächen – mitder technologischen, kulturellen oder sozialen Bedeutung von Software auseinandersetzt. Darüber hinaus geht es den VerfasserInnen von »experimenteller Software« sehr wohl um künstlerische Subjektivität, wie die Verwendung verschiedener Privatsprachen zeigt, und weniger um den Nachweis einer wie auch immer gearteten maschinellen Kreativität: »Code can be diaries, poetic, obscure, ironic or disruptive, defunct or impossible, it can simulate and disguise, it has rhetoric and style, it can be an attitude« [19] , so die emphatische Definition von Florian Cramer und Ulrike Gabriel, beide Mitglieder der »transmediale«-Jury 2001.

Softwarekunst

Der Begriff »Softwarekunst« wurde 2001 erstmalig von dem Berliner Medienkunstfestival »transmediale« definiert [20] und als Wettbewerbskategorie eingeführt. [21] Softwarekunst, die von anderen AutorInnen auch als »experimentelle« [22] oder »spekulative Software« [23] sowie als »nicht-pragmatische« und »nicht-rationale« [24] Software bezeichnet wird, umfasst nach der von der »transmediale«-Jury formulierten Definition Projekte,

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deren wesentliches künstlerisches Material Programmcode ist, oder die sich mit dem kulturellen Verständnis von Software auseinandersetzen. Software-Code wird hier nicht als pragmatisch-funktionales Werkzeug zur Bedienung der ›eigentlichen‹ künstlerischen Arbeit verstanden, sondern als generatives Gestaltungsmaterial maschineller und sozialer Prozesse. Softwarekunst kann dabei das Resultat einer autonomen und formalen kreativen Praxis sein, sie kann sich aber auch kritisch und collagierend auf existierende Software und die technologische, kulturelle oder soziale Bedeutung von Software beziehen. [25] Der Unterschied zwischen Softwarekunst und generativer Gestaltung erinnert dabei interessanterweise an die Differenz zwischen Softwarekunst ab Ende der 1990er Jahre und der frühen Computerkunst der 1960er Jahre. Arbeiten aus dem Bereich der Softwarekunst »sind [dabei] keine Kunst, die mit dem Computer geschaffen wurde,« so fasst Tilman Baumgärtel in seinem Artikel »Experimentelle Software« den Unterschied zusammen, »sondern Kunst, die im Computer stattfindet; keine Software, die von Künstlern programmiert wurde,um autonome Kunstwerke hervor[zu]bringen, sondern Software, die selbst das Kunstwerk ist. Bei diesen Programmen ist nicht das Resultat entscheidend, sondern der Prozess, den sie im Rechner (und auf dessen Monitor) auslösen.« [26] Zwar steht die Computerkunst der 1960er Jahre mit ihrer Favorisierung der Idee vor der Realisation der Konzeptkunst nahe. Dennoch denkt sie diesen Prozess nicht konsequent zu Ende: Mit ihren auf Plottern und Nadeldruckern auf Papier ausgegebenen Arbeiten betonte sie das finale Produkt, aber nicht das Programm beziehungsweise den Prozess, der dieses Werk hervorgebracht hatte. [27] In der aktuellen Softwarekunst kehrt sich dieses Verhältnis jedoch um: Hier geht es »ausschließlich um den Prozess, der durch den Einsatz dieser Programme ausgelöst wird. Während die Computerkunst der 1960er und 70er Jahre die Vorgänge im Computer nur als Methode, nicht als eigenes Werk betrachtete, den Rechner als eine Art ›Black Box‹ behandelte, und die Vorgänge in seinem Inneren verschleierte, wollen die Software-Projekte der Gegenwart genau diese Vorgänge thematisieren, sie transparent machen und zur Diskussion stellen.« [28] Für eine (durchaus

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walser.php (textz.com)

polemische) Gegenüberstellung von generativer Gestaltung und Softwarekunst siehe das zusammenfassende Schema:

Performativität des Code vs. Faszination des Generativen

Oder: »Code has to do something even to do nothing, and it has to describe something even to describe nothing.«

