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Themenicon: navigation pathKunst und Kinematografieicon: navigation pathMulvey/Wollen
»Riddles of the Sphinx«
Die Arbeit von Laura Mulvey und Peter Wollen zwischen Counter-Strategie und Dekonstruktion
Winfried Pauleit
Riddles of the Sphinx (Mulvey/Wollen), 1977

»The first blow against the monolithic accumulation of traditional film conventions (already undertaken by radical filmmakers) is to free the look of the camera into its materiality in time and space and the look of the audience into dialectics, passionate detachment.« (Laura Mulvey) [1] »But cinema, because it is a multiple system, could develop and elaborate the semiotic shifts that marked the origins of the avant-garde in a uniquely complex way, a dialectical montage within and between a complex of codes. At least, writing now as a film-maker, that is the fantasy I like to entertain.« (Peter Wollen) [2]

1. Eine Re-Lektüre Freuds

Der Titel des Films, »Riddles of the Sphinx«, kündigt das Konzept von Laura Mulvey und Peter Wollen bereits als Counter-Strategie an: Hier ist nicht Ödipus der Held, sondern die Sphinx steht im Zentrum, deren Geschichte im Verlauf des Films weiter erläutert wird. Thema des Films ist darüber hinaus eine komplexe Analyse der patriarchalen Gesellschaft, die sowohl die griechischen Mythen als auch den Alltag der 1970er Jahre umfaßt. Mulvey und Wollen beziehen sich mitdiesem Film auf die Schriften Freuds und insbesondere auf dessen Interpretation des Ödipus Mythos, im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes im familiären Dreieck. Der Film »Riddles of the Sphinx« beschäftigt sich kontrastierend mit der Mutterschaft, d.h. er interessiert sich für die kulturellen Konnexe einer präödipalen oder dyadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Diese kritische Position gegenüber Freud folgt im Grunde Überlegungen von Theoretikerinnen wie Luce Irigaray, die nicht nur Freuds Prävalenz des ödipalen Dreiecks monieren, sondern auch dessen Idealisierung der Mutter-Sohnbeziehung in Frage stellen. [3] Aber dort wo Irigaray den Ödipus Mythos komplett verwirft, weil er offenbar nur die Mutter-Sohnbeziehung zwischen Jokaste und Ödipus anbietet, [4] da entdecken Mulvey und Wollen die Figur der Sphinx als »die vergessene [weibliche] Figur in einem ansonsten wohlbekannten Mythos« (Mulvey/Wollen 1977). So entwickeln Mulvey und Wollen das Thema ihres Films zum einen aus einer Re-Lektüre des Mythos. Gegen die patriarchale Filiation, die sich bei Freud im Ödipuskomplex formuliert, setzen sie als Counter-Strategie das Bild der

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Sphinx. Die Sphinx des griechischen Mythos wird als Überrest und verschüttete Spur einer älteren, matriarchalen Kultur gedeutet, die es neu zu entziffern gilt. Zum anderen überlagern Mulvey/Wollen das Rätsel der Sphinx aus dem griechischen Mythos (welches bei Freud nicht weiter thematisiert wird) mit Freuds Ausführungen zur Weiblichkeit. Diese wurde von Freud explizit als »das Rätsel« eingeführt. [5] Erst in dieser intertextuellen Überlagerung des griechischen Mythos mit Freuds Schrift »Die Weiblichkeit« entsteht der Ausgangspunkt für den pluralisch formulierten Titel des Films: »Riddles of the Sphinx«. Auch wenn der Film selbst keineswegs eine Freud-Lektüre unternimmt, sondern seinen Schwerpunkt auf eine zeitgenössische Frau und ihr konkretes Alltagsleben legt, so leuchtet im Titel dennoch so etwas wie eine »Rückkehr zu Freud« auf, die das als Counter-Strategie vorgetragene Filmprojekt in eine bisher wenig beachtete Nähe zu intertextuellen und dekonstruktiven Strategien rückt.

2. Die Nähe zur Dekonstruktion

Theoretisch stellt Wollen diese Nähe zur Dekonstruktion einige Jahre zuvor in Bezug auf das KinoGodards wie folgt her: »The text/film can only be understood as an arena, a meeting-place in which different discourses encounter each other … [These] can be seen more as … palimpsests, multiple niederschriften (Freud's word) in which meaning can no longer be said to express the intention of the author or to be a representation of the world, but must like the discourse of the unconscious be understood by a different kind of decipherment« (Wollen, 1972/1982, 87). In diesem Aufsatz würdigt Wollen Jean-Luc Godard als den zeitgenössischen Filmemacher der Avantgarde. Er charakterisiert seine Strategie als »Counter cinema«, indem er dessen intertextuelle Struktur und dessen Schriftlichkeit als Palimpsest hervorhebt. Gleichzeitig deutet er – ganz nebenbei – auf eine radikale Verschiebung innerhalb des Textparadigmas: vom Autor/Regisseur zum Leser/Zuschauer. Diese Wende im Textverständnis korrespondiert mit den poststrukturalistischen Texttheorien von Barthes und Derrida. Als konzeptuellen Bezugspunkt nennt Wollen aber Freuds Psychoanalyse. Gleichzeitig ahmt er Godards Diskurstechnik nach, indem er den Begriff