[29] Das gegenwärtige Interesse an Software ist dabei, so meine These, nicht nur auf eine Faszination mit dem generativen Aspekt von Software zurückzuführen, also auf die Fähigkeit des Erzeugens und Hervorbringens im rein technischen Sinne. Von Interesse für die AutorInnen dieser Projekte ist vielmehr etwas, das ich die Performativität des Code nennen möchte – also seine Wirkmächtigkeit im Sinne der Sprechakttheorie, die nicht nur als eine rein technische zu verstehen ist, d.h. nicht nur im Kontext eines abgeschlossenen technischen Systems stattfindet, sondern ebenso Auswirkungen auf den Bereich des Ästhetischen, des Politischen und des Gesellschaftlichen hat. Softwarekunst interessiert sich im Gegensatz zu generativer Kunst eher für die ›Performanz‹ als die ›Kompetenz‹, eher für die »parole« als die »langue« [30]– in unserem Zusammenhang sind damit die jeweiligen Aktualisierungen beziehungsweise konkreten Realisierungen und Auswirkungen im Kontext zum Beispiel gesellschaftlicher Systeme gemeint und nicht ›nur‹ innerhalb abstrakt-technischer Regelsysteme. In beiden oben genannten Beispielen ist das Generative zutiefst politisch – aber eben genau weil die versteckte Veränderung bestehender Texte (im Fall von »insert_coin«) beziehungsweise die Extrahierung eines urheberrechtlich geschützten Textes aus einem Perl-Skript (im Fall von »walser.php«) nicht im Kontext technisch-funktionaler Systeme, sondern im Kontext der zunehmend auf diese technischen Grundlagen angewiesenen gesellschaftlichen Systeme brisant sind. Zunächst ist da jedoch, wie auch Friedrich Kittler bestätigt, die Faszination mit der generativen Potenz des Code: »Codes [heißen] einzig Alphabete im Wortsinn der modernen Mathematik […], eindeutige und abzählbare, ja, möglichst kurze Folgen von Symbolen also, die dank einer Grammatik mit der unerhörten Fähigkeit begabt sind, sich gleichwohl selbst unendlich zu vermehren: Semi-Thue-Gruppen, Markowketten, Backus-Naur-Formen usw. Das und nur das unterscheidet solche modernen Alphabete vom

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vertrauten, das unsere Sprachen ja zwar auseinanderlegte und Homers Gesänge schenkte, aber keine Technikwelt zum Laufen bringt wie heutzutage Computercode.« [31] Auch Florian Cramer, Ulrike Gabriel und John F. Simon Jr. interessieren sich insbesondere für die Algorithmen – »de[n] eigentliche[n] Code, der erzeugt, was man sehen, hören und spüren wird« [32]. Für sie ist der »vielleicht faszinierendste Aspekt der Computertechnik«, dass Code – ob als Textfile oder Binärzahl – maschinell ausführbar wird: »Ein harmloses Stück Text kann das System stören, verändern oder gar abstürzen lassen.« [33] Programmcode als »codierte Performativität« [34] hat zudem unmittelbare, auch politische Konsequenzen auf die virtuellen Räume, in denen wir uns zunehmend bewegen: Hier ist der Code Gesetz, »Code is Law« [35].

Programmiercodes als performative Texte

Letztendlich ist der Computer nicht das Bildmedium, als das er gerne beschrieben wird, sondern essentiell ein Schriftmedium, an das alle möglichen audiovisuellen Ausgabemedien anschließbar sind. [36] Multimediale, dynamische Oberflächen werden von ihnen zugrundeliegenden (Programmier-)Texten generiert. Es reicht daher nicht aus,hinsichtlich der »Oberflächeneffekte der Software« – also der dynamischen Datenpräsentationen durch Inszenierung von Information und Animation – von einem »›performative turn‹ graphischer Benutzerschnittstellen« [37] zu sprechen, denn diese Sichtweise bleibt zu sehr einer unterstellten Performativität eben jener Oberflächen verhaftet. Vielmehr sollte man bei der Betrachtung von Software- und Netzkunstprojekten (wie auch von Software allgemein) von mindestens zwei Texten ausgehen: einem Phäno- und einem Genotext. Die Oberflächeneffekte des Phänotextes, zum Beispiel sich bewegende Texte, werden durch andere, unter den Oberflächen liegende effektive Texte, den Programmcodes oder Quelltexten, hervorgerufen und gesteuert. Programmcode zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm Sagen und Tun zusammenfallen, Code als handlungsmächtiger »illokutionärer« Sprechakt (s.u.) also keine Beschreibung oder Repräsentation von etwas ist, sondern direkt affiziert, in Bewegung setzt, Effekte zeitigt. [38] Friedrich Kittler verweist in diesem Zusammenhang auf den doppeldeutigen Begriff der »Kommandozeile«, ein Zwitterwesen, das heute in den