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»niederschriften« als Diskursfragment Freuds in seinen eigenen Text montiert, wobei er dieses Wörtchen gleich dreifach als einen anderen Diskurs herausragen läßt bzw. kenntlich macht: als original deutsches Wort im englischen Text, als Kursive und über die verweisende Klammer »(Freud's word)«, die sich ausdrücklich von den üblichen Formen der Zitation unterscheiden. Wollen demonstriert hier in geradezu didaktischer Art sein theoretisches Verständnis von einem anderen Kino als offenem, mehrstimmigem Diskurs. Der Text folgt dabei einer Liste von Elementen, die Wollen ironisch als die sieben Kardinaltugenden, bzw. als die sieben Todsünden des Kinos bezeichnet. [6] Diese Elemente lassen sich anschließend in »Riddles of the Sphinx« wiederfinden. Auch Mulvey räumt gleich zu Beginn ihres Aufsatzes ein, dass Strategien für ein anderes Kino nicht aus dem Nichts entstehen: »There is no way in which we can produce an alternative out of the blue, but we can begin to make a break by examining patriarchy with the tools it provides, of which psychoanalysis is not the only but an important one. We are still separated by a great gap from important issues for the female unconscious which arescarcely relevant to phallocentric theory: the sexing of the female infant and her relationship to the symbolic, the sexually mature woman as nonmother, maternity outside the signification of the phallus, the vagina …« (Mulvey 1975/1986, 199). [7] Auch bei Mulvey findet sich die Verbindung von Counter-Strategie und Dekonstruktion zunächst in ihrem Bezug auf die Psychoanalyse. Mulveys Verschiebungsarbeit fächert dann die singuläre Weiblichkeit Freuds auf, in unterschiedliche Fragen. D.h. sie übernimmt Freuds Wort vom »Rätsel der Weiblichkeit« und leitet daraus eine unabgeschlossene Liste von Fragen ab, die schließlich im Filmtitel als »Riddles of the Sphinx« (Plural!) zusammengehalten werden.

3. Der Kinokomplex

Der Blick auf die theoretischen Überlegungen, die vor der Realisierung des Films entstanden, mag einen ersten Eindruck geben, was Mulvey und Wollen sich mit »Riddles of the Sphinx« vorgenommen hatten. Ihr Projekt will nicht nur »einfach« einen Film drehen, sondern gleichzeitig auch das »Counter-Cinema« thematisieren. Damit ist der konzeptuelle Ansatz

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bereits auf der Ebene eines »Metafilms« angelegt. Allerdings fokussieren Mulvey und Wollen nicht allein die Traditionen des Avantgarde-Films (das wäre ein Widerspruch in sich!). Ihnen schwebt vielmehr eine Fortschreibung, d.h. eine »Befreiung des Kinos« insgesamt vor, die auch das Zurücklassen der Unterscheidung von »orthodox cinema« (Hollywood) und »counter-cinema« der Avantgarden (Godard auf der einen Seite und die Coop-Bewegung auf der anderen) umfasst und einen neuen, anderen Begriff vom Kino zu gewinnen sucht, der über Godard/Coop und Hollywood hinausgeht. [8] Mulvey schreibt: »The alternative is the thrill that comes from leaving the past behind without rejecting it … in order to conceive a new language of desire« (Mulvey 1975/1986, 200). Wollen präzisiert, dass »das Kino« (das allgemeine Kino der Zukunft!) diese neue Sprache des Begehrens sein könnte: »the cinema offers more opportunities than any other art – the cross-fertilization … the reciprocal interlocking and input between painting, writing, music, theatre, could take place within the field of cinema itself. This is not a plea for a great harmony, a synesthetic gesamtkunstwerk in the Wagnerian sense.But cinema, … [as] a dialectical montage within and between a complex of codes« (Wollen 1975/1982, S. 104). [9] Wollen schließt seinen Aufsatz mit einer Vorstellung vom Kino, die sich aus einem »complex of codes« zusammensetzt. Diese Formulierung verbindet ihn einmal mehr mit Freuds Überlegungen und Begriffen. Freud hatte (in Auseinandersetzung mit Jung) den allgemeinen Begriff »Vorstellungskomplex« (complex of ideas) aus dem Kontext der freien Assoziation für seine Idee des Ödipuskomplexes umgearbeitet, um die Gesamtheit von Liebes- und feindseligen Wünschen des Kindes gegenüber den Eltern zu beschreiben. Gleichzeitig reduziert er mit diesem Vorgehen die Vielschichtigkeit der Komplexe auf einen Kernkomplex, den Ödipuskomplex. [10] Obwohl sich die Kulturkritik Wollens und Mulveys gerade gegen die Engführung auf einen Ödipuskomplex ausspricht, argumentiert Wollen dennoch ganz ähnlich wie Freud mit einer akzentuellen Verschiebung für einen »Kinokomplex«. In diesem Kinokomplex könnten sich dann nicht nur die unterschiedlichen, einander widerstreitenden Diskurse der Künste begegnen. Auch die unterschiedlichen Auffassungen des orthodoxen

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und der Avantgarde-Kinos wären gleichsam in diesem Komplex aufgehoben. Der Gegenbegriff zum Ödipuskomplex, den Wollen zusammen mit Mulvey entwickelt (»Riddles of the Sphinx«), bleibt dennoch offener als der an Freuds Terminologie angelehnte »Kinokomplex«. Dabei erscheint nicht nur im Übergang von Ödipus zu Sphinx eine Schwerpunktverlagerung im Sinne der Geschlechterdifferenz, sondern bedeutungsvoller noch die Verschiebung von Komplex zu Rätsel. Während der Komplex eher eine zusammenfassende einigende Kraft von Widerstreitendem entfaltet, führt die Bewegungsrichtung der Rätsel (etymologisch: lesen, Runen deuten) – nicht der Lösungen! – eher in die Verzweigung und Verstreuung, d.h. ins Heterogene und Vermischte. Gerade diese Richtungsänderung unterstreicht einmal mehr die Nähe dieses Projekts zur Dekonstruktion, wie auch die Hervorhebung der Bedeutung der Zuschauerschaft als Leserschaft, die die feministische Filmtheorie vorangetrieben hat.

4. Der Film als Textfilm

Der Film beginnt mit einer Inhaltsübersicht, der dienummerierte Gliederung des Films in sieben Kapitelüberschriften in einem Bild zusammenfasst. Die Zuschauer werden als Leser empfangen und eingeführt in die Ordnung eines Buches, so als wollte der Film selbst uns schriftlich mitteilen: Dies ist ein Textfilm! Dieser Ausgangspunkt ist im Grunde von Godard ›übernommen‹. Wollen hat diese Kapitelstruktur eines Films, die von der Literatur ausgeborgt ist, in seinem Aufsatz über Godard als erstes der sieben Elemente (eine der Todsünden des orthodoxen Kinos!) unter dem Stichwort »narrative intransitivity« diskutiert (Wollen, 1972/1982, 80f). Es diente Godard dazu, Unterbrechungen in die Erzählfolge einfügen zu können. Das erste Kapitel von »Riddles of the Sphinx« (Flicking pages) thematisiert und zeigt das Durchblättern von Seiten. Nicht nur die Einführung, sondern auch dieser erste Teil des Films konfrontiert uns (die Zuschauer) mit der Ordnung der Schrift. Dabei handelt es sich um den einzigen gänzlich stummen Teil des Films, als wollte dieser sich in seiner Lautlosigkeit einmal mehr dem Medium Schrift anverwandeln – oder behaupten, das Kino [colloq. engl.: flick = Kinofilm, at the flicks = im Kintopp] sei aus dem Durchblättern von

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Seiten [to flick pages] wie bei einem Daumenkino entstanden. Das Durchblättern der Seiten währt nur ein oder zwei Minuten, dann wird auf einer Seite angehalten, die eine Fotomontage von Greta Garbo als Sphinx zeigt. Damit schließt das erste Kapitel und macht die Grundform des Kino-Konzepts von Mulvey und Wollen sichtbar. Zunächst werden die grundlegenden Elemente des Kinos als Bewegung (Durchblättern) und Stillstand (Standbild) paradigmatisch vorgeführt. Diesem Vorführen korrespondieren zwei unterschiedliche Rezeptionsweisen des Publikums: das flüchtige Zuschauen, das die Konstruktion sinnvoller Bildfolgen nach sich zieht, und das Betrachten, das der Kontemplation und dem langsamen Entziffern näher steht. Gleichzeitig erscheinen darin auch die Elemente, die Mulvey in ihrer Analyse des klassischen Hollywoodfilms hervorkehrt: zum einen die Narration, die sie der Raumtiefe und dem männlichen Helden zuordnet und zum anderen die Kontemplation, die sie der Flächigkeit und dem weiblichen Star assoziiert. »Mainstream film neatly combined spectacle and narrative … The presence of woman is an indispensableelement of spectacle in normal narrative film, yet her visual presence tends to work against the development of a story line, to freeze the flow of action in moments of erotic contemplation« (Mulvey, 1975/1986, 203). Diese Geschlechterdifferenz des »orthodoxen Kinos« (Wollen) gilt es herauszustellen und »in eine Dialektik zu treiben« (Mulvey). Das erste Kapitel von »Riddles of the Sphinx« dient als minimalistische Version und Prototyp dieses kritischen Vorhabens.