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meisten Betriebssystemen durch grafische Benutzeroberflächen fast vollkommen verdrängt worden ist. Noch vor 20 Jahren waren jedoch alle Benutzerschnittstellen und Editoren kommandozeilenorientiert, beziehungsweise man konnte zwischen verschiedenen Modi hin- und herwechseln. Während im Textmodus die Return-Taste zu einem Zeilenwechsel führt, verwandeln sich eingegebene Texte plus Return-Taste im Kommandozeilenmodus in potentielle Befehle: »Im Computer […] fallen, sehr anders als in Goethes ›Faust‹, Wort und Tat zusammen. Der säuberliche Unterschied, den die Sprechakttheorie zwischen Erwähnung und Gebrauch, zwischen Wörtern mit und ohne Anführungszeichen gemacht hat, ist keiner mehr. kill im Kontext literarischer Texte sagt nur, was das Wort besagt, kill im Kontext der Kommandozeile dagegen tut, was das Wort besagt, laufenden Programmen oder gar dem System selbst an.« [39]

»How To Do Things With Words«

In einer Reihe von Vorlesungen, die John Langshaw Austin (1911–1960) 1955 an der Harvard University unter dem Titel »How To Do Things With Words« [40] hielt, führte er den bahnbrechendenGedanken aus, dass sprachliche Äußerungen keineswegs nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, sondern dass mit ihnen stets Handlungen vollzogen werden. »Was Sprecher von Sprachen intuitiv immer schon gewußt und praktiziert haben,« so schreibt Erika Fischer-Lichte, »wurde hier von der Sprachphilosophie zum ersten Mal formuliert: dass Sprache nicht nur eine referentielle Funktion erfüllt, sondern immer auch eine performative.« [41] Austins Sprechakttheorie begreift Sprechen also grundsätzlich als Handeln und beobachtet dabei ein Sprechen, das nicht erst durch seine Wirkung effektiv ist, sondern bereits durch sich selbst. Genau hier trifft sich die Sprechakttheorie mit der unterstellten Performativität des Code: »[W]enn ein Wort nicht nur etwas benennt, sondern etwas performativ herbeiführt und zwar genau das, was es benennt« [42]. Austin unterscheidet in allen Sprechakten drei verschiedene linguistische Akte. Den »lokutionären Akt« bestimmt er als den propositionalen Gehalt, der wahr oder falsch sein kann. Er soll uns in diesem Zusammenhang nicht weiter interessieren. »Illokutionäre Akte« sind Handlungen, die kraft der