5. Das Festhalten am weiblichen Star

Während die Geste des Blätterns als Topos des Avantgardefilms bekannt ist (Jean-Luc Godard, aber auch Hollis Frampton, Heinz Emigholz u.a.), ist die statische Darstellung weiblicher Filmstars ein verbreitetes Motiv, nicht nur in der Pop Art der 60er Jahre. Das Bild der Garbo, mit dem Mulvey und Wollen auf den weiblichen Star des orthodoxen Kinos zurückschauen, [11] gehörte zu den Einsendungen eines Wettbewerbs, den die MGM-Werbeabteilung veranstaltete unter dem Motto: »Beschreibe Garbo!«. Die Fotomontage liefert also bereits ein rezipiertes und kommentiertes Bild als Produkt der Kreativität eines

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Zuschauers oder Fans, das dann in verschiedenen Publikationen abgedruckt wurde. [12] Am Vorspiel, welches Mulvey und Wollen mit Greta Garbo in »Riddles of the Sphinx« inszenieren, lassen sich die drei unterschiedlichen Kinotraditionen, sowie sie sich Wollen als Kinokomplex vorstellte, noch einmal rekapitulieren und schichtenweise abtragen. Die Fotomontage (erstens) fungiert darin als Äquivalent für die Mittel der künstlerischen Avantgarde (deren Fortsetzung Wollen in der Coop-Bewegung sieht). [13] Das Zitieren eines Filmstars im Film (zweitens), das auch Wollen und Mulvey (indirekt) vornehmen, lässt sich mit Godards Counter-Strategien vergleichen, der in seinen (Avantgarde-)Filmen immer wieder mit echten Stars oder auch auftretenden Regisseuren gearbeitet hat; und das statische Bild des weiblichen Stars (drittens), welches die Basis dieser Schichtung bildet, gehört zum Repertoire des klassischen Hollywood-Kinos, sowohl innerhalb des Films, wie es Mulvey als »Gefrieren der Handlung« beschrieben hat, als auch außerhalb des Films zur flankierenden Werbefotografie. In dieser medialen Schichtung erscheint Greta Garbo mehrfach distanziert, gemäß dem zweiten Counter-Konzept»estrangement« von Godard/Wollen. Aber was ist genau der Sinn dieses Verfremdungseffekts, den Wollen mit Verweis auf die Arbeit Brechts für kaum noch kommentierenswert hält? [14] Mulvey hat sich in ihrem Aufsatz ausführlich zur Bedeutung des weiblichen Stars im klassischen Hollywood-Kino geäußert und leidenschaftlich gefordert, dieses Kino herauszufordern und seine Codes zu zerstören. [15] Es ist natürlich eine Binsenweisheit, dass sich Codes resp. Bilder nicht einfach zerstören lassen; die Analogie zur Bilderstürmerei verbunden mit dem gelegentlichen revolutionären Pathos in Mulveys Schriften wirft hier ein zusätzliches Licht auf die eingeschränkte Rezeption ihrer Arbeit. Am Umgang mit Greta Garbo im Film »Riddles of the Sphinx« läßt sich demgegenüber Mulveys Strategie des »passionate detachment«, welches nicht nur den Blick der Zuschauerschaft und der Kamera befreien sollte, als eine Arbeit an den kinematografischen Zeichen studieren. Zunächst kann man anmerken, dass am Bild des weiblichen Stars festgehalten wird. Mulveys anderes Kino verwirft also keineswegs das alte orthodoxe Kino, sondern nimmt es auf spezifische Weise in sich auf. Dies entspricht ihrer

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These des »leaving the past behind without rejecting it«. Dieses Festhalten am weiblichen Star ist in historischer Perspektive bemerkenswert, denn das Starsystem des ›orthodoxen‹ Kinos existierte nur bis in die 60er Jahre hinein. Es deutet sich ferner an, dass Mulvey neben dem männlich konnotierten Blick, den ihre theoretische Schrift thematisiert, insbesondere in ihrer Filmarbeit – mit der Metapher der Sphinx – eine spezifisch weibliche Kinorezeption mitgedacht hat. [16] Mulveys Kino verwendet also gerade jenes Moment der Kontemplation des weiblichen Stars als Zitat und markiert es als einen Diskurs. Diesem werden andere Diskurse konfrontiert, die Sphinx, die den griechischen Mythos evoziert und Freuds Diskurs, der Weiblichkeit impliziert, aber auch das eigene Filmprojekt mit seinem Bezug zur Schriftlichkeit, welches gerade seinen Auftakt genommen hat. Soweit handelt es sich um eine Schichtung oder auch Gegenüberstellung von Diskursen.

6. Zwischen Regisseurin, Darstellerin und Zuschauerin

Erst das zweite Kapitel unternimmt einen radikalen Sprung, dessen Charakter zumindest auf den erstenBlick eher der Counter-Strategie als der Dekonstruktion entspricht. In diesem Teil (Laura speaks) sehen wir Laura Mulvey an einem Tisch sitzen. Lesend erläutert sie das Konzept des Films, ihre Überlegungen zur Sphinx und adressiert dabei die Kamera. Hierbei handelt es sich im Prinzip um einen »Reverse shot« zur Einstellung aus dem ersten Kapitel, um jenen Gegenschuß, der eigentlich auf die Einstellung des weiblichen Stars (Garbo) folgen müßte. Dieser ›Gegenschuss? ist nicht nur durch den Zwischentitel »2. Laura speaks« zeitlich verzögert, er ist auch grundsätzlich anderer Natur, weil er nicht mehr im Sinne einer einzelnen Diegese gelesen werden kann, sondern Verkettungen mit unterschiedlichen Diskursen erlaubt. Das Bild von Laura Mulvey fungiert in dieser Einstellung mindestens auf drei Ebenen: erstens als Regisseurin/Filmemacherin, zweitens als Theoretikerin/Darstellerin und drittens als Zuschauerin/Kinogängerin. Betrachtet man sie zunächst als Regisseurin/Filmemacherin, so entwickelt sich die Assoziation zu einer Regisseurin eines Avantgarde-Films à la Godard (Laura speaks). [17] Dieses Hör- und

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Sichtbarmachen des Regisseurs parodiert jenes Verhältnis von Regisseur und Star des orthodoxen Kinos, welches auf dem Set (behind the scenes) stattfindet und welches exemplarisch im Verhältnis von Sternberg/ Dietrich als Schöpfer und Geschöpf in der Filmliteratur kolportiert wird. Mit dem »Auftritt« Mulveys kommt es gegenüber Godards Counter-Strategien (mit denen dieser sich in seinen Filmen zu Wort meldet) allerdings zu einer weiteren Verschiebung. In »Riddles of the Sphinx« zeigt der Gegenschuss zum weiblichen Star weder den männlichen Helden, noch dessen Counter-Part, einen männlichen Regisseur. Vielmehr wird in diesem Film eine der zentralen Positionen – die Regisseurin – weiblich besetzt. Mit dieser Einstellung – sie läßt sich tatsächlich als ein revolutionärer Akt deuten – versucht der Film die patriarchale Genealogie der (Hollywood-)Kultur symbolisch oder beispielhaft umzukehren. [18] Die zweite Anschlussmöglichkeit liest Mulvey als Theoretikerin/Darstellerin (Laura speaks, zweite Funktion). Diese Lektüre entziffert keinen Gegenschuss, sondern den Übergang von einer Darstellerin (Greta Garbo, die Schauspielerin) zu eineranderen (Laura Mulvey, die Theoretikerin). Jenes Moment der erotischen Kontemplation innerhalb des Diskurs des »orthodoxen« Kinos (hier das Gesicht der Garbo als Sphinx), wird von einem anderen Diskurs, der feministischen Filmtheorie (der sprechenden Theoretikerin Mulvey) überlagert bzw. abgelöst. Der Übergang von der Fotomontage (montiertes Standbild gefilmt) zur folgenden Einstellung (Laura speaks) erfährt zudem eine zeitliche Dehnung, in der die Darstellerin ›lebendig‹ wird. Die Theoretikerin Mulvey liest eine Art Manifest der Sphinx vor, und ihr Bild alterniert (analog zur Fotomontage) mit Bildern der griechischen und ägyptischen Sphinx: »The sphinx is outside the city gates, she challenges the culture of the city, with its order of kinship and its order of knowledge, a culture and a political system which assign women a subordinate place … We live in a society ruled by the father, in which the place of the mother is suppressed. Motherhood, and how to live it, or not to live it, lies at the roots of the dilemma. And meanwhile the Sphinx can only speak with a voice apart, a voice off … [which] represents, not the voice of truth, not an answering voice, but its opposite: a questioning voice, a voice

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asking a riddle«. [19] Es sind nicht die Worte dieses Manifests, die fast 25 Jahre nach Fertigstellung des Films einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es ist vielmehr die lebendige Präsenz Laura Mulveys auf der Kinoleinwand des voll besetzten Kinos Arsenal am 5. April 2001 (auf der Tagung: »Eine andere Kunst – ein anderes Kino«), die sich mir eingeprägt hat. Diese lebendige Darstellung ist im reproduzierten Standbild des Films erloschen. Sie stellt sich aber bezeichnenderweise auch bei einer späteren Sichtung des Films am Schneidetisch nicht mehr ein. Warum löste die Präsenz dieser Theoretikerin auf der Kinoleinwand bei mir ein Gefühl aus, das mich anrührt, wo ich doch die »echten« weiblichen Stars in der Regel nur noch distanziert als geronnene Diskurse wahrnehme? Sicherlich liefert der »Konkretismus« des Kinos [20] in Ton und Bild einige Elemente des Überschusses, für die ich besonders empfänglich bin, z.B. den »sound of Britishness« ihrer verhaltenen Artikulation oder die Margeriten auf ihrer Bluse, die durch den rotstichigen Film eigenartig fern und auratisiert wirken. Möglicherweise ist es ihr/mir aber gelungen, in ihrer Leinwandpräsenz einen Mythos undeine Schaulust zu ›erretten‹, die weniger an einen kinematografischen Code gebunden ist, sondern an körperliche Eindrücke, die von Generation zu Generation weitergereicht werden und dessen direkter Zugang über den Film mit der Historisierung des klassischen Hollywoodkinos unzugänglich wurde. Schließlich lässt sich auch noch die dritte Funktion als Zuschauerin/Kinogängerin denken. Dabei handelt es sich wieder um einen Anschluss der einen außergewöhnlichen Gegenschuss konstruiert. Vom weiblichen Star (auf der Leinwand) wechselt die Einstellung in den Zuschauerraum eines Kinos und setzt entgegen den Kinokonventionen die Phantasie von einer weiblichen, sprechenden Zuschauerin/Kinogängerin (Laura speaks, dritte Funktion) sicht- und hörbar ins Bild. [21] Das andere Kino von Mulvey und Wollen adressiert im zweiten Kapitel folglich drei Aspekte der Geschlechterdifferenz, die Instanz der Regisseurin, die der Darstellerin und die der Zuschauerin. Alle drei Ebenen erscheinen wiederum wie jenes »Palimpsest der multiplen Niederschriften«, das Wollen theoretisch eingeführt hat, welches in diesem Falle aber einer Vielstimmigkeit