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Worte ausgeführt werden. Sie sind dadurch bestimmt, dass jemand, indem er etwas sagt, gleichzeitig etwas tut (die Aussage des Richters »Ich verurteile Sie« ist keine Absichtserklärung, sondern ein Tun). Bezeichnung und Ausführung fallen zusammen: Indem die Bezeichnung »geäußert wird, führt sie selbst eine Tat aus« [43]. Illokutionäre Sprechakte rufen also Effekte hervor und können gelingen bzw. misslingen, je nachdem ob bestimmte extralinguistische Konventionen erfüllt sind. »Perlokutionäre Akte« sind dagegen solche Äußerungen, die eine Kette von Folgen auslösen. Das Sagen und die hervorgerufenen Wirkungen fallen zeitlich nicht zusammen. Wie Judith Butler bemerkt, sind die »Folgen nicht dasselbe wie der Sprechakt, sondern eher die Ergebnisse oder das ›Nachspiel‹ der Äußerung.« [44] Sie bringt diesen Unterschied auf folgende prägnante Formel: »Während illokutionäre Akte sich mittels Konventionen vollziehen, vollziehen sich perlokutionäre Akte mittels Konsequenzen. Diese Unterscheidung beinhaltet also, dass illokutionäre Sprechakte ohne zeitlichen Aufschub Effekte hervorrufen, dass hier das ›Sagen‹ dasselbe ist wie das ›Tun‹ und dass beide gleichzeitig erfolgen.« [45] Insofern, als hier ›Sagen‹ und ›Tun‹ zusammenfallen, ließen sich also Programmiercodes als illokutionäre Sprechaktebezeichnen. Sprechakte können nach Austin auch Handlungen sein, ohne jedoch unbedingt effektiv sein zu müssen (das heißt ›glücken‹ zu müssen). Scheitern oder missglücken diese Handlungen, stellen sie verfehlte performative Äußerungen dar. Ein Sprechakt ist, auch wenn er sprachliches Handeln ist, also nicht immer ein effektiver Akt. »Eine geglückte performative Äußerung ist [jedoch] dadurch definiert,« so Judith Butler, »dass ich die Handlung nicht nur ausführe, sondern damit eine bestimmte Kette von Effekten auslöse.« [46] Programmiercodes machen, ganz pragmatisch betrachtet, nur als geglückte performative Äußerungen Sinn; lösen sie keine Effekte aus (egal, ob diese erwünscht oder unerwünscht sind), sind sie nicht ausführbar, sind sie schlicht und ergreifend überflüssig. Code macht im Kontext von funktional-pragmatischer Software nur als ausführbarer Code Sinn. [47]

Code als Mobilisierungs- und/oder Immobilisierungssystem

Code wirkt sich jedoch nicht nur auf die Phänotexte, also die grafischen Benutzeroberflächen aus. »Codierte Performativität« [48]

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hat genauso unmittelbare, auch politische Auswirkungen auf die virtuellen Räume (u.a. des Internet), in denen wir uns zunehmend bewegen: »Programmcode«, so der amerikanische Jurist Lawrence Lessig, »tendiert immer mehr dazu, zum Gesetz zu werden.« [49] Heute werden Kontrollfunktionen direkt in die Architektur des Netzes, also seinen Code, eingebaut. Diese These stellt Lessig in Code and other Laws of Cyberspace (1999) auf. Am Beispiel des Online-Dienstes AOL macht Lessig eindringlich klar, wie die AOL-Architektur mit Hilfe des sie bestimmenden Codes zum Beispiel jegliche Form von virtueller ›Zusammenrottung‹ verhindert und eine weitgehende Kontrolle der Nutzer erlaubt. Unterschiedliche Codes erlauben unterschiedliche Grade von Bewegung(sfreiheit): »Die Entscheidung für einen bestimmten Code ist,« so Lessig, »auch eine Entscheidung über die Innovationen, die der Code zu fördern oder zu hemmen imstande ist.« [50] Insofern mobilisiert beziehungsweise immobilisiert der Code seine Benutzer. Dieser wirkmächtige Code bleibt jedoch unsichtbar – Graham Harwood bezeichnet diese ›unsichtbare Welt‹ daher auch als »invisible shadowworld of process« [51]. In diesem Sinne könnte man von der Gegenwart als von einem »postoptischen« Zeitalter sprechen, in dem der Programmcode – den man in Anlehnung an Walter Benjamin auch als »Postoptisch-Unbewusstes« bezeichnen könnte – zum »Gesetz« wird. Den Begriff des »Postoptischen« habe ich in Auseinandersetzung mit dem Konzept der Ausstellung »Ctrl_Space« entwickelt, die 2000–2001 am ZKM in Karlsruhe gezeigt wurde. Diese Ausstellung, die sich ganz dem Benthamschen panoptisch-visuellen Paradigma widmete, stellte die problematische (und hier polemisch formulierte) These auf, dass Überwachung heutzutage nur stattfinden würde, wenn eine Kamera anwesend sei – angesichts der schon heute praktizierten unterschiedlichen Formen von »Dataveillance« eine überholte Definition. Der Begriff des »Postoptischen« bezeichnet dagegen all die digitalen Datenströme und (programmierten) Kommunikationsstrukturen und -architekturen, die mindestens ebenso gut zu überwachen sind, aber nur zu einem kleinen Teil aus visuellen Informationen bestehen. [52] Walter Benjamin definierte das »Optisch-Unbewusste« in seiner »Kleinen Geschichte der

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makrolab (Peljhan, Marko), 1997Tracenoizer (LAN)

Photographie« als eine unbewusste visuelle Dimension der materiellen Welt, die normalerweise vom gesellschaftlichen Bewusstsein des Menschen herausgefiltert wird und somit unsichtbar bleibt, die aber durch den Einsatz mechanischer Aufnahmetechniken (Fotografie und Film: Zeitlupen, Vergrößerungen) sichtbar gemacht werden kann: »Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, dass einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ›Ausschreitens‹. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.« [53] Analog zu Benjamins Definition des Optisch-Unbewussten könnte man heute vielleicht im Computer von der Existenz eines normalerweise durch die grafischen Oberflächen verdeckten»Postoptisch-Unbewussten« sprechen, das es mittels einer geeigneten Apparatur sichtbar zu machen gilt. [54] Dieses »Postoptisch-Unbewusste« wäre als der den Oberflächen zugrundeliegende Programmiercode zu verstehen, der als codierte Performativität, als algorithmischer Genotext und Tiefenstruktur eben jene für uns sichtbaren Oberflächen generiert, dabei aber für das menschliche Auge selbst meist unsichtbar bleibt.

Fokus auf eine unsichtbare Performativität

Viele künstlerische und netzaktivistische Projekte, die sich seit Ende der 1990er Jahre mit der Politik elektronischer Datenräume (wie zum Beispiel des Internet) auseinandersetzen, setzen daher direkt auf dem Code auf und zielen darauf ab, diese technischen Strukturen der Transparenz zu entreißen. KünstlerInnen und NetzaktivistInnen machen mit teils spektakulären Projekten auf die Existenz einer umkämpften Datensphäre im Internet aufmerksam (»Toywar«-Plattform), bauen private ECHELON-Systeme (»makrolab« von Projekt Atol/Marko Peljhan), entwickeln Werkzeuge zur Verwischung der eigenen Spuren im Internet (»Tracenoizer« von LAN)

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Minds of Concern: Breaking News (Knowbotic Research), 2002

und thematisieren die zunehmende Einschränkung des öffentlichen Raumes durch Privatisierung von Telekommunikationsinfrastrukturen (»Minds of Concern: Breaking News« [55] von Knowbotic Research). [56] Während »Transparenz« im alltäglichen Verständnis eigentlich für Übersichtlichkeit, Klarheit und für Kontrollierbarkeit durch Einsehbarkeit steht, bedeutet der Begriff in der Informatik das genaue Gegenteil, nämlich Durchsichtigkeit, Unsichtbarkeit und Information Hiding. Ist ein System (zum Beispiel eine Oberfläche oder ein Graphical User Interface) »transparent«, so bedeutet das, dass es für den Benutzer nicht erkenn- oder wahrnehmbar ist. Während dieses Information Hiding im Sinne einer Komplexitätsreduktion in vielen Fällen sinnvoll ist, kann es den Benutzer jedoch zugleich in einer falschen Sicherheit wiegen, denn es suggeriert durch seine Unsichtbarkeit eine direkte Sicht auf etwas, eine durch nichts gestörte Transparenz, an die zu glauben natürlich Unsinn wäre: »Far from being a transparent window into the data inside a computer, the interface brings with it strong messages of its own.« [57] Um diese »message« sichtbar zu machen, gilt es, die Aufmerksamkeit auf die »Fensterscheibe« selbst zulenken. So wie sich durchsichtige Glasfronten von Gebäuden auf Knopfdruck in milchige, halbtransparente Flächen verwandeln und damit sichtbar gemacht werden können, [58] so gilt es auch informationstechnische, postoptische Strukturen der Transparenz zu entreißen. In den Kommunikationsnetzen ginge es analog dazu darum, die Strukturen ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher Machtverteilungen opak werden zu lassen und so wahrnehmbar zu machen. Letztendlich geht es um die Rückführung des informatisch definierten Begriffs der Transparenz (= Durchsichtigkeit des Interface, Information Hiding) in seine ursprüngliche Bedeutung von Übersichtlichkeit, Klarheit und Kontrollierbarkeit durch Einsehbarkeit. [59]