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der Sphinx, d.h. einer weiblichen Genealogie zugeordnet wird. Der erwähnte Verfremdungseffekt, der am Bild der Garbo vorgenommen wird, zielt auf diese (dreifache) Umcodierung, deren neue Assoziationsketten aber im orthodoxen Kino wie auch im Mythos der Sphinx bereits »vorgeformt« oder zumindest denkbar waren. Diese Umcodierung zeichnet sich daher neben dem revolutionären Moment auch durch ein bewahrendes aus, wenn sich darin tatsächlich etwas von der Kontemplation des weiblichen Stars des klassischen Hollywood-Kinos in diese Filmproduktion der 1970er Jahre und in ihre Aufführung im Jahr 2001 gerettet haben sollte.

7. Mythische und soziale Implikationen der Sphinx

Das dritte Kapitel (»Stones«) zeigt Bilder der ägyptischen Sphinx. Die steinernen Figuren werden mit filmischen Mitteln bearbeitet, Wieder-Abfilmen in mehreren Generationen, Zooms, Zeitlupe, extreme Nahaufnahme. Die Einstellungen treiben die Körnigkeit des filmischen Materials hervor und entstellen den Stein der Skulpturen, aber auch das filmische Material seiner physischen Referenz mit einer Tendenz zumabstrakten Film der Avantgarde. Dennoch fokussieren diese Bilder auch in ihren aufgelöstesten Schatten immer wieder den stummen Mund der ägyptischen Sphinx, so als wollte diese filmische Meditation den Stein sprechen machen, oder – wie Roland Barthes in der Betrachtung eines Details eines Filmstandbildes (ebenfalls ein Mund, in diesem Fall der einer alten Frau) – einen anderen Signifikationsprozess jenseits von Sprache und fotografischer Wiedergabe aufrufen, der die Körperlichkeit direkt befragt. [22] Kapitel eins bis drei sind Elemente einer komplexen Rahmenstruktur des Films. Erst das vierte Kapitel erzählt (und zeigt) die eigentliche ›Geschichte‹. Die Hauptfigur dieser Darstellung ist Louise, die eine zweijährige Tochter hat. Louise trennt sich von ihrem Mann Chris. Berichtet wird aus ihrem Alltagsleben, dem Berufsleben, ihrer Situation als alleinerziehender Mutter, ihrem Verhältnis zur ihrer Tochter Anna. Schließlich zieht Louise mit einer Freundin zusammen. Der Aufbau dieses Kapitels folgt einer strengen Struktur: Louises Geschichte wird in »Zwischentiteln« erzählt, d.h. die eigentliche Narration beschränkt sich auf einen Schrifttext, der in aufeinander folgenden

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Schrifttafeln gefasst ist. Zwischen die einzelnen Schrifttafeln werden 13 Kameraschwenks – 360° Schwenks – eingefügt. Diese Einstellungen unterbrechen den Textfluss und zeigen Louises Leben an unterschiedlichen Orten: Küche, Schlafzimmer der Tochter, Eingangsbereich der Wohnung, Kindergarten, Arbeitsplatz Telefonvermittlung, Kantine, Verkehr, Einkaufszentrum, Spielplatz, Garten ihrer Mutter, (Präsentation der Künstlerin Mary Kelly im Schneideraum des Ex-Manns), Zimmer ihrer Freundin, Ägyptischer Saal des British Museum.

8. Die befreite Kamera

Für den Hollywoodfilm hatte Mulvey eine geschickte Kombination von »narration« (Erzählung) und »spectacle« (Darstellung, Schauobjekt) herausgestellt (Mulvey, 1975/1986, S. 203). Die Struktur des vierten Kapitels von »Riddles of the Sphinx« liefert eine andere, gegenläufige Kombination dieser Elemente. Der übliche Handlungsfluss der Bilder wird auf einen Text reduziert. Dieser Text wird durch die eingeschnittenen Kameraschwenks zerstückelt. Die kontemplativenMomente des »orthodoxen« Kinos, die auf den weiblichen Star beschränkt waren, mutieren zur eigentlichen audio-visuellen Gestaltung einer streng formalen Kameraarbeit. Die reinen Darstellungen dieses Kamerablicks werden gegenüber der Narration aufgewertet. Dennoch sind die formalen Kameradrehungen so positioniert, dass es ihnen gleichzeitig gelingt, einige wesentliche Handlungselemente miteinzufangen. In der dritten Einstellung beispielsweise verabschiedet sich Chris (ihr Mann) von Louise. Während der Kameradrehung kann man ihn zunächst dabei beobachten, wie er ins obere Stockwerk des Hauses läuft, mit einigen Sachen wieder herunter kommt, dann in der Haustür steht, sich von Louise verbal verabschiedet, schließlich seine Sachen in den Kofferraum eines Autos legt und davon fährt, während Louise mit Anna auf dem Arm am Fenster steht {vgl. die Filmstills). Die ›befreite‹ Kamera in »Riddles of the Sphinx« wendet sich also nicht mehr isolierten erotischen Objekten zu (wie im Hollywoodfilm), deren Funktion der Narration untergeordnet ist. Sie stellt vielmehr die Darstellung der Frau, in diesem Fall einer alleinerziehenden

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Mutter, ins Zentrum ihrer Kameraarbeit. Die Schaulust wird sowohl im Hinblick auf die sozialen als auch auf die psychischen Räume einer vielschichtigen Person (Louise) ausgedehnt.

9. Rahmenstruktur und kinematografische Codes

Kapitel fünf bis sieben führen wieder zurück in die Rahmenstruktur des Films. Sie korrespondieren mit den Kapiteln eins bis drei. Während aber die Kapitel eins, zwei und drei die kinematografischen Codes mit einem jeweiligen Schwerpunkt repräsentieren, das Hollywoodkino (eins), das Avantgarde-Kino von Godard u.a. (zwei) und die Avantgarde der Coop-Bewegung (drei), liefern die Kapitel fünf bis sieben z.T. schon Kommentare zu diesen historischen Kinoentwicklungssträngen. In Kapitel fünf wird formal noch einmal bezug genommen auf filmtechnische Verfahren der Coop- Avantgarde wie »optical printing« – diesmal unter Einbeziehung der Farbe. Inhaltlich werden den steinernen Sphingen mit den Aufnahmen von Akrobatinnen der lebendige Ausdruck weiblicher Körper entgegengesetzt. Die Akrobatinnen verweisen hier gleichzeitig auf das pro-filmische und auf dasjenseits sprachlicher Artikulation des Körpers. Kapitel sechs zeigt noch einmal Laura Mulvey. Diesmal hört sie die Aufnahme ihrer eigenen Stimme mit einem Kassettenrecorder ab. Ton und Bild, die sich vormals (Kapitel 2) zu einer beeindruckenden Leinwandpräsenz verbunden haben, begegnen sich jetzt verfremdet auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Das Magnetband stellt eine sekundäre Aufzeichnung mit Schwerpunkt auf der sprachlichen Codierung eines Textes dar, während der Filmstreifen sich gewissermaßen auf die primäre Aufzeichnung der körperlichen Präsenz beschränkt. Dass in dieses Bild ein Kassettenrecorder mit dem Prinzip der Magnetbandaufzeichnung eingeführt wurde, erlaubt über das Kinematografische hinaus zu denken. Denn der Kassettenrecorder symbolisiert bereits einen anderen Zugang zur Aufzeichnung als Film und Fotografie. Er nimmt die Videoaufzeichnung mit ihren fast unmittelbaren Möglichkeiten der Kontrolle des Bildes vorweg. Außerdem liefert die Programmstruktur des Recorders mit seinen Funktionen Play, Fast Forward, Rewind etc. einen anderen Zugang zur Aufzeichnung als der Kinofilm. Der Recorder steht dem Buch wesentlich näher, d.h. die Aufzeichnung wird

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tatsächlich wie ein Text der Lektüre zugänglich. Sie überträgt dem Kinozuschauer all jene Möglichkeiten, die sonst nur das Privileg des Studiums eines Films am Schneidetisch bietet. Kapitel sieben zeigt schließlich das Bild eines kleinen Puzzlespiels. Eine Quecksilberkugel muss durch ein Labyrinth von Gängen in das zentrale Feld des Spiels geführt werden. Dieses Spiel mag als Metapher des ganzen Films verstanden werden, der die Darstellung über die Narration stellt, und letztere nicht als seine treibende Essenz sondern als labyrinthisches Vor- und Zurück um der Darstellung Willen interpretiert. Dieses Spiel symbolisiert gleichzeitig die Rätsel der Sphinx, die keine Wahrheit herausfordern, sondern Fragen stellen, also nicht gradlinig in eine Finalität münden (wie der Film seinem Ende zuläuft). Vielmehr handelt es sich wie beim Entziffern eines Textes um ein ständiges Neuansetzen, Neuversuchen, welches über den gradlinigen Lauf der Bilder hinausreicht.