Codeworks: »M @ z k ! n 3 n . k u n z t . m2cht . fr3!«

Arbeiten aus dem Bereich der Softwarekunst richten ihre Aufmerksamkeit daher auf den Code selbst, auch wenn dieser nicht immer explizit offen gelegt oder in den Vordergrund gestellt wird. Softwarekunst macht auf die ästhetischen und politischen Subtexte scheinbar neutraler technischer Befehlsabfolgen

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aufmerksam. Das sicherlich »radikalste Verständnis von Computercode als künstlerischem Material« [60] zeigt sich dabei in den sogenannten »Codeworks« [61] und ihrer künstlerisch(-literarischen) Auseinandersetzung mit Programmiercode. Diese Codeworks benutzen formalen ASCII-Instruktionscode beziehungsweise dessen Ästhetik, ohne jedoch auf die von ihm geschaffenen Oberflächen und multimedialen graphischen Benutzerinterfaces zu rekurrieren. Die Arbeiten von Jodi, Netochka Nezvanova und mez, [62] die in diesem Kontext vorgestellt werden, rufen so die Existenz eines normalerweise durch die grafischen Oberflächen verdeckten, unsichtbaren »Postoptisch-Unbewussten« ins Gedächtnis. Die australische Netzkünstlerin mez [63] (Mary-Anne Breeze) und die anonyme Netzentität Netochka Nezvanova (auch bekannt unter den Pseudonymen nn, antiorp und Integer) produzieren seit einiger Zeit neben hypertextuellen Arbeiten und Software zur Echtzeit-Manipulation von Videobildern einfache Textarbeiten, die sie meist in Form von Emails an Mailinglisten wie Nettime, Spectre, Rhizome, 7-11 oder Syndicate versenden. Sieht man von Attachments und vom zunehmenden Einsatz von html-Text ab,erlaubt das Textmedium E-mail nur die Verwendung von reinem ASCII-Text und ist (technologisch) dementsprechend begrenzt. mez und antiorp haben jedoch jeweils eigene Sprachen und Schreibstile entwickelt: mez bezeichnet ihren Stil als »M[ez]ang.elle«, während Netochka Nezvanova (Integer) ihn »Kroperom« oder »KROP3ROM|A9FF« nennt. Bei beiden handelt es sich um künstlerische Appropriationen von Programmiercode. Der Programmiersprachen- Unkundige kann in dieser zeitgenössischen Mailart, die den Anschein erweckt, als ob eine Datei von einer Software fehlerhaft und unleserlich formatiert oder dekodiert worden wäre, nicht viel mehr als unverständlicher Datenmüll erkennen. Denjenigen, die sich auf dem Gebiet von Quellcodes und Programmiersprachen als halb-literat erweisen, wird dagegen durchaus klar, dass hier Computercodes und Programmiersprachen verwendet und appropriiert werden. Ambivalent bleibt jedoch der Status dieser Sprachen beziehungsweise Sprachfetzen: Er oszilliert in der Wahrnehmung des Rezipienten zwischen unterstellter Ausführbarkeit, also Funktionalität, und Nicht-Ausführbarkeit – Dysfunktionalität – des Code,

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kurz: zwischen signifikanter Information und asignifikantem Rauschen. Abhängig vom Kontext werden sinnlose Zeichenfolgen plötzlich zu interpretier- und ausführbaren Befehlen oder, vice versa, performative Programmiercodes zu redundantem Datenmüll.