10. Die Rätsel des Kinos (zwischen Intertextualität, ›Errettung‹ und DVD-Format)

Die Sphinx ist in unserem heutigen Verständnis einrätselhaftes, undurchschaubares Wesen. In der ägyptischen Bedeutung bezeichnet sie auch eine »lebende Statue«. Diese alte Bedeutung nimmt etwas vom »lebenden Bild« des Kinos vorweg, das seinen Flux-Charakter des Werdens aus statischen Bildern, der Apparatur des Kinematografen und der Teilhabe/Entzifferung der Zuschauer gewinnt. Insofern ließe sich der Filmtitel »Riddles of the Sphinx« auch in einem erweiterten Sinne als »Rätsel des Kinos« übersetzen. Diese Rätsel des Kinos hatte Peter Wollen zuvor auch als einen Kino- Komplex zu fassen versucht. In der Begegnung von unterschiedlichen Codes entsteht daraus eine kinematografische Schreibweise, die die Geste des Setzens und Ausstreichens im Widerstreit von Bildern und Codes in immer neue Verbindungen und weitere Verzweigungen treibt. Dass diese Praxis weiter reichen könnte als ein Counter- Cinema und damit auch mehr umfaßt als eine Counter-Strategie, hatte Wollen selbst angedeutet. Beschreibt man die Arbeit von Laura Mulvey und Peter Wollen aus den 1970er Jahren hingegen mit dem französischen Begriff der Dekonstruktion, so lenkt das den Blick vor allem auf ihre intertextuelle Arbeit am

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bzw. mit dem Kino. Unter dem Label Dekonstruktion läßt sich die Arbeit an den Codes aber nicht nur bündeln oder zusammenfassen, sie läßt sich vielmehr – auch heute noch – in neue Begegnungen treiben, die mehr als revolutionären Pathos und kinematografischen Befreiungskampf lesbar machen. Jenseits der Frage einer plakativ-begrifflichen Charakterisierung dieser Strategien lässt sich jedoch festhalten, dass Mulvey und Wollen offenbar an einer spezifisch kinematografischen Produktion von »Intertextualität« interessiert sind, die das Textparadigma in einigen Punkten übersteigt. Damit werfen sie nicht nur die Frage der Zitierbarkeit des Films auf, sondern auch die nach dem Wesen des Films/Kinos. Der Zitatcharakter (der unterschiedlichen Kinobezüge) in »Riddles of the Sphinx« zeigt oder liest sich nicht nur als »buchstäbliche« oder »wortgetreue« Wiedergabe (was immer das in bezug auf das Kino heißen könnte!). Er orientiert sich neben den Analogien zu sprachlichen Signifikationsprozessen auch an jenem Phänomen des Films, das Kracauer 1960 als »die Errettung der äußeren Wirklichkeit« mit bezug auf den fotografischen Charakter des Films beschrieben hatte. [23] Allerdings hat sich die Errettung Kracauers, die das Verhältnisvon äußerer Wirklichkeit und Kino umfaßt, gewandelt. Mulveys und Wollens Bezug zur physischen Realität erscheint komplexer, so als ließe sich durch eine Aufnahme von Laura Mulvey hindurch auf ältere Schichten von Erfahrungen blicken (wie z.B. auf die Rezeption eines Hollywood-Stars und zurück auf die griechische Geschichte der Sphinx), und als würde das Kino diese Erfahrung(en) sowohl physisch als auch textuell mitteilen können. Wenn sich mit dem Modell eines anderen Kinos von Laura Mulvey und Peter Wollen schließlich nicht nur die unterschiedlichen Kinotraditionen wie »Rätsel des Kinos« verbinden, sondern auch die unterschiedlichen Diskurse des Kinos (der fotografische, der semiotisch-intertextuelle etc.) einer Begegnung und gegenseitigen Befruchtung zugänglich werden, dann hätte dieses neue Konzept des Kinos seine Möglichkeiten aufgezeigt. Das Kino ist heute aber nicht mehr das Medium mit dem Mulvey und Wollen ihre Hoffnungen noch verbinden konnten, und der Film »Riddles of the Sphinx« ist kein häufiger Gast der Leinwand, sondern er lagert schwer zugänglich in den Archiven. Neben den vielen Vorteilen, die Wollen fürs Kino aufzählte, hat es in seiner Bindung ans Celluloid auch einen

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entscheidenden Nachteil, man kann seine Werke nicht einfach aufschlagen wie ein Buch. Es wäre eine Aufgabe für die Zukunft gerade für den Film »Riddles of the Sphinx« – analog zu den Literaturpublikationen – eine historischkritische Ausgabe im DVD-Format zu edieren, die die Arbeit von Mulvey und Wollen im Kontext ihrer theoretischen Schriften zumindest für ein Studium zugänglich macht. Die Möglichkeiten dieses Formats könnten den Film eben auch als »Text« lesbar machen, als Lehrstück, um einen Brecht'schen Begriff zu verwenden oder auch als ein Stück »kinematografischer Ecriture«, um es in den Worten zu sagen, die den Allusionen von Rätsel und Dekonstruktion näher stehen. Eine solche Edition allein kann die Effekte der Leinwandpräsenz natürlich nicht gewährleisten. Hierzu bedarf es nach wie vor der Abspielhäuser, d.h. der Kinos und der kulturellen Gelegenheiten, die einen solchen Film noch einmal zum Ereignis werden lassen.

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