mez

mez’ selbsterfundene Kunstsprache »M[ez]ang.elle« ist »an Computer-Programmiersprachen geschult […], ohne aber in strikter Befehlssyntax geschrieben zu sein.« [64] In ihr vermischen sich ASCII Art und Pseudo-Programmcode. »Wie die portmanteau words von Lewis Carroll und James Joyce«, so schreibt Florian Cramer, »verschachteln sich die Wörter der mezangelle doppel- und mehrdeutig ineinander. Die rechteckigen Klammern sind Programmiersprachen und gängigen Notationen der Booleschen Algebra entlehnt, in denen sie mehrere Zeichen gleichzeitig referenzieren, also Vieldeutigkeit beschreiben.« [65] mez lässt in ihrer Sprache die einzelnen Worte physisch zu Kreuzungspunkten unterschiedlicher Bedeutungen werden – wir haben es hier sozusagen mit einer materiell in den linearen Text implementierten Vielstimmigkeit oder Polysemie zu tun, oder, um mit Lacan zu sprechen, mit einer realisierten »Vertikale«eines Punktes, [66] also einer gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener Potentialitäten in ein und demselben Wort: »mez introduces the hypertext principle of multiplicity into the word itself. Rather than produce alternative trajectories through the text on the hypertext principle of ›choice‹, here they co-exist within the same textual space.« [67] mez’ Texte treten in ein unendliches Schillern von Bedeutungen ein, die prinzipiell nicht festlegbar sind. Diese Polysemie ist, und darauf weist Florian Cramer hin, wie in vielen Texten von mez, auch eine der Geschlechter: »›fe[male]tus‹ liest sich simultan als ›Fötus‹, ›weiblich‹ und ›männlich‹. Andere Wörter greifen die Syntax von Dateinamen und Verzeichnisbäumen sowie die Zitierkonventionen von E-Mail und Chats auf.« [68]

Netochka Nezvanova

»M @ z k ! n 3 n . k u n z t . m2cht . fr3!« bedeutet – einige werden es vielleicht entziffert haben – »Maschinenkunst macht frei« und ist der Signatur der Netzentität Netochka Nezvanova a.k.a. Integer entnommen. Integer ist seit 1998 dadurch bekannt geworden, dass sie Mailinglisten mit E-mails bombardiert, die auf den ersten Blick unlesbaren Datenmüll zu enthalten scheinen, also bewusst eine Art

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walkmonster_start () (Jodi), 2001

von Rauschen in die menschliche (Tele- )Kommunikation einführt. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch auch hier, dass es sich um eine Mischung aus menschlicher und Maschinensprache handelt. »Kroperom« nennt Integer seine Sprache. Die Besonderheit dieser Sprache besteht darin, dass in ihr das phonetische System des lateinischen Alphabets durch die 256 Zeichen des American Code for Information Interchange (ASCII) ersetzt wird, der lingua franca der Computerkultur. Zum Beispiel ist in dem Kroperom-Wort »m9nd« der phonetische Wert »ine« durch »nine« ersetzt worden. Es gibt in diesem Ersetzungssystem jedoch nicht nur phonetische Substitutionen. In »m@zk!n3n kunzt« ersetzt das »@« das »a«, das »zk« den Laut »sch«, das Ausrufungszeichen das »i« und die Zahl »3« das »e«. Ersetzungen finden also auch aufgrund visueller Ähnlichkeiten statt (»!« für ein »i«) oder aufgrund visueller und phonetischer Analogien (»3«/three für »e«). Die menschliche Sprache – in diesem Fall eine Mischung aus Deutsch und Englisch – wird von Ziffern und Computercode-Metaphern durchsetzt und infiltriert. Außerdem bekommt der Kroperom-Textdurch die massive Verwendung von Ausrufungszeichen (die einfach daher rührt, dass der Buchstabe »i« im Deutschen so oft auftaucht) eine emphatische Qualität und verwandelt die ausführbaren Computerbefehle in oppressive, manchmal auch komische, menschliche Befehle und Aufforderungen: »Tu dies! Tu das!« Der Leser muss verschiedene Strategien einsetzen, um das aus alphabetischen Buchstaben, Zahlen und ASCII-Zeichen bestehende Skript zu entziffern. Dies erschwert und destabilisiert den Leseprozess und löst unterschiedliche Assoziationen aus. Josephine Berry schreibt dazu: »The act of reading becomes a pointedly self-reflexive and, in terms of chaos theory, nonlinear experience with each word representing a junction of multiple systems.« [69] Es bleibt offen, ob der Kroperom- Text, der sehr stark einem ausführbaren Programmcode ähnelt, an einem anderen Ort im Computer tatsächlich kompilierbar, und in der Folge maschinenlesbar, lauffähig, und somit ausführbar wäre.

Performativität und Totalität des Genotextes

Ob es sich um ausführbaren Code handelt, bleibt auch in Jodis »walkmonster_start ()«-Email fraglich. Es ist vielleicht eher das Wissen um die potentielle

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insert_coin; Verborgene Mechanismen und Machtstrukturen im freisten Medium von allen (Espenschied/Freude), 2001walser.php (textz.com)

Ausführbarkeit und Performativität des Code, die hier eine Rolle spielt, nicht so sehr die aktuelle technische Ausführung selbst. Dagegen behaupten jedoch Geoff Cox, Alex McLean und Adrian Ward: »the aesthetic value of code lies in its execution, not simply in its written form«. [70] Während dieser Aussage für die Projekte »insert_coin« und »walser.php« zuzustimmen ist – denn gerade in ihrer technischen Ausführung liegt ihre Brisanz (und vielleicht sogar ihre Poesie) – ist diese Definition im Hinblick auf die Struktur der »Codeworks« zu relativieren. Die Poesie der »Codeworks« liegt in der Tat nicht nur in ihrer textuellen Form, sondern in dem Wissen um ihre potentielle Ausführbarkeit. Das führt uns zu der Frage, ob formaler Programmcode außer der Maschine, die er adressiert, überhaupt ein Publikum haben kann. Kann formaler Code ohne die Maschine, die ihn umsetzt und ausführt, performativ sein? Ich stimme diesbezüglich mit Florian Cramer überein, der bestreitet, dass »Maschinensprache nur von Maschinen lesbar« ist: »It is important to keep in mind that computer code, and computer programs, are not machine creations and machines talking to themselves, but written by humans.« [71] Es ist eine trivialeFeststellung, dass von Menschen verfasster Computercode insofern auch von anderen Menschen gelesen beziehungsweise »rückübersetzt« werden kann. Die haben bei Eintreffen der E-Mail von Jodi das gesamte Kriegsszenario von »walkmonster_start ()« durchspielen können, ohne es zuvor kompiliert zu haben. Der Aspekt des Generativen ist im Hinblick auf die Codeworks daher insofern zu erweitern, als Code nicht nur in technischen Umgebungen ausführbar ist, sondern in einem erweiterten Sinn auch im Leser und in der Leserin produktiv werden kann. Analog der häretischen Technik der Glossolalie oder der surrealistischen »écriture automatique«, beides Techniken, die durch Ausschaltung des Bewusstseins (Trance, Schlafzustände) wahlweise einer göttlichen Instanz oder dem Unbewussten das Wort erteilen wollten, wird in »M[ez]ang.elle« und »Kroperom« die menschliche Sprache von maschinensprachlichen Steuercodes und Algorithmen durchsetzt. Im Gegensatz zur surrealistischen These, dass die Befreiung des Unbewussten zu einer gesellschaftlichen Revolution führen würde, erscheint das Hervorbringen einer hybriden Zwitter-Sprache, die halb menschlich, halb

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maschinell ist, manchmal lustvoll, teils fast zwanghaft zu sein. Wenn wir es hier schon nicht mit den Zeichen einer Machtergreifung zu tun haben, so verweist das konvulsivische Sichtbarwerden des »Postoptisch-Unbewussten« einmal mehr darauf, dass wir auch hier nicht selber sprechen, sondern im Lacanschen Sinne gesprochen werden. [72] Die Privilegierung des Programmcodes gegenüber den Oberflächen, des Genotextes gegenüber dem Phänotext, der Poiesis gegenüber der Aisthesis führt in den ASCII-Arbeiten und Codeworks von mez, Jodi und Netochka Nezvanova zu einer Befreiung insofern, als diese Fokussierung auf das »Postoptisch-Unbewusste« eine Ent-Täuschung ermöglicht. Eine Ent-Täuschung darüber, bzw. Verabschiedung des Glaubens zum Beispiel daran, dass auch heutzutage nur dann, wenn eine Kamera anwesend ist, Überwachung stattfindet. Die Codeworks lenken unsere Aufmerksamkeit auf die zunehmende Codiertheit und Programmiertheit unserer medialen Umgebung. Sie bedienen sich des »armen« Mediums Text, der aber gleichzeitig im Kontext der Kommandozeile performativ beziehungsweise ausführbar (executable) erscheint. Indem sie genau mit dieserAmbivalenz von Simplizität und Totalität der Ausführung arbeiten, verweisen sie auf die potentiell totalitäre Dimension des algorithmischen Genotextes.

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